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Seite 2: Kreuzigung im Schwimmbad

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Jetzt habe ich verraten, wie es ausgeht. Macht aber nichts. Im Grunde weiß man von Anfang an, dass es für Harold Shand böse enden wird. Das hätte beinahe dazu geführt, dass der Film nie im Kino und nur in einer verstümmelten Fassung im Fernsehen gelaufen wäre, doch dazu später. Bob Hoskins begeisterte sich für die Idee, den Film "H" zu nennen (H wie Harold) und ihn mit einem Plakat zu bewerben, auf dem der Gangster an einem großen H hängt wie ein Gekreuzigter. Das war Keeffe, Hanson und Mackenzie zu wenig subtil.

Allerdings erinnerte sich Keeffe dadurch an einen Vorfall, über den er in den 1960ern als Reporter des Stratford Express berichtet hatte, einer in Ostlondon erscheinenden Regionalzeitung. Ein Mann war in einem Lagerhaus an Händen und Füßen an den Boden genagelt worden. Das war eine Spezialität der wegen ihres Sadismus gefürchteten Richardsons. Im Film macht es die IRA, um einen Zeugen zum Schweigen zu bringen. Es gibt einige brutale Szenen in The Long Good Friday. Spekulativ sind sie nicht. Eine Glorifizierung von Mördern wie in manchen Mafiafilmen findet nicht statt.

Kreuzigung im Schwimmbad (34 Bilder)

The Long Good Friday

Wie Mackenzie Religion und Gewalt verbindet sieht man bei Colins Tod. Shands Mutter ist auf ihre alten Tage sehr gläubig geworden und geht dreimal täglich in die Kirche, um sicherzustellen, dass sie in den Himmel kommt. Am Karfreitag wird sie von einem der Gangster im Rolls Royce zum Gottesdienst chauffiert. Weil das ein Film ist lässt sich Harolds Mama zur Kirche St. George in the East fahren (in der Cannon Street in Wapping), nimmt dann aber an einer Messe in der St. Patrick’s Church teil, ein paar Blocks weiter südlich. Dort wurden die Innenaufnahmen gedreht.

Das fügt sich sehr gut zusammen. Zwei Kirchen, die den Nationalheiligen Englands (St. George) und Irlands (St. Patrick) geweiht sind, geben die Schauplätze für einen Konflikt zwischen einer irisch-katholischen Terrororganisation und einer englischen Gangsterbande ab. Für Freunde des Okkulten: St. George in the East ist eine von sechs Kirchen des Baumeisters Nicholas Hawksmoor, deren eigenwillige Architektur der Avantgardist Iain Sinclair, Londons führender Spaziergänger und Psychogeograph (Lights Out for the Territory), in seiner Privatmythologie mit einer Spielart des Satanismus in Verbindung bringt.

Peter Ackroyd (Hawksmoor) hat das genauso beeinflusst wie Alan Moore und Eddie Campbell, in deren Graphic Novel From Hell darüber spekuliert wird, ob Jack the Ripper eine Form von ritueller Magie betrieben haben könnte, mit den Huren des East End als Menschenopfern und unter Einbeziehung der Hawksmoor-Kirchen, deren Standorte sich so verbinden lassen, dass sich ein Pentagramm daraus ergibt. Wir sind hier jetzt aber nicht bei Satanisten und Serienmördern, sondern bei Gangstern und Terroristen - und bei der Verbindung von Gewalt und Religion.

Beim Karfreitagsgottesdienst reiht sich Harolds Mutter bei den Gläubigen ein, die vor dem Kreuz niederknien und dem Heiland die Füße küssen. Der Überlieferung nach stach ein römischer Soldat dem Gekreuzigten mit einer Lanze in die Seite. Am Brustkorb der Jesusfigur sieht man die Wunde. Schnitt. Colin, von Belfast nach London zurückgekehrt, ist im Schwimmbad. In angedeuteter Jesus-Pose, mit nach oben gereckten Armen, steht er auf dem Sprungturm. Er will die anderen Männer beeindrucken, wenn er mit einem Salto in das Eintauchbecken springt. Colin ist wieder auf der Suche nach einem Sexualpartner.

Ein junger Mann taucht wie ein Hai im Becken auf, nimmt Blickkontakt zu Colin auf. Der junge Mann ist Pierce Brosnan in seiner ersten Filmrolle. Er signalisiert sein Interesse, geht zu den Duschen, und wir wechseln die Drehorte. Der Sprungturm stand in den Aegean Pools in der Hale Lane, die Duschen gehörten zum Schwimmbad des inzwischen abgerissenen Ladywell Leisure Centre in Lewisham. Beide Bäder waren typisch für ein London, das es so nicht mehr gibt und mit denen die Stadt auch einen Teil ihres früheren Charakters verloren hat. Filme wie The Long Good Friday (oder auch Deep End von Jerzy Skolimowki) haben ihn konserviert.

Colin folgt dem jungen Mann zu den Duschen, stellt sich vor ihn hin. "Hi", sagt der junge Mann. Das ist das einzige Wort, das Pierce Brosnan bei seinem Filmdebut zu sprechen hat. Als "erster Ire" redet er nicht, er tötet. Das macht er jetzt. Unterstützt vom "zweiten Iren", rammt der junge Mann Colin ein Messer in den Körper. Der Sterbende fällt zu Boden, liegt mit ausgestreckten Armen auf den Fliesen des Schwimmbads. Die Wunde ist etwas weiter unten als beim Jesus in der Kirche und doch so, dass man die beabsichtigte Analogie gut erkennen kann.

Schnitt. Wir sind zurück in der Kirche. Glücklich sind die, die der Herr zu seinem Abendmahl ruft, sagt der Priester. Ob Colin auch dieser Meinung ist? Der Gangster, der Harolds Mama chauffieren muss, wird langsam ungeduldig. Er geht hinaus vor die Kirche, setzt sich in den Rolls, dann fliegt der Wagen in die Luft. Gläubige Christen, zumal die konservativen unter ihnen, haben es nicht leicht mit diesem Film. Sie müssen sich dauernd überlegen, was schlimmer ist: Sex am Karfreitag, am helllichten Tag und unter Schwulen? Töten, während die Gläubigen den Gottesdienst begehen (aber wenigstens mit einem Killer, der nur so tut, als ob er schwul wäre)?

Besteht der Affront darin, dass ein Villain stirbt wie Jesus Christus? Wie blasphemisch ist es, wenn eine Religion, die einen ans Kreuz genagelten Mann in ihren Kirchen hängen hat, in Verbindung mit den Morden einer Terrororganisation gebracht wird, die ihre Gewalttaten mit der Diskriminierung der nordirischen Katholiken rechtfertigt? Hier muss man festhalten, dass der Film nicht um der Provokation willen provoziert. Es war der IRA-Aspekt, der John Mackenzie für das Projekt einnahm, als ihm Hanson die Regie anbot. Ein Gangster und Kapitalist, der gegen von Idealen geleitete (oder irregeleitete) Terroristen kämpft, das interessierte ihn.

Diesen Kampf, so Mackenzie in einem Interview, kann Harold Shand nicht gewinnen, weil er es mit einer Idee zu tun hat, die man nicht dadurch totkriegt, dass man Leute umbringt: "Was für den einen ein Terrorist ist, ist für den anderen ein Freiheitskämpfer." Das war auch eine Aussage über den Bürgerkrieg, der nicht endete (oder wenigstens ausgesetzt wurde), weil eine Seite die andere besiegte, sondern weil sich die vom Töten erschöpften Konfliktparteien am 10. April 1998 in Belfast auf ein Friedensabkommen einigten. Der 10. April war ein Karfreitag, weshalb das Abkommen als Good Friday Agreement bekannt wurde. Besser hätten es die Macher von The Long Good Friday nicht erfinden können.

Was kostet die Welt?

Bob Hoskins, früher Lastenträger im nicht mehr existierenden (und in Hitchcocks Frenzy filmisch konservierten) Obst- und Gemüsemarkt Covent Garden, war eher zufällig als Schauspieler entdeckt worden und erst kürzlich - als seine Frau betrügender Verkäufer von gedruckten Notenblättern in Dennis Potters Miniserie Pennies from Heaven (1978) - zum populären TV-Darsteller geworden. Seine Filmerfahrung war begrenzt. Barry Hanson hatte ihn auf der Bühne gesehen, als Richard III. (ebenfalls ein Gangster, nur mit Königskrone) in einer Cockney-Version des Shakespeare-Stücks, und war sehr beeindruckt gewesen.

Als Hanson Keeffes Drehbuch las dachte er sofort an Hoskins. Keeffe war ganz dafür. Die beiden machten den Darsteller schließlich im Londoner Krankenhaus für Tropenkrankheiten ausfindig, wo ihm in einer komplizierten Prozedur ein Bandwurm entfernt wurde, den er aus Südafrika mitgebracht hatte, von den Dreharbeiten zu Zulu Dawn. Hoskins erzählte gern von seinem Abenteuer mit den Zulus, die ihn zu ihrem Ehrenhäuptling ernannten. Bei dem Ritual musste er ein rohes Stück Rindfleisch essen, und dabei zog er sich den Bandwurm zu, der mit jeder Wiederholung der Geschichte länger wurde.

Was kostet die Welt? (12 Bilder)

The Long Good Friday

Hoskins war Feuer und Flamme, als ihm Hanson und Keeffe ihr Projekt präsentierten. Aufgewachsen in Finsbury Park, einem ziemlich rauen Viertel, hatte er eine gute Vorstellung davon, was ein Londoner Villain war und was ihn von den Karikaturen unterschied, die in den meisten Filmen ihr Unwesen trieben. Mit Harold Shand konnte er sich sofort identifizieren. Dieser Gangster, sagt er in "Bloody Business", dem Making-of zu The Long Good Friday, hat es in seinem Metier bis an die Spitze geschafft, so wie er auch gerade dabei war, in seinem Beruf als Schauspieler ganz weit nach oben zu kommen, nur eben ohne Kriminalität.

Gleich bei seinem ersten Auftritt weiß man, dass Hoskins die Idealbesetzung ist. Begleitet von einer Wiederaufnahme der energetischen Titelmusik des Curved-Air-Keyboarders Francis Monkman (einer der besten im britischen Film der 1970er), stolziert er mit der Präpotenz eines durch nichts zu bremsenden Emporkömmlings durch die Ankunftshalle von Heathrow, als gehöre ihm nicht nur dieser Flughafen, sondern London und morgen die ganze Welt, oder doch wenigstens Europa. In diesen ersten Sekunden kommt schon die Hybris zum Ausdruck, die den Mann zu Fall bringen wird. Hoskins braucht dafür nur seinen Blick und seine Körpersprache. Harold Shand war die Rolle seines Lebens.

Durch die Liberalisierung des Glücksspiels war London in den 1960ern für die amerikanische Mafia interessant geworden. Keeffe hatte The Profession of Violence gelesen, John Pearsons Buch über die Krays. Da erfährt man, dass es Pläne gab, so etwas wie einen gemeinsamen Markt für kriminelle Geschäfte zu etablieren und dass Ronnie Kray zur Intensivierung der transatlantischen Beziehungen nach New York gereist war. Shand war in den USA, um Investoren für seine Immobilienpläne zu gewinnen. Ein Mafiaboss kommt mit einem späteren Flug hinterher, um die Verhandlungen vor Ort abzuschließen.

Harold Shand träumt davon, in einem im Krieg bei deutschen Luftangriffen schwer beschädigten und danach nie ganz wieder aufgebauten Teil des Londoner Handelshafens, rund um die St. Katharine Docks, Vergnügungsetablissements (mit Spielcasino), Läden, Restaurants, Büros und Luxuswohnungen zu errichten. 1977, als Barrie Keeffe die erste Drehbuchfassung schrieb, war das visionär. Verglichen mit dem, was dort heute steht, ist allenfalls zu bemängeln, dass Harolds Modell, das er stolz vorzeigt, viel zu bescheiden ausgefallen ist. Es hätte groß sein müssen wie Manhattan, meinte Keeffe 2014 mit Blick auf den Canary-Wharf-Komplex.

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