"Mehr Freiheit wagen"

Die Regierung platziert sich, die Oppositionsparteien müssen noch ihre Position finden

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Es war sicher eine Meisterleistung der Spindoktoren - und sie kann einstweilen als gelungen gelten. Man transformiere ein bekanntes Bonmot aus der Regierungserklärung von Willy Brand in die Antrittsrede von Angela Merkel, tausche ein entscheidendes Wort und gebe ihm damit einen andere Bedeutung und schon loben alle die Integrationsfähigkeit der neuen Kanzlerin, die sogar Anleihen beim Parteigegner macht. Dabei zeigen solche Reaktionen eher, wie wenig es den Kritikern um Inhalte geht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hält ihre Regierungserklärung. Bild: REGIERUNGonline/Plambeck

Als Merkel beim Fernsehduell mit Schröder im Schlusswort ein abgewandetes Zitat aus einer Rede des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan vortrug, erntete sie heftige Schelte in den Medien und Internet. Doch der US-Politiker Reagan ist in Deutschland nicht besonders angesehen, während der rechte Furore gegen den Antinazi und Emigranten Willy Brandt, der in Zeiten der Entspannungspolitik bis weit in die Reihen der Unionsparteien reichte, heute kaum noch vorstellbar ist. Insofern gehörte für Merkel wahrlich kein großer Mut mehr dazu, ihre Antrittsrede mit einem umgewandelten Brandt-Zitat zu garnieren.

Viel interessanter ist die Reaktion der Sozialdemokraten. Es gibt zumindest aus der Partei keinen wahrnehmbaren Widerspruch gegen die Instrumentalisierung eines Willy-Brandt-Zitats. Es stand nicht nur in sozialdemokratischen Kreisen lange Zeit für den Beginn einer kurzen Reformära oder gar für eine nachholende Modernisierung der alten Bundesrepublik.

Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass durch Anhörungen im Bundestag, durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.

Willy Brandt in seiner Regierungserklärung

35 Jähre später hat der Begriff „Reform“ längst einen Bedeutungswandel durchgemacht. Der Begriff steht heute nicht mehr für Partizipation der Bürger, sondern für die Entfesselung der Marktkräfte. Das wird gut in dem Kontext deutlich, in dem der vielzitierte Satz in der Merkelrede steht:

Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen! Lassen Sie uns die Wachstumsbremsen lösen! Lassen Sie uns selbst befreien von Bürokratie und altbackenen Verordnungen! Viele unserer europäischen Nachbarn zeigen uns doch, was möglich ist. Deutschland kann das, was andere können, auch; davon bin ich zutiefst überzeugt.

Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung

Westerwelle kritisiert nicht Richtung, sondern Tempo

Da hätte doch sicher auch ein Westerwelle problemlos zustimmen können, doch nun hat er nun die Aufgabe als stärkster Oppositionsvorsitzende und muss eben die Kritikerrolle spielen. "Das, was Sie machen, bleibt eine Politik der Trippelschritte. Das ist in Zeiten der Globalisierung zu wenig", erwiderte Westerwelle auf die Regierungserklärung von Merkel. Damit machte er schon deutlich, dass ihm die Richtung schon passt, nur das Tempo ist ihm zu langsam.

Wie sehr sich Westerwelle noch immer ärgert, dass statt seiner Partei jetzt die SPD mit der Union die Regierungsbank teilt, machte er durch das Zeigen sozialdemokratischer Wahlplakate deutlich. Dort wurde heftig gegen die von der Union geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer, die sogenannte Merkelsteuer agiert. Westerwelle erwähnte nicht, dass seine Partei auch gegen diese Pläne war und bei einer anderen Regierungskonstellation jetzt an Münteferings Stelle den Bruch der Wahlaussagen zu verteidigen gehabt hätte. Denn es ist unwahrscheinlich, dass der kleineren FDP gelungen wäre, was der SPD versagt blieb: die Union von der Mehrwertsteuererhöhung abzubringen.

Die Grünen zwischen Oswald Metzger und Christian Ströbele

Während die FDP die Rolle als Oppositionskraft rechts von der großen Koalition und Gralshüter des Wirtschaftsliberalismus übernommen hat, tun sich die Grünen mit ihrer Neufindung noch schwer. Schließlich gibt es dort Kräfte, die durchaus Merkels Freiheitsbegriff teilen, aber auch weiterhin überzeugte Rot-Grüne. Deswegen wird es auf absehbare Zeit auch keine klare Richtungsentscheidung geben.

In Baden-Württemberg, das sogar von grünen Spitzenpolitikern wie Jürgen Trittin und Renate Künast wie schon vor fünf Jahren als Probefeld für eine schwarz-grüne Koalition nicht ausgeschlossen wurde, gehen die Grünen ohne Koalitionsaussage in den Landtagswahlkampf. Für eine schwarz-grüne Koalitionsdebatte ist es noch zu früh, meinen führende Landespolitiker. Das heißt im Klartext, es gelte jetzt erst einmal im Alleingang ein passables, womöglich sogar zweistelliges Ergebnis einzufahren. Wenn sich dann entsprechende Konstellationen ergeben, ist es immer noch Zeit für Koalitionsgespräche.

Womöglich kommt dann sogar das grün-neoliberale Aushängeschild Oswald Metzger noch zu einem Posten. Der mittlerweile als Botschafter bei der Neuen Gesellschaft für Marktwirtschaft reüssierende Metzger wollte schon vor Jahren Finanzminister in Baden Württemberg werden. Der grüne Fraktionsvorsitzende Fritz Kuhn hatte daher auch wenig am wirtschaftsliberalen Kurs der Regierung auszusetzen. Er kritisierte allerdings eine Verengung des Freiheitsbegriffs auf die Entledigung wirtschaftlicher Fesseln und vermisste die bürgerrechtliche Komponente. Den einzigen schrillen Ton seiner Rede setzte Kuhn beim Thema Umweltschutz:

Wenn Sie unter dem Deckmantel der Ökologie hinter bisher Erreichtes zurückfallen, dann werden wir Sie in diesem Haus grillen wie eine Ökobratwurst, Herr Gabriel; darauf können Sie sich verlassen.

Einigungswehen bei der Linkspartei

Bei der Linkspartei ist die Rollenverteilung nur scheinbar klarer. Lafontaine spendete Merkel erst einmal Applaus für ihre Regierungserklärung, als wäre er noch Teil der SPD-Fraktion. Erst Gregor Gysi musste ihm in den Arm fallen. In seiner Antwort auf die Regierungserklärung kritisierte Lafontaine deren wirtschaftspolitisches Dogma. Er versuchte sich als Kritiker des Neoliberalismus und der ungehemmten Entfesselung der Wirtschaft zu profilieren.

Sie sagen hier: Im Mittelpunkt unserer Politik steht das Senken der Lohnzusatzkosten. Das heißt: Im Mittelpunkt Ihrer Politik steht, die finanziellen Mittel für Kranke, für Rentner, für Arbeitslose und für Pflegebedürftige zu senken. Zusammengefasst lässt sich sagen: Nichts anderes hat in den letzten Jahren stattgefunden. Aber eine solche Politik wird keinen Erfolg haben, sondern sie ist zum Scheitern verurteilt.

Zur Zeit macht die Linkspartei allerdings noch mit Einigungswehen Schlagzeilen. Die Gegner einer schnellen Fusionierung mit der Linkspartei haben nicht zufällig im Berliner Landesverband der WASG Rückhalt. Die Linkspartei hat als Berliner Regierungspartei die ungeliebte Sparpolitik des Berliner Senats mit zu verantworten. Doch solange auf der Spitzenebene die Chemie zwischen Linkspartei und WASG stimmt, sind die Querellen eher Fußnoten im Vereinigungsprozess, wie sie auch bei anderen linken Parteiprojekten, nicht zuletzt bei der Konstituierung der Grünen, bekannt waren. Abspaltungen oder sogar Ausschlüsse sind dabei nicht ausgeschlossen.

Wenn bis vor den nächsten Landtagswahlen im kommenden Frühjahr die Streitereien aber nicht überwunden sind, wird es kritisch. Schließlich werden die Ergebnisse nicht nur zeigen, wie die Wähler die große Koalition annehmen, sondern auch, wie das Kräfteverhältnis im Oppositionslager austariert ist. Besonders die Linkspartei muss sich da erst noch bewähren.