Make Britain Great Again

Seite 3: Profitabler Fortschritt in Europa

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Um den Tag gebührend zu feiern, an dem er hofft, sein Bauvorhaben unter Dach und Fach zu bringen, hat Harold Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf seine Yacht geladen. Auch Chefinspektor Parker ("Parky") ist gekommen, ein auf seiner Gehaltsliste stehender Polizist. Der inzwischen aus New York eingetroffene Mafiaboss mit dem schönen Namen Charlie Restivo hat Tony mitgebracht, seinen Anwalt (und vielleicht auch Lover). Für Harold ist das gewöhnungsbedürftig, weil seine Transformation vom rustikalen Gangster zum smarten Geschäftsmann noch nicht abgeschlossen ist.

Den Mafioso sollte ursprünglich der vor allem durch Hauptrollen in amerikanischen Fernsehserien wie Matt Helm bekannt gewordene Anthony Franciosa spielen. In Robert Sellers’ Buch Very Naughty Boys erzählt Mackenzie, dass Franciosa ein Drogenproblem hatte, was vorher keiner wusste. Als Profi hatte er seinen Text gelernt, kam jedoch nicht damit klar, dass bei den Dreharbeiten dauernd die Dialoge geändert wurden. Davon überfordert, flog er nach drei Tagen zurück in die USA.

Profitabler Fortschritt in Europa (14 Bilder)

The Long Good Friday

In "Bloody Business" spitzt Mackenzie die Geschichte dramatisch zu: Hanson fährt nach Heathrow, um Franciosa abzuholen und überreicht ihm eine neue Drehbuchfassung. So etwas mache ich nicht mit, sagt Franciosa und nimmt den ersten Flug zurück nach Los Angeles. Als Ersatz wurde Eddie Constantine engagiert, der sich als FBI-Agent Lemmy Caution durch französische Kriminal- und Abenteuerfilme geprügelt und charmiert hatte und dann vom europäischen Arthaus-Kino entdeckt worden war (Alphaville, Warnung vor einer heiligen Nutte, Die dritte Generation). Franciosa lässt er nicht vermissen.

Ein großer Tag verlangt eine große Rede. Harold Shand versichert einleitend, dass er kein Politiker ist und erinnert doch sehr an Margaret Thatcher, die im Mai 1979 die Parlamentswahlen gewonnen hatte. "Ich bin ein Geschäftsmann mit einem Sinn für Geschichte", sagt Shand. "Und ich bin auch ein Londoner, und heute ist ein Tag von großer historischer Bedeutung für London. Unser Land ist keine Insel mehr. Wir sind ein führender europäischer Staat." Dann entwirft er das Bild einer glänzenden Zukunft für Großbritannien, das seit 1973 Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war und 1975 bei einem Referendum beschlossen hatte, das auch zu bleiben (67 Prozent für Remain).

Harold tut seine Überzeugung kund, dass man nun eine Dekade einläute, in der London zur Hauptstadt Europas aufsteigen werde. Wenn das Alte und das Überholte erst weggeräumt seien habe man riesige Flächen Bauland zur Verfügung, auf denen man seinen Wohlstand begründen könne. Keine andere Stadt der Welt verfüge über eine solche Gelegenheit zu "profitablem Fortschritt". Darum sei es so wichtig, dass die richtigen Leute das neue London planen, und diese Leute habe er heute eingeladen. Dazu sieht man Gangster, korrupte Politiker und Polizisten, Society-Typen und so weiter.

Im Sommer 1979, schreibt Mark Duguid (im Booklet der bei Arrow erschienenen Bob-Hoskins-Box), als Margaret Thatcher selbst noch nicht wusste, was Thatcherismus ist, schien The Long Good Friday schon einen bestechend scharfen Blick für das zu haben, was kommen würde: "In den 1980ern gestaltete die Thatcher-Regierung Großbritannien radikal um - nicht nur politisch, sozial und ökonomisch, sondern physisch. Fabriken, Essen, Hüttenwerke und Werkshallen überall in den einst bedeutenden Industriestädten ließ man in der Folge einer rasend schnellen und zerstörerischen Deindustrialisierung leer und baufällig herumstehen."

Thatcher machte London nicht zur Hauptstadt Europas, wohl aber zur Welthauptstadt des Finanzkapitalismus. Den Preis dafür bezahlten andere Landesteile. "Was einst Britanniens stolzeste Industrie gewesen war, der Kohlebergbau", so Duiguid, "wurde praktisch eingestellt. Geld floss aus Schottland ab, aus dem Norden und aus den Midlands, aber es flutete London, und besonders die City. Im Osten und im Süden, und ganz speziell entlang der Themse, wurde London von Grund auf neu gebaut." Bis 2012 war die City of London der Ort, wo mehr im Finanzsektor beschäftigte Menschen arbeiteten als sonst irgendwo in Europa. Dann wurde sie von Canary Wharf überholt.

Hands across the ocean

Harold Shand, Chef einer als "The Corporation" firmierenden Gangsterbande, nimmt schon die 1981 gegründete, von Filz und Korruptionsskandalen geplagte London Docklands Development Corporation vorweg, unter deren Aufsicht da, wo früher die Hafenanlagen gestanden hatten, Büro- und Wohngebäude im obersten Preissegment hochgezogen wurden. Ganz so, als hätte sie Shands Rede gehört, pries die Thatcher-Regierung die Docklands als "nationale Ressource" für private und öffentliche Investitionen an, fühlte sich dann aber nur in sehr geringem Umfang an ihr Versprechen gebunden, bezahlbaren Wohnraum für Normalverdiener zu schaffen.

Wer wissen möchte, was aus Harold Shands Traum geworden ist und aus Flugscham keinen Billigflieger nach London buchen will kann sich mit der Einleitungssequenz des James-Bond-Films The World Is Not Enough (1999) behelfen. Pierce Brosnan tötet mittlerweile im Auftrag Ihrer Majestät, nicht mehr für die IRA. Nach einer Explosion im Hauptquartier des MI6 rast er im Schnellboot die Themse hinunter, passiert das Parlament und die Tower Bridge und liefert sich eine Verfolgungsjagd mit der Attentäterin, die ihn durch ein Eldorado der Reichtumsvermehrung führt und auf dem Dach des Millennium Dome endet.

Hands across the ocean (9 Bilder)

The Long Good Friday

Im Zeitalter ständig verfehlter und nach hinten verschobener Klimaziele kann man es auch gut finden, wenn eine Regierung Schluss mit energieintensiver Industrie und Kohlebergbau macht. Die Rücksichtslosigkeit aber, mit der das geschah, hat tiefe, bis heute nicht vernarbte Wunden gerissen. "So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht", lautet ein berüchtigter Thatcher-Spruch. Es gibt nur Individuen, Männer und Frauen, die sich um sich selber kümmern, um ihre Familie und vielleicht noch um ihre Nachbarn. Der Staat, so das Credo der Premierministerin, muss "schlanker" (= auf einen reinen Reparaturbetrieb reduziert) werden und die Bürger am besten sich selbst überlassen.

Margaret Thatcher war eine Bewunderin von Ronald Reagan, der sein Land ähnlich brachial auf einen neoliberalen Kurs zwang wie sie das ihre. Die schon von Winston Churchill beschworene "spezielle Beziehung" (special relationship) zwischen den USA und Großbritannien wurde unter diesen "ideologischen Seelenverwandten" (Maggie über sich und Ronnie) noch spezieller. So etwas wünscht sich auch Harold Shand, ein ebenso enthusiastischer Verfechter der freien Marktwirtschaft und der Entgrenzung der Ökonomie (genregemäß in der Gangster-Variante) wie Thatcher und Reagan.

"Unsere amerikanischen Freunde", Charlie und Tony, seien gekommen (sagt er am Ende seiner Rede), um den globalen Charakter des Unternehmens zu unterstreichen. Dann bringt er einen Trinkspruch aus, den die Gäste brav wiederholen: "Hands across the ocean!" Wir strecken (metaphorisch) die Hände über das Meer aus, um unsere spezielle transatlantische Beziehung mit den Amerikanern zu festigen. Das könnte O-Ton Maggie Thatcher sein, bei einer Ansprache vor ihrem Kabinett oder vor dem Wahlvolk, das mit solchen Phrasen davon abgelenkt wurde, dass die Regierung dabei war, die Sozialleistungen zu reduzieren und den Einfluss der Gewerkschaften zu minimieren, um die Wirtschaft zu entlasten.

Seefahrer an der Tower Bridge

Mackenzie verzichtet auf die üblichen Postkartenbilder von London. Man sieht keine Doppeldeckerbusse, keine roten Telefonzellen, keine schwarzen Taxis, keine Bobbys und keine Paläste. Bei Harold Shands Rede macht er eine Ausnahme. Den Hintergrund gibt die 1894 fertig gestellte Tower Bridge ab, die man auch viel einfacher hätte haben können. In ihrer Monumentalität und technischen Komplexität ist sie ein Emblem jenes London, das sich im 19. Jahrhundert stark veränderte und mit Bauwerken ausgestattet wurde, die der Welt signalisieren sollten, dass keine Stadt größer und mächtiger war als diese.

Die Brücke gehört zu der Art von Architektur, die "den britischen Heroismus auf dem Schlachtfeld" feiert, "die britische Herrschaft über fremde Länder, den Reichtum und die Macht der Briten, oder, kurz gesagt, den britischen Imperialismus", wie der Historiker Jonathan Schneer in seinem Buch London 1900 schreibt, aus dem man viel über den heutigen Finanzplatz lernen kann, obwohl es vom 19. Jahrhundert handelt. Das Geschichtsbewusstsein, das Shand an historischer Stätte offenbart, ist das von Margaret Thatcher: Man beruft sich auf eine große britische Vergangenheit und räumt dann ab, was dem "profitablen Fortschritt" im Wege steht.

Seefahrer an der Tower Bridge (14 Bilder)

The Long Good Friday

Mitten auf der Themse und mit Blick auf die Tower Bridge, die gebaut wurde, als der Londoner Hafen der größte der Welt war und das Bindeglied zwischen dem vergleichsweise winzigen Mutterland und einem Imperium von enormer Ausdehnung: Einen besseren Schauplatz für seine Rede hätte Harold Shand kaum finden können. Die eigenen Vorhaben mit der Behauptung zu vergolden, Glanz und Gloria vergangener Jahrhunderte wiederherstellen zu wollen, ist in Großbritannien sehr beliebt, seit die britische Flotte mit Sir Francis Drake als Vizeadmiral 1588 im Ärmelkanal die Armada vernichtete und damit die Eroberungspläne des spanischen Königs vereitelte.

Die Vernichtung der Armada fand mehr in der elisabethanischen Propaganda als in der Wirklichkeit statt, und auch das Weltreich ließ noch eine Weile auf sich warten, aber das macht gar nichts. Aus der Propaganda entwickelte sich die identitätsstiftende Erzählung von der uneinnehmbaren Insel, deren Bewohner hinaus in die Welt fahren, Handel treiben und prosperieren. Wer sie daran hindern will wird erfahren, wie unbeugsam diese Seefahrer sind. Das ist der Stoff, aus dem man - mit viel Mut zur Lücke - nationale Mythen formt.

Nicht nur die Armada, auch der Zweite Weltkrieg und die Abwehrschlacht gegen Nazideutschland werden immer wieder gern genommen. Winston Churchill sagte in einer berühmten Durchhalterede, dass sich Großbritannien nie ergeben werde. Den Brexiteers ist das Vorbild und Verpflichtung. Wer gar nicht oder nur mit Vertrag aus der EU austreten will, behaupten sie, schickt eine Kapitulationserklärung nach Brüssel (Nostalgiker dürfen Berlin einsetzen). Diese Kriegsrhetorik ist ziemlich plump, findet aber viel Gefallen bei radikalisierten Rentnern, weil es an eine lange, das Bewusstsein prägende Tradition anknüpft.

Francis Drake der Immobilienbranche

Als The Long Good Friday entstand kam man an Francis Drake nicht vorbei. Vor 400 Jahren hatte der Kulturheld der Engländer die Welt umsegelt, was drei Jahre lang gefeiert wurde (unter anderem mit einer großen Ausstellung in der British Library), weil die Weltumsegelung so lang gedauert hatte, von 1577 bis 1580. Damals war es noch leichter, den Seehelden und Entdecker in einen positiv konnotierten Zusammenhang mit der EU zu bringen, weil der 1973 vollzogene und 1975 per Referendum bekräftigte Beitritt der Briten zur Europäischen Gemeinschaft als Aufbruch in eine goldene Zukunft verstanden wurde.

Auch der Film von Barrie Keeffe und John Mackenzie bedient sich beim Francis-Drake-Mythos, dies allerdings mit Subtilität und Ironie. Harold Shand will nicht als Freibeuter des späten 20. Jahrhunderts um den Globus segeln. Das England seiner Träume ist kein Weltreich, sondern ein Land mit ungenützten Flächen, die sich in ein Paradies für private Investoren, Immobilienspekulanten und Gentrifizierer verwandeln lassen. Unter Berufung auf Brauchtum, große Vergangenheit und nationale Identität (ohnehin ein interessengesteuertes Konstrukt) ist so etwas besser zu verkaufen.

Francis Drake der Immobilienbranche (10 Bilder)

The Long Good Friday

Also zelebriert der Gangsterboss seinen Einstieg ins Immobiliengewerbe auf der Themse, wie es sich geziemt, wenn eine Seefahrernation in eine große Zukunft unterwegs ist. Segelschiffe, mit denen Großbritannien einst die Weltmeere beherrschte, besitzt er nur in Form von Ölgemälden (und einen Globus in der Kapitänskajüte), aber immerhin hat er eine Yacht, auf der er seine Gäste an historischer Stätte bewirten kann. Damals waren die (in Abwicklung befindlichen) Docks unterhalb der Tower Bridge noch nicht mit Luxusimmobilien zugestellt und man hatte einen guten Blick auf das alte Werftgelände, wo Francis Drake 1581 nach erfolgreicher Weltumsegelung mit der Golden Hinde vor Anker gegangen war.

Auf der Golden Hinde schlug Elisabeth I. den Freibeuter zum Ritter, und auf Befehl der Königin wurde das Schiff in King’s Yard (später Convoys Wharf), der von ihrem Vater Heinrich VIII. in Deptford eröffneten Werft, auf ein Trockendock gelegt, damit es von der Öffentlichkeit gebührend bewundert werden konnte. Das war ein Top-Event des Elisabethanischen Zeitalters, nachgestellt bei den 400-Jahr-Feiern zur Weltumsegelung. Im Vorfeld der Feierlichkeiten wurde ein Nachbau der Golden Hinde angefertigt. Die Authentizität ist garantiert, obwohl die Baupläne nicht erhalten sind.

Francis Drake; Nachbau der Golden Hinde. Bild: Dee8654 / CC-BY-SA-3.0

Das Original verrottete, nachdem Elisabeth I. 1581 versprochen hatte, es zur "immerwährenden Erinnerung" für die Nachwelt zu bewahren. Aus den letzten brauchbaren Holzstücken soll 1662 ein Stuhl gezimmert worden sein, der in der Bodleian Library in Oxford zu besichtigen ist. Der Dokumentarfilm zur Entstehung der neuen Golden Hinde endet da, wo Harold Shand seinen "Sinn für Geschichte" unter Beweis stellt, indem er sein Bauprojekt mit Casino, Hotels und Restaurants präsentiert: an der Tower Bridge in London, dem Symbol des Imperialismus im 19. Jahrhundert, der Francis Drake zu seinem Helden erkor.

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