"Mediale Behandlung der Flüchtlinge ist in Teilen rassistisch"
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Wie der Asylkompromiss der EU bei humanitären Helfern ankommt. Und wie Wahrnehmung und Realität von Flüchtlingen auseinanderklaffen. Stephan Reichel über die EU-Beschlüsse, die Grünen und die deutsche Rolle in der EU.
Matteo ist seit seiner Gründung vor fünf Jahren eine der aktivsten und "lautesten" Initiativen in der Flüchtlingshilfe. Die Gruppe vermittelt über ein bundesweites Netzwerk von Helfer:innen und Unterstützer:innen Zuflucht im Kirchenasyl, vor allem in Franken, Regensburg und München.
Dabei scheuen die Mitglieder auch die Konfrontation mit der Polizei, mit Behörden und politischen Akteuren nicht. Ziel sei es, Schutzsuchende vor staatlichem Zugriff zu schützen und Abschiebungen zu verhindern. Der Vereins-Leitspruch ist das Jesus-Zitat "Ich war fremd und obdachlos und Ihr habt mich aufgenommen" (Matteo/Matthäus 25,35).
Stephan Reichel ist Vorsitzender der Organisation, die unter anderem dem Förderkreis "Schutz für Flüchtlinge" angehört, der auch von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) unterstützt wird.
"Festung Europa und weitgehende Aufgabe des Flüchtlingsschutzes"
Herr Reichel, die EU-Außenminister haben sich kürzlich auf eine Asylreform geeinigt. Was haben Sie gedacht, als Sie von den Beschlüssen erfahren haben?
Stephan Reichel: Ich war erschüttert und enttäuscht zugleich. Ich war sofort in großer Sorge um die vielen Menschen, die wir betreuen und kennen und die direkt betroffen sind. Erschüttert über die Perfidie und Bösartigkeit, mit der Referenten aus Deutschland, Italien und anderen Ländern dieses absurde Konstrukt entworfen haben. Enttäuscht über das mangelnde Engagement und die Unkenntnis der Grünen und der SPD.
In den 1990er-Jahren prophezeite der Film Der Marsch eine "Festung Europa". Wird diese Fiktion Realität?
Stephan Reichel: Die sogenannte Festung Europa und die weitgehende Aufgabe des Flüchtlingsschutzes sind ja die Intention des Ganzen. Mit diesem schäbigen Konzept verabschiedet sich Europa von zahlreichen Menschenrechten, der Genfer Flüchtlingskonvention und – nicht ganz nebenbei – von zentralen christlichen Werten wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit und der Verpflichtung jedes Christen, bedrohte Fremde aufzunehmen.
Pro Asyl wirft in einer Stellungnahme insbesondere Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) vor, mit zweierlei Maß zu messen und Unmenschlichkeit zu beschönigen. Wie sehen Sie das?
Stephan Reichel: Ähnlich. Ich halte beide für kluge Frauen, die wissen sollten, was sie tun, auch wenn der Brief von Annalena Baerbock an die Fraktion daran zweifeln lässt, ob sie noch den Durchblick hat. Beide sind offensichtlich von ihren Apparaten schlecht gebrieft und manipuliert. Das Bundesinnenministerium und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bamf, haben Frau Faeser fest im Griff.
"Deutschland hat das Papier entworfen und initiiert"
Von SPD, CDU und Grünen heißt es jetzt, der Druck für die Beschlüsse sei vor allem aus Ungarn und Italien gekommen, die rechtsextrem regiert werden. Macht man es sich mit dieser Sündenbock-Erklärung nicht etwas zu einfach? Nachdem man Italien zwanzig Jahre lang mit der Aufnahme von Flüchtlingen allein gelassen hat, was der italienischen Rechten populistischen Auftrieb gegeben hat?
Stephan Reichel: Nach allem, was ich gehört habe, ist es tatsächlich so, dass Deutschland selbst das vorliegende Papier entworfen und initiiert hat. Die Zusammenarbeit mit der faschistisch dominierten italienischen Regierung soll hervorragend gewesen sein. Viele Punkte zur Verschärfung von Dublin, die das deutsche Kirchenasyl in Zukunft verhindern werden, können nur aus deutscher Feder stammen.
Die Wahrheit ist, dass die europäischen Randstaaten über den Tisch gezogen wurden. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass Italien und andere Grenzstaaten sich bereit erklärt haben, noch mehr Lasten bei der Aufnahme und Zuständigkeit zu tragen, ohne dass es ein faires Verteilungssystem gibt. Ich möchte nicht wissen, welche Geld- und Transferzahlungen in Hinterzimmern ausgehandelt wurden, die nicht im Anti-Asyl-Papier stehen.
Als in den Neunzigerjahren das Asylrecht vor allem für Menschen aus Ost- und Südeuropa sowie für Roma und Sinti eingeschränkt wurde, gab es noch viele Gegenstimmen, die auch auf eine moralische Verpflichtung aus den historischen Verbrechen der Deutschen verwiesen. Davon ist nun selbst von Kritiker:innen innerhalb der Grünen nichts mehr zu hören. Ist Deutschland geschichtsvergessen geworden?
Stephan Reichel: Das irritiert mich zutiefst. Es fehlt der große Aufschrei der Kirchen, der Gewerkschaften, der Intellektuellen, der moralischen Elite dieses Landes. Auch von jüdischer Seite würde ich mir ein kritisches Wort wünschen. Vielleicht kommt es noch. Ein Sturm der Entrüstung müsste losbrechen, aber man spricht schon wieder über Wärmepumpen.