Medikamente: "Deutschland hat zu lange zu billig eingekauft"

Rosa Pillen sind gerade aus. Foto: Michal Jarmoluk/Pixabay

Arzneimittel-Versorgung: Die Abhängigkeit von der Produktion in Fernost, die Vertreibung aus der "Komfortzone"; Lieferketten, die nicht mehr wie gewohnt funktionieren: Gibt es ein Zurück? Auskünfte aus der Branche.

Um die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen zu dämpfen, wurde den Krankenkassen das Recht eingeräumt, mit den Herstellern von Medikamenten über Rabattverträge, deren Konditionen nicht veröffentlicht werden müssen, die Kosten für die Medikamente ihrer Versicherten zu senken.

Nur wenn die Rabattvertragspartner nicht liefern konnten, durften andere Medikamente mit dem verordneten Wirkstoff abgeben werden. Der Preis- und Wettbewerbsdruck hat dazu geführt, dass die Kosten durch Auslagerung von Produktionsschritten nach Fernost gesenkt werden.

Heute stellen China und Indien 80 bis 90 Prozent aller Wirkstoffe für Medikamente her. Die Beschaffung von Medikamentengrundstoffen in China wurde in den letzten Jahren deutlich erschwert, da China seine Umweltstandards drastische erhöht hat.

In der Folge der strengeren Gesetze wurden zahlreiche Produktionsstätten, die die neuen Bestimmungen nicht einhalten konnten, geschlossen. Corona hat die Lieferkettenproblematik noch verstärkt, da sich das Virus zu Beginn gerade in der chinesischen Region Hubai ausbreitete, wo sich viele Wirkstoff-Fabriken befinden, die dann kurzfristig über mehrere Wochen stillgelegt wurden.

Auch die Belieferung aus Indien kam teilweise ins Stocken, weil die indische Regierung für bestimmte Medikamente wie Antibiotika einen Exportstopp verhängte, um die Versorgung der eigenen Bevölkerung zu sichern.

Medikamentenknappheit hat unterschiedliche Gründe

Zuletzt wurde beklagt, dass Fiebersäfte für Kinder kaum noch erhältlich waren. Nach vorliegenden Informationen war die Nachfrage nach den Fiebersäften explodiert und die Produktion konnte nicht so schnell gesteigert werden, dass man die deutlich über den Vorjahren liegende Nachfrage befriedigen konnte.

In anderen Fällen lohnt sich die Produktion in Deutschland nicht mehr und es gibt nicht immer Ersatzquellen, deren Medikamente in Deutschland zugelassen sind. Ein Beispiel aus der jüngeren Zeit ist der Östrogen-Hemmer Tamoxifen, der oft in der Brustkrebs-Therapie eingesetzt wird, weil seine Nebenwirkungen gering sind.

Hier kam es zu Lieferengpässen, weil viele Hersteller die Produktion eingestellt haben, weil sie wohl nicht mehr rentabel war. Da es für Tamoxifen keinen alternativen Wirkstoff gibt, auf den Ärztinnen und Ärzte ausweichen könnten, waren die Patientinnen und Patienten gezwungen, viele Apotheken wegen möglicher Restbestände zu kontaktieren.

Der Rückruf von Medikamenten mit dem Wirkstoff Valsartan wurde mit Bekanntwerden von produktionsbedingten Verunreinigungen ausgelöst.

Der Hersteller Zhejiang Huahai Pharmaceutical Co. hatte, wohl aus Kostengründen das Produktionsverfahren umgestellt, mit der Folge, dass das Produkt mit Nitrosaminen verunreinigt war.

In der Weiterverarbeitung war das nicht aufgefallen, weil eine Prüfung auf Nitrosamine zum damaligen Zeitpunkt nicht vorgeschrieben war. Aufgefallen waren die Verunreinigungen dem chinesischen Hersteller, der die Information dann auch in der Lieferkette weitergab, sodass die Medikamente zurückgerufen werden konnten.

Wie will die Bundesregierung die Arzneimittelversorgung sicherstellen?

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) teilte auf Nachfrage von Telepolis mit, dass die angemessene Versorgung der Patientinnen und Patienten mit Arzneimitteln für das Ministerium ein wichtiges Anliegen sei. Die Herstellung von Arzneimitteln sei komplex und finde überwiegend in einem globalisierten Markt statt.

Insbesondere die Konzentration auf einige wenige Herstellungsstätten trage zu vulnerablen Lieferketten bei. Das Auftreten von Produktions- und Lieferengpässen sei kein nationales Problem, sondern betreffe den gesamten EU-Binnenmarkt.

Die Bundesregierung halte neben Anreizen für den Erhalt und den Ausbau von Wirkstoffherstellungsstätten in der EU insbesondere Maßnahmen zur Diversifizierung der Lieferketten für geeignet, um die Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln zu erhöhen. Entsprechende Maßnahmen, welche zur Verbesserung der Versorgungssicherheit und der Stärkung des EU-Pharma-Standortes beitragen könnten, würden derzeit geprüft.

Darüber hinaus unterstütze die Bundesregierung die Europäische Kommission in ihrem in der Arzneimittelstrategie für Europa gesetzten Ziel, die Sicherstellung der Arzneimittelversorgung in der EU zu verbessern.

Die bevorstehende Überarbeitung des Europäischen Arzneimittelrechts soll einen Rechtsrahmen schaffen, der die Problematik der vulnerablen Lieferketten und Lieferengpässe berücksichtigt und so die Versorgungssicherheit stärkt.

Als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie habe die Bundesregierung auf nationaler Ebene zudem Maßnahmen zur Stärkung inländischer Arzneimittelproduktion ergriffen. Dazu zählten die Richtlinie zur Förderung der klinischen Entwicklung von versorgungsnahen Covid-19-Arzneimitteln und deren Herstellungskapazitäten vom 14. Mai 2021 sowie der Abschluss von Pandemiebereitschaftsverträgen mit fünf Unternehmen zur Vorhaltung von Produktionskapazitäten für den Bund zur Sicherstellung einer resilienten Impfstoffversorgung.

Soweit das Ministerium. Wir haben uns dann erkundigt, wie die Verbände der Pharmahersteller die Entwicklung der Lieferketten sehen.

Pro Generika: "Eine bedrohliche Abhängigkeit von Lieferungen aus Asien"

Telepolis hat beim Verband der Generikahersteller, Pro Generika, zur aktuellen Situation der Lieferketten bei Medikamenten nachgefragt und mit Geschäftsführer Bork Bretthauer gesprochen.

Brauchen wir eine Rückverlagerung der Generika-Produktion nach Europa?
Bork Bretthauer: Die Lage ist komplex und es gibt nicht die eine tragfähige Lösung. Mehr Produktion in Europa kann ein Baustein für mehr Versorgungssicherheit sein. Eine europäische Autarkie bei der Arzneimittel- und Wirkstoffproduktion ist aber nicht realistisch.
Und vor allem auch nicht erstrebenswert. Vielmehr ist es wichtig, nicht nur die heimische Produktion im Blick zu haben. Es muss uns vor allem um mehr Resilienz und mehr Diversifizierung in den Lieferketten gehen.
Wie schnell wäre eine Rückverlagerung möglich?
Bork Bretthauer: Wie schnell eine punktuelle Rückverlagerung der Produktion erfolgen könnte, hängt vom jeweiligen Arzneimittel ab und auch davon, ob es bereits eine Infrastruktur in Deutschland bzw. Europa gibt.
So viel aber lässt sich sagen: Die Errichtung eines neuen Werkes auf der grünen Wiese wird sicherlich Jahre dauern.
Was sind die Ursachen der Abhängigkeit von Importen?
Bork Bretthauer: Deutschland hat zu lange zu billig eingekauft. Das Ergebnis ist eine bedrohliche Abhängigkeit von Lieferungen aus Asien. Die Politik weiß längst Bescheid, sie muss handeln. Weil Generika billig sein müssen, ist ein erheblicher Teil der Produktion abgewandert.
Wollen wir mehr Unabhängigkeit und mehr Resilienz in den Lieferketten, müssen wir wieder mehr ausgeben für lebenswichtige Arzneimittel.
Wie lässt sich die Abhängigkeit wieder reduzieren?
Bork Bretthauer: Die Abwanderung ist eine Folge des Kostendrucks. Den müssen wir jetzt lockern. So verhindern wir, dass auch die letzten heimischen Werke schließen. Und so ermöglichen wir es den Unternehmen, wieder diversifizierte Lieferketten aufzubauen.

BPI: "Es wird unumgänglich sein, hier die 'Komfortzone' zu verlassen"

Beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie nahm BPI-Hauptgeschäftsführer Dr. Kai Joachimsen wie folgt Stellung:

Es ist regulatorisch und pharmazeutisch nicht trivial, Standorte zu verlegen. Bei nahezu allen Prozessen müssen pharmazeutische Hersteller erneut alle behördlichen Auflagen erfüllen (Audits, Prozesse, Stabilitätsdaten etc.). Wir sprechen hier von Jahren, nicht Monaten.

Die Fertigproduktherstellung, d.h. die Herstellung des Arzneimittels, ist nach Durchführung der technischen und regulatorischen Aufgaben in Europa mit ausreichender Vorlaufzeit, um die technischen Voraussetzungen für die Produktion zu erfüllen, realisierbar. Die grundlegenden Strukturen sind größtenteils noch vorhanden, politisch könnten dabei verstärkte Förderungen unterstützen.

Bei der Wirkstoff-Herstellung hat Deutschland/Europa durch deren Abwanderung in andere Teile der Welt sehr viel verloren. Dieser Prozess ist nur schwer reversibel. Das "Zurückholen" der Wirkstoffproduktion ist nur bedingt realisierbar. Selbst bei idealen Vorzeichen ist eine schnelle Verlagerung eine längerfristige Aufgabe.

Es ist ein umfassendes Konzept erforderlich, das strukturell an den Ursachen für die Abwanderung und Auslagerung der Wirkstoffproduktion ansetzt. Dies bedeutet, dass hier nicht nur industriepolitisch angesetzt werden kann – so würden Subventionen alleine die strukturellen Probleme nicht beheben.

Es muss gleichzeitig auch der Nachfragemarkt in den Blick genommen werden – denn ohne einen attraktiven Markt wird man keine Produktion anlocken können. Dies bedeutet konkret, dass insbesondere auch der Preis- und Kostendruck in nationalen Gesundheitssystemen in den Blick genommen werden müsste – dies scheut man jedoch grundsätzlich und in Zeiten knapper Kassen besonders.

"Vor weiterer Abwanderung sichern"

Es ist jedoch so, dass eine stabile Versorgung auch über "regionale" Produktion und die Vergütungssituation im Krankenversicherungssystem eng miteinander verknüpft sind. Daher wird es unumgänglich sein, hier die "Komfortzone" zu verlassen – schon allein, um die noch in Deutschland/Europa bestehende Wirkstoffherstellung vor weiterer Abwanderung zu sichern.

Daher müssen nunmehr dringend Korrekturen vorgenommen werden, um im Arzneimittelbereich einen nachhaltigen Wettbewerb mit dem Ziel des Erhalts der Anbietervielfalt zu sichern und dadurch eine kontinuierliche Arzneimittelversorgung zumindest in versorgungsrelevanten Bereichen zu gewährleisten.

Um mit einer Produktion in Deutschland bzw. Europa die Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln zu erhöhen, bedarf es u.a. auch der Modifikation der bestehenden Ausschreibungsregelungen für Rabattverträge.

Bei der Zuschlagserteilung müssen die Krankenkassen verpflichtet werden, in einem echten Mehrbietermodell mindestens einen Bieter mit deutscher bzw. EU-Produktion bei insgesamt drei Zuschlägen zu berücksichtigen, wobei Ein-Partner-Zuschläge bei entsprechender Angebotslage grundsätzlich untersagt sind.

Darüber hinaus sollten Wirkstoffe/Arzneimittel, die in den letzten zwei Jahren mehrfach einen Versorgungsengpass aufgewiesen haben, für die Dauer von zwei bis drei Jahren nicht mehr ausgeschrieben werden. Damit stünden diese vollständig zur Versorgung der Bevölkerung zur Verfügung und es würden Anreize geschaffen, die Versorgung in Deutschland zu verbessern.

Ein simpler Vergleich europäischer bzw. deutscher Lohnkosten und der entsprechenden Sozialabgaben zeigt, dass wir niemals zu chinesischen Preisen produzieren können werden. Sonst hätte es diesen Strukturwandel nicht gegeben. Die Unternehmen arbeiten hocheffizient, Steigerungen sind nur bis zu bestimmten Grenzen möglich.

Selbst wenn durch Automatisierungsprozesse die Produktionskosten noch weiter gesenkt werden können, so wird man aufgrund der regulatorischen Kosten und allem, 'was um die Fabrik herum' noch an Aufwand erforderlich nicht, kein asiatisches Kostenniveau erreichen können.

Die gesetzlichen Krankenversicherungen müssten bereit sein, für die Lieferfähigkeit und Patientenversorgung entsprechende Mehrkosten in Kauf zu nehmen.

Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie

Wie kann das Problem der langen Lieferketten gelöst werden?

Nachdem der Staat derzeit schon im Bereich der Energiewirtschaft massiv gefordert ist, um einen Zusammenbruch der Branche zu verhindern und auf Druck der USA jetzt auch die Investitions- und Handelsbeziehungen mit China zurückfahren soll, ist es fraglich, ob die EU die gewachsenen Lieferketten aus Fernost jetzt schnell substituieren kann.

Möglicherweise wird nach Indien auch China die Lieferketten absichtlich unterbrechen um die Produktionskapazitäten mehr im Interesse des heimischen Marktes auszulasten.

Die Bedeutung des Handels mit Medikamentengrundstoffen ist für die EU deutlich größer als für China, wo es vergleichsweise leicht sein dürfte, den heimischen Unternehmen lukrative Fertigungen für den Binnenmarkt vorzuschlagen.

Beim aktuell in der europäischen Politik sich entwickelnden Druck auf die Zentralregierung in Beijing, wegen der Uiguren und der Tibeter und der sich abzeichnenden von Europa gewünschten Erschwerung des globalen Handels ist nicht auszuschließen, dass China das Interesse am Handel mit der EU und den USA verliert.

Schon unter Präsident Bush war die Drohung mit Handelssanktionen für China bei Unternehmen wie Walmart nicht gerade begrüßt worden, weil man dann mit leeren Regalen hätte rechnen müssen.

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