Mädchen sind in Mathematik nicht schlechter als Jungen

Nach einer Studie sind die Unterschiede in der Leistung kulturell bedingt und verschwinden bei zunehmender Gleichheit der Geschlechter

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Frauen haben Schwierigkeiten mit der Mathematik oder aus biologischen Gründen keinen Zugang zu ihr. So ist eine landläufige Meinung, die aber nach einer in der aktuellen Ausgabe von Science veröffentlichten Studie von italienischen und amerikanischen Wissenschaftlern nicht zutrifft. Für ihre Untersuchung haben die Wissenschaftler die Ergebnisse der PISA-Studie aus dem Jahr 2003 ausgewertet, an der über 270.000 15-jährige Schüler aus 40 Ländern teilnahmen.

Die bislang gefundenen Unterschiede zwischen den mathematischen Leistungen von Jungen und Mädchen, die stärker in der Geometrie, schwächer in der Arithmetik ausgeprägt sind, wurden u.a. darauf zurückgeführt, dass Männer eine bessere räumliche Orientierung besitzen, während Frauen bei der sprachlichen Kompetenz besser abschneiden. Zwar schnitten Mädchen auch in den PISA-Tests in Mathematik durchschnittlich um 2 Prozent oder 10,5 Punkte schlechter ab als Jungen, während sie beim Lesen durchweg besser sind, aber es gibt große kulturelle Unterschiede. In der Türkei erreichen die Mädchen in Mathematik 22,6 weniger Punkte, in Großbritannien ist der Unterschied nur noch geringfügig, in den skandinavischen Ländern praktisch nicht mehr vorhanden, in Island schneiden die Mädchen sogar um 14,5 Punkte besser ab. Deutlich besser sind die Mädchen beim Lesen in allen Ländern, am besten in den skandinavischen Ländern mit Island wieder an der Spitze.

Für die Wissenschaftler zeugen die Ergebnisse davon, dass die Unterschiede wesentlich kulturell und nicht biologisch bedingt sind. Für ihre Untersuchung wurden die Länder aufgrund einiger internationaler Erhebungen zur Geschlechtergleichheit wie dem Gender Gap Index des Weltwirtschaftsforums eingeteilt, der wirtschaftliche und politische Chancen, Ausbildung oder Wohlergehen von Frauen erfasst. Dort liegen an erster Stelle Schweden, Norwegen, Finnland und Island. Nach Neuseeland kommen überraschenderweise die Philippinen, Deutschland liegt an siebter Stelle, die USA kommen an 31. Stelle, die Türkei ist weit hinten auf Platz 121, in der Umgebung von Jemen und Saudi-Arabien.

Aus der Auswertung der Berichte ergab sich eine hohe Korrelation zwischen Geschlechtergleichheit und dem Unterschied in der mathematischen Leistung und beim Lesen, während beispielsweise das BIP pro Kopf, also der gesellschaftliche Reichtum, hier keine Rolle zu spielen scheint.

Grafik: Science

Die Türkei weist unter den 11 analysierten Ländern - knapp hinter Italien und Südkorea - die geringste Gleichheit auf, in Schweden und Norwegen findet man nach den Daten die höchste. Island steht an dritter Stelle. Würde man die Chancengleichheit in der Türkei auf den Stand Schwedens bringen, dann würde die mathematische Leistung der Mädchen um 23 Punkte steigen und der Geschlechterunterschied verschwinden. Entsprechend besser würden die türkischen Mädchen auch beim Lesen abschneiden, wo sie jetzt schon die Jungen um 25 Punkte übertreffen.

Die Jungen erzielen zwar immer bessere Leistungen in Mathematik als im Lesen, aber im Unterschied zu den Mädchen verbessert sich bei ihnen ihre Unterlegenheit im Lesen nicht in Gesellschaften mit höherer Gleichheit. Während also die Mädchen die Jungen in Mathematik durchaus auf- und überholen können, wenn die gesellschaftlich aufrechterhaltende Dominanz der Männer einer größeren Gleichheit Platz macht, scheinen die Jungen beim Lesen keine Chancen zu haben. Allerdings hat die PISA-Studie nur relativ einfache mathematische Kenntnisse erfasst, werden Kritiker einwenden. Möglicherweise sieht es bei komplexeren mathematischen Bereichen anders aus, könnte man denken, ist aber wohl unwahrscheinlich, zumal Mädchen und Frauen in Schulleistungen und Wissenschaften allgemein das schwache Geschlecht auf- und überholen.