Mediterrane Jagd nach kosmogenen Neutrinos

Auf der Suche nach kosmischen Geisterteilchen tauchen europäische Astrophysiker immer tiefer ins Mittelmeer ein

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Astronomen, die ihre Teleskope nicht gen Himmel, sondern auf den Erdboden richten, suchen in der Regel nach Neutrinos. Derlei Partikel passieren die Netzhaut genauso unbemerkt und nahezu spurlos, wie sie die Erdkugel durchqueren. Gelingt es, ihre Anwesenheit nachzuweisen, können Astronomen den Spuren von Supernovae und Gammastrahlenblitzen folgen. Während das in der Antarktis ansässige AMANDA-Projekt bereits einige Neutrinos registrierte, hat im März dieses Jahres das ANTARES-Experiment seinen ersten Testlauf erfolgreich bestritten und vom Grund des Mittelmeers aus erstmals nach kosmischen Geisterteilchen Ausschau gehalten. Das Nonplusultra der mediterranen Neutrino-Astronomie wird aber KM3NeT sein, das ab 2010 auf Phantomjagd gehen soll.

Wenn Kerne von Galaxien brodeln, Schwarze Löcher zusammenstoßen, Supernovae das All erschüttern, Kernfusionsprozesse im Innern von Sternen ablaufen oder Gammastrahlenblitze – die energiereichsten Phänomene im All überhaupt – grell aufleuchten, schlägt die Geburts-Millisekunde der Neutrinos, jener extravaganten Partikel, die selbst Astrophysiker bisweilen als Geister- oder Phantomteilchen bezeichnen.

Geringfügig schwerer als das Nichts

Dass von diesen extrem massearmen, nicht elektrisch geladenen Partikeln, die unterschiedliche Energien aufweisen können, eine gewisse Faszination ausgeht, hängt einerseits mit deren Herkunft zusammen, ist andererseits aber auch Folge ihrer ungewöhnlichen Eigenschaften. Zwar zählen Neutrinos wie auch Elektronen und Photonen zu den Elementarteilchen, doch beträgt die Masse eines einzelnen Neutrinos höchstens Millionstel Bruchteile der Masse eines Elektrons. Da aber bereits das Elektronengewicht sich auf gerade einmal den Millionsten Teil eines Trilliardstel Gramms beläuft, sind Neutrinos nur geringfügig schwerer als das Nichts. So verwundert es nicht, dass die Elementarteilchen-Forscher einen vergleichsweise hohen Aufwand betreiben müssen, damit die ungeladenen, unsichtbaren und fast masselosen subatomaren Partikel Zeugnis von den Geheimnissen des Kosmos ablegen und etwas über jene kosmischen Tragödien verraten, aus denen sie hervorgegangen sind.

Neutrinobild der Sonne: Rekonstruiert aus mehreren Tausend Sonnenneutrinos, die der japanische Super-KAMIKOANDE-Detektor registriert hat. (Bild: R. Svoboda und K. Gordan, LSU)

Wollen Astronomen das geringe Etwas im Nichts aufspüren, müssen sie den Phantompartikeln gleichwohl enorme Massen entgegenstellen. Schließlich ist es kein Geheimnis, dass Neutrinos wegen ihrer geringen Reaktionszeit jede beliebige Messapparatur durchdringen, ohne irgendein Signal zu hinterlassen. Und da das massereichste und zugleich „undurchdringlichste“ irdische Objekt zufälligerweise die Erde selbst ist, blicken die Teleskope der Neutrinojäger nicht zum Himmel, sondern in den Erdboden, so wie die Detektoren des AMANDA-Projekts (Antarctic Muon And Neutrino Detector Array) am Südpol. Das Neutrino-Teleskop nutzt schlichtweg das Eis über der Antarktis als Schutzschild vor einfallender kosmischer Strahlung und die Masse der Erde als Filter, um die ersehnten Neutrinos herauszufischen. Dabei zielen die 667 Module des AMANDA-Observatoriums, die kopfüber im kristallklaren Polareis des Südkontinents in einer Tiefe von zwei Kilometern stecken, auf jene Neutrinos ab, die vom Weltraum kommend auf die nördliche Hemisphäre treffen, vorausgesetzt, die Phantompartikel „interagieren“.

ANTARES – Tauchfahrt ins Mittelmeer

Denn obwohl Neutrinos in dieser Welt en masse vorhanden sind und auch in diesem Moment unsere Körper ungebremst durchfliegen, ist ihr Nachweis relativ schwer. „Nur mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit stößt ein Neutrino mit einem Atomkern zusammen. In 70 Prozent der Fälle wandelt sich das Neutrino dabei in sein geladenes Partnerteilchen um: Je nach Neutrinotyp entsteht dabei ein Elektron, Myon oder Tauon. Das Myon, eine 200-mal so schwere Variante des Elektrons, ist dabei von besonderem Interesse“, erklärt der ANTARES-Projektwissenschaftler Jürgen Brunner vom "Centre de Physique des Particules" in Marseille (Frankreich). Denn Myonen, die „aus dem Erdinnern kommen“, müssen notgedrungen „von Neutrinos stammen, da nur diese die gesamte Erde ungehindert durchqueren können.“

Neutrinos – sie kommen vornehmlich aus den Tiefen des Alls und sind nur schwer zu detektieren. (Bild: NASA/Fruchter/ERO)

Brunner, der im Gegensatz zu seinen in der Antarktis werkelnden Kollegen das mediterrane Klima zu bevorzugen scheint, arbeitet seit 1998 an ANTARES. Den Status mediterran hat ANTARES (Astronomy with a Neutrino Telescope and Abyss enviromental Research) fürwahr verdient, hat es doch vor der Küste der Mittelmeerstadt Toulon in einer Tiefe von etwa 2500 Metern maritime Wurzeln geschlagen, „was für eine effektive Abschirmung des Detektors gegen die kosmische Strahlung ausreicht“, so Brunner.

ANTARES-Module kurz vor dem „Touchdown“ (Bild: L. Fabre/CEA)

Während die Neutrino-Teleskope vom ewigen Eis der Antarktis und durch die Erde hindurch zum Nordhimmel blicken, starrt ANTARES jedoch – wie seine Kollegen, die anderen beiden Tiefsee-Neutrino-Teleskope NEMO und NESTOR – durch den Meeresboden des Mittelmeers in den Südhimmel. Obwohl das ANTARES-Experiment finanziell längst auf sicherem Boden steht, befinden sich noch nicht alle Module auf dem Grund des Mittelmeers vor der südfranzösischen Küste. Erst im Februar 2006 wurde der erste Detektorstring von ANTARES von einem Forschungsschiff aus ins Wasser gelassen.

Der Hauptauftrag

Bis Ende nächsten Jahres soll die in seiner endgültigen Ausbaustufe aus insgesamt zwölf vertikalen Strings bestehende Anlage im Meeresboden vollständig verankert und durch Unterwasserbojen straff nach oben gezogen sein. Jeder String besteht aus 30 Modulen mit je drei Photosensoren und hat eine Länge von 460 Metern. „Mit einer Ausdehnung von etwa 200 Meter x 200 Meter x 460 Meter ist ANTARES eines der größten Teleskope der Welt“, betont Brunner.

Künstlerportrait von ANTARES (Bild: Francois Montanet)

Der Hauptauftrag des ANTARES-Observatoriums besteht darin, hochenergetische kosmische und atmosphärische Neutrinos durch das Tscherenkow-Licht (auch „Cherenkov-Licht“ geschrieben) einzufangen. „Das klare Wasser in den Tiefen der Ozeane eignet sich bestens, um das Tscherenkow-Licht der von Neutrinos erzeugten Myonen nachzuweisen“, so Brunner. Dabei messen die Forscher nur jene Myonen, die sich aufwärts bewegen und daher von Neutrinos stammen, die auf der Südhalbkugel in die Erde eingedrungen sind und den ganzen Erdball durchquert haben. Auf diese Weise können alle unerwünschten Myonen, die beispielsweise in der Erdatmosphäre entstanden sind, aber auch andere potenzielle Störfaktoren herausgesiebt werden: Am Ende bleiben dann tatsächlich nur noch jene Neutrinos übrig, die irgendwo in den Tiefen des Alls "geboren" wurden.

Optisches Modul, besser gesagt eines der “Augen” von ANTARES (Bild: CEA/DSM/DAPNIA for the ANTARES collaboration)

Südhimmel im Visier

Auch für Teleskope maritimer Machart gilt die Faustregel: Je größer, desto besser. Wer kosmische Astroteilchen aus den Tiefen des Alls einfangen will, muss schlichtweg mehr Geld investieren – aber auch Glück haben. So wiesen die Elementarteilchenexperten rein zufällig am 23. Februar 1987 mit dem (damals) teuren Kamiokande-Detektor in Japan elf Neutrinos nach, die bei der Supernovaexplosion SN1987 in der 170.000 Lichtjahre entfernten Großen Magellanschen Wolke generiert worden waren. Bis auf den heutigen Tag sind diese elf Partikel die einzigen lokalisierten Neutrinos, die nachweislich von einer Supernova stammen.

Da auch AMANDA mit einem Nachweisvolumen von immerhin einem Kubikkilometer im Rahmen ausgiebiger Observationen des Nordhimmels mehrere tausend Neutrinos registrieren konnte, die in der Erdatmosphäre erzeugt worden sind, kann angesichts dieser Erfolgsquote nicht verwundern, dass die Neutrinojäger schon seit längerem den Südhimmel im Visier haben. Und da auf diesem Planeten bekanntlich noch weitaus angenehmere Orte existieren, von denen aus vortrefflich nach Neutrinos gesucht werden kann, haben die europäischen Forscher die ersten Neutrino-Detektoren auf dem Grund des Mittelmeers installiert.

Kurz vor dem Abflug: IceCube-Forscher auf dem Rückweg Richtung Norden… (Bildnachweis: IceCube)

Um die Erfolgsquote zu verbessern, arbeiten die Astrophysiker darauf hin, eine volle Himmelsabdeckung und eine Beobachtung von Neutrinos aus der Richtung des galaktischen Zentrums zu ermöglichen. Hierzu benötigen sie eine Detektoranlage, die drei Kubikkilometer groß ist. Das erste Projekt, das diesem Anspruch beinahe gerecht wird, ist das ebenfalls in der Antarktis im Aufbau befindliche IceCube-Experiment.

Superteleskop KM3NeT

Neutrinojäger, die sich noch ein leistungsfähigeres Teleskop wünschen und wärmeren Gefilden zugeneigt sind, dürften dem Astroteilchenphysiker Prof. Dr. Ulrich Katz vom Institut für Experimentalphysik (Astroteilchenphysik) der Universität Erlangen-Nürnberg alle Daumen drücken. Schließlich plant dieser in seiner Funktion als Leiter einer internationalen Forschergruppe den Bau eines riesigen Neutrino-Teleskops, das den Namen KM3NeT tragen und auf dem Grund des Mittelmeers installiert werden soll. Auch wenn das Projekt sich vorerst noch in der Planungsphase befindet, so besteht das Ziel der europäischen Design-Studie darin, innerhalb der kommenden drei Jahre die genauen technischen Spezifikationen des KM3NeT-Neutrino-Teleskops zu erarbeiten und zu dokumentieren. Und hierfür sollen ANATARES, NEMO und NESTOR den Weg ebnen.

Supernova 1987a – vor und nach der Supernova. Von der riesigen Anzahl Neutrinos, die bei dieser Eruption generiert wurden, konnten auf der Erde „immerhin“ elf nachgewiesen werden. (Bildnachweis: Anglo-Australian Observatory, David Malin)

Mit Hilfe des KM3NeT-Teleskops versuchen die Forscher, eines der größten Rätsel der Astrophysik zu lösen: die Frage nach der Herkunft der hochenergetischen kosmischen Strahlung. Geht es nach Katz & Co., dann soll ab 2010 ein riesiges Neutrino-Teleskop auf dem Grund des Mittelmeers verankert sein. An dem Projekt KM3NeT arbeiten insgesamt 36 Forschungsinstitute aus den Bereichen Astroteilchenphysik, Teilchenphysik, Astrophysik sowie Meeresforschung und Tiefseetechnologie mit. Zirka 20 Millionen Euro, allein neun Millionen davon von der EU, stehen für die Umsetzung des Projekts zur Verfügung.

Alles nur eine Frage der Zeit

Intensiv eingebunden in die Design-Studie sind diverse Institute aus dem Bereich der Meeresforschung und -technologie, die einerseits ihre Expertise in das Design des Neutrino-Teleskops einbringen, andererseits aber auch die entstehende Tiefsee-Infrastruktur für Forschung in Bereichen wie zum Beispiel Meeresbiologie, Geologie, Geophysik, Ozeanographie und Umweltwissenschaften nutzen werden.

Wolfgang Pauli (1900-1958) – 1930 postulierte er als Erster die Existenz von Neutrinos

„Die Geisterteilchen werden es also immer schwerer haben“, so die Prognose von Jürgen Brunner, „den irdischen Detektoren zu entrinnen.“ Und in der Tat – alles ist nur noch eine Frage der Zeit, bis in der beobachtenden Astronomie kosmogene Neutrinos das Sagen haben. Für den Entdecker der Neutrinos, den Physiker und Physik-Nobelpreisträger von 1946, Wolfgang Pauli, wäre diese Entwicklung indes ein wenig tröstlich. Denn als er erstmals das Problem der Neutrinos in seine Theorie einführte, um damit einige Ungereimtheiten beim Kernzerfall zu erklären, schrieb er im Jahr 1930 noch voller Pessimismus an einen Kollegen: "Ich habe etwas Schreckliches getan. Ich habe ein Teilchen vorausgesagt, das sich nicht nachweisen lässt."

Status-Quo-Report zum ANTARES-Projekt siehe Arxiv-Server