"Mediale Behandlung der Flüchtlinge ist in Teilen rassistisch"

Seite 2: "Extreme Privilegierung der ukrainischen Flüchtlinge"

Gibt es Ihrer Beobachtung nach tatsächlich eine Ungleichbehandlung verschiedener Flüchtlingsgruppen, wie sie von vielen Asylinitiativen beklagt wird?

Stephan Reichel: Es gibt eine extreme Privilegierung der ukrainischen Flüchtlinge, die im Jahr 2022 85 Prozent der Schutzsuchenden ausmachen werden, gegenüber den Kriegsflüchtlingen aus Syrien, Jemen, Sudan, Äthiopien oder den Diktaturopfern aus Afghanistan, Iran oder Eritrea, die etwa 15 Prozent stellen.

Die Ukrainer werden privat oder in Hotels untergebracht, dürfen arbeiten und sich weiterbilden, erhalten Integrations- und Sprachkurse. Die anderen Flüchtlinge müssen in Lagern und Turnhallen leben, dürfen nicht arbeiten, keine Ausbildung machen und keine Sprachkurse besuchen.

Würde man den anderen Flüchtlingen die gleichen Möglichkeiten geben, wären die deutschen Kommunen und Landkreise nicht überfordert, sondern bereichert. Unsere Wirtschaft braucht diese Menschen dringend, und man sperrt sie in Internierungslager an der Grenze. Das Anti-Asyl-Papier ist in seiner Intention und Wirkung offen rassistisch, aber auch wirtschaftsfeindlich.

Wie ist die aktuelle Situation des Kirchenasyls? Es gab ja Versuche, es einzuschränken.

Stephan Reichel: Deutschland hat in das Anti-Asyl-Papier der EU eine Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist auf ein Jahr und eine weitere Verlängerung bei "selbstverschuldeten Abschiebehindernissen" hineinschreiben lassen.

Damit wird das Kirchenasyl, neben der Seenotrettung das wichtigste Korrektiv gegen die unmenschlichen Auswirkungen von Dublin, faktisch unmöglich gemacht.

Die Umsetzung dieses Papiers wäre der Tod des Flüchtlingsschutzes und der Humanität in Europa. Europa würde seine Rolle als Bannerträger von Demokratie und Menschenrechten verlieren.

"Es gibt in Deutschland einen sehr abgehobenen Rassismusdiskurs"

Es wird aber z.B. von der CDU das Argument vorgebracht, wirtschaftliche Gründe seien gar kein Flucht- und Asylgrund.

Stephan Reichel: Armut und wirtschaftliche Gründe gehen häufig mit der Flucht vor Krieg und Diktatur einher. Tatsache ist, dass seit 2015 rund 80 Prozent der regulären Asylbewerber, die nach Deutschland geflohen sind, aus Kriegsländern und Diktaturen kamen. Der Diskurs und die Kampagne gegen die vielen "Wirtschaftsflüchtlinge" entbehren jeder faktischen Grundlage.

Es wird viel von Teilhabe, Inklusion und Vielfalt gesprochen. Warum tut sich die Gesellschaft in einem der wohlhabendsten Länder der Welt so schwer, das Recht auf menschenwürdiges Wohnen und materielle Gerechtigkeit umzusetzen?

Stephan Reichel: Es gibt in Deutschland einen sehr akademischen und abgehobenen Rassismus- und Inklusionsdiskurs, der sich an oberflächlichen Symptomen oder – oft schlecht belegten – historischen Fakten festmacht. Der vor allem politische und zum Teil auch mediale Umgang – etwa in Talkshows – mit Flüchtlingen ist dagegen offen ablehnend und in Teilen regelrecht rassistisch.

Im direkten Kontakt mit den Flüchtlingen erlebe ich die Bevölkerung eher als zugewandt und verständnisvoll. Diesen Kontakt und diese Empathie vermisse ich bei vielen politischen Akteuren und Moderatoren.

In der Debatte um das Einwanderungsrecht geht es fast nur noch um die wirtschaftliche Verwertbarkeit von Menschen. Ist das nicht unmenschlich?

Stephan Reichel: Ich komme aus der Wirtschaft und weiß, dass wir die Menschen, die bei uns Schutz suchen, dringend brauchen. Gebraucht zu werden und ein eigenverantwortliches Leben führen zu können, ist besser als Barmherzigkeit. Deshalb sehe ich auch keinen Widerspruch zwischen Nützlichkeit und unserer ethischen und christlichen Pflicht zur Aufnahme. Das geht Hand in Hand.