Medien, Eliten und Superreiche: Wie sie den Klassismus fördern

Seite 2: Aufräumen mit Mythen und Abwertungen

Eine Neuerscheinung aus dem Unrast-Verlag räumt mit diesen für privilegierte Menschen sehr bequemen Mythen gründlich auf und trifft mit ihrer engagierten Kritik unser Bildungssystem ins Mark.

Dieser Ideologie trat im März die queere Social-Justice-Trainerin Tanja Abou mit ihrer Streitschrift "Klassismus im Bildungssystem" entschieden entgegen: Alle wüssten inzwischen, dass das bundesdeutsche Bildungssystem nicht gerecht sei und der Zugang zu formeller Bildung vor allem von der sozialen Herkunft abhänge.

Bildung wird ökonomisch und sozial Abgehängten penetrant als Ausweg aus der (als individuelles Problem hingestellten) Misere präsentiert. Doch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Der Klassismus des Bildungswesens schafft, zementiert und rechtfertigt erst die wachsende soziale Ungerechtigkeit.

Abou analysiert im Bildungssystem gezielt klassistische Strukturen, also Zuschreibungen, Vorurteile, Selektionsmechanismen, Machtverhältnisse. In der Bildungsdebatte dominierten Erklärungsmuster, die "in sich schon klassistisch sind".

Es sei etwa von "mangelnder Bildungsstimulation" in nichtakademischen Haushalten die Rede, Freizeitaktivitäten würden von oben herab abgewertet, besonders das Fernsehen oder die geringe Zahl gelesener Bücher.

Naserümpfen

Armutsbetroffene würden meist "naserümpfend verurteilt", so Tanja Abou. Wichtiger wäre, auf die Betroffenen selbst zu hören: Die wünschten sich mehr Geld für Nahrungsmittel, die oft nicht bis zum Monatsende reichen, kostenfreie Nachhilfe, Mittel für Freizeitaktivitäten usw. Stattdessen würden junge Menschen im Bildungssystem jedoch benachteiligt und entsprechend der Bildung der Eltern selektiert.

Dies geschehe schon durch Sprache und klassistisch vorgeprägte Begriffe. Abou kritisiert besonders die Worte "sozialer Brennpunkt", "Problemviertel", "bildungsfern" oder "Unterschicht"; für letzteren verwendet sie die Vokabeln "Arbeiter*innen-" und "Armutsklasse", die aus der 1993 in den USA gegründeten Bewegung Working Class/Poverty Class stammten.

"Asozial"

Sie spricht von "materieller Armut", weil das Wort "Armut" oft klassistisch gleichgesetzt würde mit mangelnder Kultur, Wissen und Solidarität.

Den Begriff "asozial" kennzeichnet Abou als dunkles Erbe des NS-Faschismus und kritisiert, dass unter diesem Begriff Verfolgte und mit schwarzem Winkel stigmatisierte Menschen erst 2020, also mit 75 Jahren Verspätung, als NS-Opfer anerkannt wurden.

"Unterklasse"

Der von Abou zitierte Soziologe Andreas Kemper promovierte zum Thema Klassismus und verweist besonders auf den Begriff "Unterklasse" als klassenkonstruierenden Vertikalismus, soll heißen: Wer ihn benutzt, sieht sich oben, die anderen unten.

Der Klassenbegriff wäre demnach aus dem Schwedischen, wo er verschiedene Wikingergruppen einteilte, in die USA eingewandert und erst dort zur stigmatisierenden "underclass" mutiert.

Im faschistischen Deutschland konnten reimportierte Unterklasse-Vertikalismen dann sogar "infernografische Züge annehmen, wie beispielsweise die Untermenschen-Ideologie des Nationalsozialismus, wo marginalisierte Gruppen als "Ausgeburten der Hölle"" (Inferno) erscheinen.

Klassismus und Bildungslüge

Tanja Abou beginnt ihre Analyse des Bildungswesens mit den PISA-Studien, die dem deutschen Schulwesen bezüglich sozialer Gerechtigkeit regelmäßig Mängel bescheinigen.

Insbesondere die mit vier Jahren sehr kurze deutsche Grundschulzeit sorge für eine hohe Selektion nach Herkunft, in der EU seien sonst (außer in Österreich) sechs Jahre üblich.

Das selektive Aussondern armutsbetroffener Menschen im Bildungsprozess setze sich von der Gymnasialempfehlung über Studium, Promotion und akademische Karrieren fort. Mit dem Ergebnis, dass Deutschland in der PISA-Studie zu Bildungsungleichheit im Jahr 2000 Platz 31 von 31 Ländern belegte.

Die damalige Bundesbildungsministerin Edelgard Bulman (SPD) versprach energisch dagegen einzuschreiten. Doch 20 Jahre später belegten wir, noch weiter abgeschlagen, Platz 33 von 36.

Das Lehrpersonal von Schulen bleibt bei Abou nicht unkritisiert, denn "bewusst oder unbewusst" trage es dazu bei, die Armutsklasse zu diskriminieren. Man folge unreflektiert dem meritokratischen Mythos der Leistungsgesellschaft und stabilisiere elitistische Hierarchien.

Elitäre Haltungen

Klassismus finde sich schon in der Bewertung von Namen. Kevin oder Chantal würden mit "bildungsfern" assoziiert, was als "Kevinismus" bezeichnet wird. Die Mangelfinanzierung von Schulen habe in der Corona-Zeit besonders klassistische Benachteiligung produziert, denn es war Lehrpersonen oft nicht bewusst, wie wenig digitalen Zugang zu Online-Unterricht im Lockdown Armutsbetroffene haben.

Auch Eltern sorgten oft für Bildungsungerechtigkeit, wenn sie etwa den Umgang ihrer Kinder nach dem Motto "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern" klassistisch reglementieren. Eine in Hamburg angestrebte Bildungsreform, die 2008 die Primarstufe auf sechs Jahre verlängern wollte, stieß auf konservativen Widerstand einer "von Walter Scheuerl daraufhin ins Leben gerufenen Initiative" und scheiterte.

Die "elitäre Haltung klassenprivilegierter Eltern" sei Treiber von Stigmatisierung und Ausschluss. Dennoch würde in der politischen Debatte

...kaum mal der Fokus auf die Stärkung von Eltern gelegt, deren Kinder ausgegrenzt werden, und nur wenig Kritik an elitären und unsolidarischen Elterninitiativen wie der in Hamburg geübt, die ihren Klassismus… vor sich hertragen und die eigene Machtposition… zu ihren Gunsten nutzen.

Tanja Abou

Herabsetzungen, Entmutigungen und Schuldzuweisungen bezeichnet Tanja Abou als "Ent-Powerment" – ein Gegenbegriff zum von ihr geforderten Empowerment. Auch Jugendhilfe und Sozialbehörden seien Teil dieses klassistischen Systems, wo sich Anfang der 2010er-Jahre Sanktionsandrohungen gegen junge Menschen in Ausbildung gehäuft hätten.

Im Bildungssystem fehlen Ressourcen

Im Bildungssystem fehlen Ressourcen und diese müssten gerechter verteilt werden, wofür eine klassismus-sensible Evaluierung fehle. Bei der Frage, woher nehmen und nicht stehlen, spricht Abou Verteilungsgerechtigkeit in Wirtschaft, Gesellschaft und Steuersystem an.

Sie fordert, hohe Einkommen und Vermögen endlich höher zu besteuern und "dass eine Besteuerung von superreichen Personen sowohl möglich als auch überfällig ist". Besonders die Bildungspolitik müsste mit so erhöhten Einnahmen ausgestattet werden und Chancengleichheit endlich verstärkt anstreben.