Meine Neuseeland Road Show

Das Auto ist gepackt. Mein Bürostuhl, auf dem Passagiersitz mit dem Sicherheitsgurt festgeschnurrt, dient als Hutablage, Kartenhalter, Aufbewahrungsfach, Garderobe, Beifahrerimitat. Alle Bilder: Tom Appleton

Von Wellington nach Tauranga

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Die Wohnung ist leer geräumt, jede Ecke geputzt und mit Exit Mould Anti-Schimmel Chemie besprüht. Die Bücher: im Depot. Das Auto: gepackt. Es hat Küsse und Tränen gegeben. Ich verlasse Wellington, Richtung Tauranga. Es beginnt meine neuseeländische Road Show.

Ja, dieser "Sommer" war wirklich ein Wash-out. Zwei Wochen lang Sonne im November, dann Sonnenschein am 6. und 26. Dezember und fünf schöne Tage im Februar, den Rest der Zeit: Regen. Sturm / Winde. In Australien hatten sie die Wechselbäder aus gigantischen Überflutungen und Trockenheiten / Feuersbrünsten. In Christchurch legte das zweite massive Erdbeben seit letztem September die Stadt endgültig flach. Und zu allem Überfluss hat mich meine Vermieterin auch noch vor die Tür gesetzt. Sie will ihr Haus verkaufen.

Zum Glück hat mein kleiner Nissan, Modell 92, (also nicht mehr der Jüngste) eben noch seine Berechtigung erworben, weiter am Straßenverkehr teilzunehmen. WOF, "Warrant of Fitness", zu Deutsch: TÜV. Ein zuverlässiges Auto, wie mein alter "Zwaarer-Golf" in Wien, wenn auch, im ozeanbesprühten Neuseeland, weniger Rost-resistent. Dafür ausreichend motorisiert, mit Automatik. Sprintstark, auch im voll beladenen Zustand. Zwei Bücherkisten, Küchenkram, Wäsche, Kleidung, Bettzeug, Elektronik, das Auto ist bis in jeden Winkel - gestopft.

Neben mir, auf dem Beifahrersitz eingeklemmt, befindet sich mein Bürostuhl, oder - was heißt Büro? Mein Stuhl für alle Gelegenheiten. Ich sitze gerne drauf, wenn ich drauf sitze, oder lese oder schreibe. Jetzt balanciert mein 250-US-Dollar "Desperado"-Hut (mit den nachgemachten Metall-Studs aus Plastik am Hutband) auf dem Stuhlbein, wie auf einer Hutablage. Man könnte meinen, es säße jemand neben mir. Der ewige Regen in Wellington hat die Hutkrempe aufgeweicht und überhaupt dem Hut jede Form genommen. Ein Stetson? Dass ich nicht lache.

Das Auto hat einen Kassettenspieler, und ich werfe die alten Kassetten ein, die schon seit Jahrzehnten um mich herumschwirren. Es ist die einzige Gelegenheit, die ich habe, sie überhaupt zu hören. Musik vom Wiener Sender FM-Fear aus den Jahren 2000 und 2001, die ich damals meiner Tochter geschickt hatte. Andere Aufnahmen aus den 90er Jahren, und sogar Kassetten aus den 80ern, mit ganz alten Sachen. Hier ein Interview auf "Anything Goes" vom SFB, mit dem Sänger der Escalators. Der Ärmste klingt angestrengt optimistisch, oder anders gesagt, eigentlich depressiv, weil seine Band es noch immer nicht, wie die Jungs von Interzone, nach ganz oben geschafft hat. Na was soll's. Der arme Pudelko ist indessen noch höher geflogen, er ist längst im Himmel angekommen, und ich fahre durch diese grau-grüne Landschaft, hinaus aus Wellington, und lausche dieser Single der Escalators, der ersten, die sie selber auf einem 8-Track-Gerät produziert und beim SFB abgemischt haben. Die Nummer heißt "I'm So Fragile", inspiriert von "Funky Town." Es bewahrheitet sich wieder einmal der alte Spruch. Was ist gut an diesem Gitarren-Solo? - Das Schlagzeug! Auf der anderen Seite der Kassette singt Nena: "Ganz oben, ganz oben, wo die Geister toben."

Unterwegs ein Stopp in Otaki. Eine gottverlassene Landschaft, der man offensichtlich aber auch nicht entfliehen kann. Das einzige Auto weit und breit steht auf Stelzen, ohne Räder, einsam in der schrundigen Botanik.

Wellington zu verlassen ist immer ein trauriger Event, weil danach erst mal lange Zeit nichts kommt. Es ist schwer, sich eine langweiligere Szenerie vorzustellen, als die Pampa nordwärts von Wellington. Die Farben chargieren zwischen grün, blau und grau, bunte Verkehrsschilder, winzige Abschnitte in der Art von Autobahnen, dann wieder Landstraße. Der Regen vermindert die Sicht. Wenn es nicht regnet, ist der Himmel trotzdem verhangen. Man fährt wie in einem Aquarium. Wenn man nicht selber dem Sekundenschlaf verfällt, tut es vielleicht ein anderer. Nach einer Stunde bin ich bereits komplett erschlagen. Ich mache einen Zehn-Minuten-Stopp in Otaki. Während ich Wasser trinke und eine Banane esse, tuckert eine alte Frau an mir vorüber, geht irgendwo hinein, kommt wieder raus, nickt mir zu, tuckert vorbei. Verschwindet. Und der Ort liegt da wie ausgestorben, eine Science-Fiction-Film-Kulisse in echt. Eine tiefe Melancholie erfasst mich. Zum Glück springt der Motor sofort wieder an.

Einige Zeit später sehe ich am Straßenrand eine ländliche Hochzeitsgesellschaft, die sich um zwei Oldtimer tummelt. Mich interessieren eigentlich nur die Autos, Ford, Dodge, oder Buick, circa 1940. Endlich verkrümeln sich die Gäste, feierlich gekleidet wie sie sind, in zwei schäbigen Hütten, die eine ländliche Armut signalisieren wie nur je auf einem Foto von Walker Evans aus der amerikanischen Great Depression. Das Ganze wirkt auf mich wie ein Film-Set. (Schon wieder.) Diesmal aber nicht "The Quiet Earth", sondern ein Kostümstück, angesiedelt in den 40er Jahren. Vielleicht ist es tatsächlich keine Hochzeit, sondern nur ein Film-Dreh, der auf sie dort drinnen wartet.

Ländliche Hochzeit mit Autos im Frack. Was die feierlich gekleideten Festgäste in den abgefuckten Hütten im Hintergrund zelebrieren wollten, war mir unerfindlich, aber mich interessierten ohnehin nur die automobilösen Oldtimer - keine Leihgabe, wie sich herausstellt, aus dem nahegelegenen Southward Car Museum in Paraparaumu.

Am späten Nachmittag treffe ich endlich in Palmerston North ein. Die Stadt ist bemerkenswert für den Fakt, dass sie ziemlich genau gegenüber von Madrid liegt. Der spanische König kam einmal her, um zu sehen, wie ein antipodisches Madrid wohl aussehen könnte. Es erwies sich, was nicht nur ihm auffiel, als ziemlich flach. Genauer gesagt, ziemlich lasch. Wie eine Flasche Bitzelwasser ohne Bitzel. In der Stadtmitte liegt das Square, mit dem charakteristischen Turmbau, der einst das höchste Gebäude der Stadt bildete.

Hier traf 1938 der Berliner Zahnarzt Kurt Gabriel ein, als das Gebäude noch im Bau war, und erwarb sich einen Satz Praxisräume mit genauen Maßen. Wieder in Berlin, ließ er Gerätschaften, die genau in diese Räume passten, in Kisten packen, ebenso den gesamten Haushalt. Als deutsche Juden konnten er und seine Frau, Hilde, keinerlei Geld mitnehmen. Sie würden also in Neuseeland nichts kaufen können. Alles, was sie einmal brauchen würden, mussten sie aus Berlin mitnehmen.

Die Zahnarztpraxis ließ sich gut an, und auch Hildes Kirschkuchen war ein Hit bei den Frauen der lokalen Geschäftsleute. Dann kam der Krieg, 1939, und die deutschen Flüchtlinge verwandelten sich, in den Augen der sie umgebenden Öffentlichkeit, in Nazi-Spione. In den nächsten sechs Jahren hatte Kurt kaum noch Patienten, und praktisch Null Einkommen. Stattdessen musste Familie Gabriel mit ständigen Denunziationen rechnen. Sogar Kurts Röntgengeräte in der Praxis und die Stehlampen im Wohnzimmer wurden von hämischen Nachbarn bei der Polizei als Spionagegeräte denunziert und mussten von Technikern des neuseeländischen Rundfunks auf ihre Sendefähigkeit untersucht werden. Hätten die Gabriels nicht absolut ALLES aus Berlin mitgebracht, wären sie im neuseeländischen Exil arm dran gewesen.

Hilde, Jahrgang 1912, die ich in den Achtzigerjahren ausführlich interviewt hatte, ist mittlerweile verstorben, aber es gibt hier noch ein paar andere alte Freunde. Rolf Panny gehört dazu. Als wir uns zufällig begegnen - (zufällig, weil ich mich in Ashurst, 20 Kilometer außerhalb von Palmerston, nicht mehr so ohne weiteres zurecht finde; zufällig, weil er mit seinem Auto direkt vor mir hielt; ein Ortsfremder im vollgepackten Auto? - das KONNTE ja nur ich sein!) - sieht er fast unverändert aus. Das letzte Mal sind wir uns vor 11 Jahren begegnet. "Rolf!", sage ich, "Altes Haus! Du siehst gut aus. Dabei musst du doch schon an die Achtzig sein!?" (Kleiner Scherz. Er ist 87.)

Ich fahre ihm nach zu einer Kneipe, die ein Deutscher vor Ort gebaut hat. Es gibt dort, zum Mitnehmen, echtes deutsches Essen. Würstel mit Senf, Kartoffelbrei, Sauerkraut. Und es ist lecker. Wir sitzen im Wohnzimmer, Rolfs Frau, Dell, eine Literaturwissenschaftlerin, hat einen Nachtisch aus Eierschaum mit Zitronengeschmack gebacken, dazu gibt es Kompott. Auch der Weißwein hat eine zarte Note. Unsere Gespräche drehen sich um Familie und Literatur, Bücher. Eine Bekannte, erzählt Rolf, hat ihre Autobiographie veröffentlicht, und darin die Menschen, die sie kennt, unter verschlüsselten Namen auftreten lassen. Er selbst, Rolf Panny, ist dort, völlig ohne jeden Sinnzusammenhang, als "Rolf Pankow" erschienen, ein anderer Prof der hiesigen Uni, Axel Viereck, als "Axel Fünfeck." Dies sind Menschen des öffentlichen Lebens, Germanisten mit ausführlichen Publikationslisten. Wozu die Verkleidung? Und diese alberne Witzigkeit! Ich frage: "Und das ist veröffentlicht worden?" - "Ja. Im Selbstverlag."

Rolfs eigene Memoiren - mit Lebensstationen in Hamburg, China, Berkeley, Palmerston North - ruhen derweil bei einem "richtigen" Verlag. Es tut sich wenig im hiesigen Verlagswesen, denn zur Zeit herrscht die Große Flaute. Es fehlt allerorten am nötigen Kleingeld. Trotzdem hat Dell erst unlängst wieder eine Studie über Carl Stead veröffentlicht, den großen alten Mann der neuseeländischen Literatur. Zugleich hat sie sich damit eine Menge Feinde geschaffen, denn Stead ist ein kontroverser Autor. Aber wie heißt es doch so schön? Viel Feind, viel Ehr. Ohne Kontroversen wär das Leben nur halb so spannend.

Blick vom Balkon des Gästehäuschens. Zitronenbaum gelb/grün, zwei Apfelbäume, und der Blick über den angrenzenden Acker ins weite Land. Dazu die rotierende Wäscheleine im "Spiders on Drugs"-Spinnweben Muster.

Hindemith, Wikinger und Regen

Ich übernachte im Gäste-Häuschen, das es noch nicht gab, als ich zuletzt hier war. Rolf hat es also, wenn ich nachrechne, gebaut, als er schon um die 80 war. Es ist selten, dass man einen Literaturprof trifft, der auch als Zimmermann etwas taugt. Noch seltener, dass er ein Meister seines Fachs ist. Auch das Haupthaus hat Rolf, in den Jahren davor, selber gebaut. Ich bewundere die saubere Arbeit am Holz, die schönen Kupfernägel, die gediegene Einrichtung. Es hat die lichte, luftige Offenheit amerikanischer Häuser, umgeben von Obstbäumen. Zitronen in Gelb und Grün, verschiedene Apfelsorten. Im Hintergrund Äcker und weites Land. Es ist eine der schönsten Wohnstätten, die ich kenne.

Irmgard Seefried, die bayerische Sopranistin, auf einer Decca-Klassik-Platte aus den Fünfzigerjahren mit geistlichen Motetten von Hindemith. Handgemachte Graphik mit kostbarem Silberdruck. Beim Mozart spielte ihr Gatte die Geige: Wolfgang Schneiderhan.

Im Gästehaus, neben dem Bett, ein Bücherregal mit gediegenem Lesestoff, Homer bis Friedrich Engels. Ich blättere die halbe Nacht durch ein Dutzend Bücher. Am Morgen entdecke ich, oben, neben der Küchen-Nische, das Puppenstuben-Wohnzimmer. Hier sitzt ein echter Plattenspieler, gedacht zum Abspielen von Schallplatten, statt zum Scratching. Darunter eine gediegene Klassik-Sammlung, lauter alte Vinyl-Scheiben aus den Fifties und Sixties. Ich entdecke eine Hindemith-Aufnahme, die mir unbekannt ist, und höre sie mir an, während ich meinen Frühstücks-Kaffee ("Espresso" aus der Stempelkanne) trinke.

Das Platten-Label erstrahlt in goldener Klassik-Qualität, sogar das schwarze Vinyl glänzt nach fast 60 Jahren noch völlig unzerkratzt. Welche Silberscheibe könnte DA wohl mithalten?

Kurze Zeit darauf bin ich wieder "on the road". Ich werfe die nächste Kassette ein. Mit "Mahagonny", Twen-Platte aus den Sechzigerjahren, eine Kurzversion der Brecht-Weill-Oper, ausgewählt von Hans Magnus Enzensberger.

Unt dr Haifiisch
Dr hat Zähneee
Unt die trägt eeer
Im Gesiiicht
Unt Mackheath deeer
Hat ein Messor
Doch das Messor
Sieht man niiicht.
Annem schönön Plauen Sonntaag
Liegt ein totor
Mann am Straaand
Unt ein Mänsch geeht
Um die Eck-kö
Den man Mack-kie
Messor neeennt.

Endet bei 48 Minuten mit dem Choral "Können einem toten Mann nicht helfen." Auf der Rückseite, eine langsame Wiener "Drei-Groschen-Oper". Amerikanische und deutsche Sänger und Sängerinnen, aber die Mackie Messer Ballade singt ein Wiener. Sehr gedehnt, sehr moritatenhaft.

Steak and Cheese-Pastete aus der chinesischen Bäckerei in Dannevirke, der Stadt mit dem Wikinger-Symbol. Der Regen lässt das ohnehin nicht aufregende Kaff in noch sang & klangloserer Tristesse versinken.

Dann bin ich auch schon in Dannevirke, einer Stadt, die von Dänen gegründet und besiedelt wurde, und deshalb den Besucher mit gehörnten Pappkameraden begrüßt. Es sind gigantische Laubsäge-Arbeiten, die "Wikinger" darstellen. Ich erwerbe in einer anheimelnd "dänisch" aussehenden Bäckerei einen Pie, eine Pastete, gefüllt mit Fleisch und Käse. Die Betreiber der Bäckerei, indessen, sind einheimische "Chinesen" - nicht mehr und kaum weniger "Dänen" als die übrigen Bewohner der Stadt.

Pinkelpause auf einem Zwischenstopp beim Bahnhof von Waipukurau. Das farbenfrohe "Espresso Loco" (oder "Verrückte Café") ersparte ich mir; trotz der bunten Blumenbänke dröhnt die Ortschaft industrielle Ödnis aus.

Dieses Dannevirke atmet eine gewisse Fadesse, auch im nächsten Kaff, Waipukurau, renke ich mir fast das Gesicht aus vor Gähnen. Ich fahre im Regen an Hastings und Napier vorbei, Städten, die einst von einem Erdbeben unter enormem Verlust von Menschenleben plattgewalzt wurden, und seitdem, seit ihrem Wiederaufbau, als Art Deco-Zentren Neuseelands gelten. Auch die kuriosen Wolkenformationen am Himmel dieser Städte sind berühmt. Aber bei dem unausgesetzten Geregne reizt mich keiner dieser Orte zum Verweilen. Erst nach Napier wird die Landschaft wieder interessant. Zerklüftete, merkwürdige Hügel, Tiere, die im Regen stehen. Ein Grand Canyon im Westentaschenformat. Und seltsam. Kaum noch Verkehr.

Regen, Regen, soweit das Auge reicht. "Lichtfahrer sind sichtbarer" - aber nicht alle fahren auch mit Licht.

Allmählich werde ich unruhig. Ich habe natürlich auf keine Karte geschaut. Der Tank ist nur noch Viertel voll. Und bis zu meiner nächsten Destination sind es 200 Kilometer. Da treffe ich, Glück muss der Mensch haben, mitten im Nirgendwo, in Tutira, auf den Tutira Store, einen Gemischtwarenladen - mit Benzinpumpe draußen vor der Tür. Hier tanke ich, um 15:01 Uhr, wie mein Kassenbon beweist, für 40 Dollar - und tatsächlich gibt es auf dem Rest der Strecke, bis nach Gisborne, keine zweite Tankstelle. Ich hätte also, wäre ich hier, in der Wildnis, stecken geblieben, schön dumm ausgesehen, denn am Sonntag kommt keine Rettung von der Automobile Association, und das Handy funktioniert hier ebenfalls nicht.

Zuweilen dramatische Hügelformationen und vermoderte alte Brücken unterbrechen die grüne Monotonie nur notdürftig. Hier gab es einst überall Urwald. Geblieben ist nur der Regen.

Die Strecke ist aber auch so schon ziemlich horrormäßig. Zunächst einmal gelingt es selbst dem spärlichen Verkehr offenbar jede Menge Possums totzufahren. Der Road Kill ist beträchtlich. Ständig erheben sich vor meinen Scheinwerfern große Flattermänner - Harriers, eine australische Falken-Art - die sich an den niedergemachten Fellträgern gütlich tun. Bei halber Dunkelheit fahre ich selber an einem kleinen Burschen vorbei, der am Straßenrand mit flehend vor den Augen erhobenen Pfoten steht, und zu rufen scheint, "Bitte, blende mich nicht!" Vielleicht wollte er auch sagen: "Bitte fahr nicht weiter!"

Wiener, Roadkill und Coffee Chic

Während Weezers Island in the Sun von einer FM-Fear Cassette an mir vorbeidüdelt, erinnere ich mich an einen Andreas aus Wien, der mir einst auf der Südinsel von Neuseeland begegnete. Ich fuhr als Beifahrer, also links, wo sonst das Steuer ist, mit einem Fotografen-Kollegen, an einem Radfahrer vorbei und rief ihm durchs offene Fenster zu, sich ran zu halten. Er strampelte gerade mühsam bergauf. Aus dem einzigen Diphthong, den er äußerte, erkannte ich natürlich den Wiener, und wir hielten an, um mit ihm zu quatschen. Dann bat ich ihn, sich für ein Foto mit seinem Rad hinzustellen. Nein, noch einen Schritt weiter zurück. Und schon trat er auf ein sklerotisiertes Possum. Ich sagte: "Hearst, des is makaber. Do liegt ja a Kadaver. Wer is'n des? Kennst du den?" Und er antwortete: "Naaa- bei dem zerschnitt'nen G'sicht kann i des net sehn." (Nicht-Wienern zur Erklärung: Es handelt sich dabei um ein Spontan-Zitat aus "Da Hofa" von Wolfgang Ambros, einem Austro-Pop-Klassiker. Selten fand ich populäre Kultur so rasch so nützlich, und so zu Herzen gehend.)

Hier, in der grau-blauen Vampirlandschaft vor Gisborne, kommt allerdings keine Stimmung auf, höchstens Beklemmung. Und dann klemmt sich tatsächlich, bei 80 Km/h, auf gewundenen Serpentinen, plötzlich ein wolfsgesichtiger Sattelschlepper an meinen automobilösen Hintern. Fünf Meter hinter mir fährt er, Tempo 80, 90, 100, wieder 80, er lässt sich nicht abschütteln. Ich fühle mich an den ersten Film von Steven Spielberg erinnert, (Duel, 1971) wo ein bösartiger Truck einen armen Teufel zur Hölle jagen will. Endlich sehe ich eine kleine Ausweichparzelle neben der Straße, biege seitwärts ab und bremse mit 80 Sachen auf engstem Raum, während der Riese mit lautem BAAAAAHHHHP an mir vorbeidonnert. Hinten drauf geladen ein überdimensionaler Container mit der gigantischen Aufschrift HAMBURG-SÜD. Drecksau, schimpfe ich hinter ihm her.

Gisborne in Blau. Gisborne ist der "Planet Pluto" der neuseeländischen Städte, eine Welt für sich. Trotzdem. Gäbe es da nicht ein wenig Blau in der Landschaft, das Auge würde glatt daran abgleiten.

Als ich in Gisborne eintreffe, bin ich ziemlich bedient. Diese Stadt ist so etwas wie der Planet Pluto unseres Sonnensystems, gerade groß genug, um als eigener Planet zu gelten, und zugleich der größte in seinem - sehr abgelegenen - Winkel. Was nichts daran ändert, dass Gisborne trotzdem ein trauriges Kaff ist, und an der Stadteinfahrt fährt man endlos an Motels vorbei, die alle "Vacancies" aufweisen, weil natürlich kein Mensch, der noch ein bisschen bei Verstand ist, jemals in dieser Gegend Station macht. Die Straße, auf der ich hier hereinschneie, ist einfach nur grau, aber irgendein Zufall hat ein paar massive BLAU-Akzente hinein gepflanzt. Das ist schön, und ich mache ein paar Fotos davon, tanke noch einmal, dann bin ich auch schon wieder weg. Durch die immer dunkler werdende Nacht mit ihren unfasslich hellen Sternen fahre ich nach Opotiki, dann weiter nach Whakatane.

Hier habe ich einst als Reporter des Lokalblatts gearbeitet. Ich finde mich auch nach 35 Jahren noch bei nächtlicher Sparbeleuchtung fast mühelos zurecht. Um Mitternacht geselle ich mich zu den Fahrzeugen der PflegerInnen auf dem Parkplatz vorm städtischen Krankenhaus, lege den Sitz zurück, ziehe ein Kopfkissen und den Schlafsack hervor, setze mir eine Mütze und den Hut auf und verbringe eine geruhsame Nacht. Am nächsten Morgen benutze ich das Klo der Notaufnahme, und suche mir dann eine Frühstücks-Klause. Es muss natürlich McDonald's sein, denn um 7 Uhr früh ist sonst noch nichts auf. Das McCafé hat allerdings 24 Stunden lang, rund um die Uhr geöffnet. "Gibt's denn hier überhaupt genug Leute, um so ein Lokal 24 Stunden lang offen zu halten?" frage ich die freundliche junge Frau an der Theke. "Sieht ganz so aus", sagt sie. Und das scheint sie auch zu freuen. Ich bestelle mir daraufhin ohne weitere Zwischenfragen ein "Großartiges Kiwi-Frühstück". (Anmerkung: Es heißt so.) (Weitere Anmerkung: "Kiwis" sind die Neuseeländer selber, nicht etwa die Kiwi-Früchte. Die gibt es hier nicht zum Frühstück. Ein richtiges Neuseeland-Frühstück besteht aus gebratenen Eiern, Bratwürsten, Bratkartoffeln, gebratenen Pilzen, Tomaten, möglicherweise Bohnen mit Ketchup, Speck, und etlichen Scheiben Toast, und dazu Tee oder Kaffee. Bei McD's gibt's so was natürlich nur in der Diminutiv-Version.)

McDonald's in Whakatane, 24 Stunden geöffnet.

Kurz darauf, es ist ungefähr Halbacht, fahre ich an einem Wagen vorbei, der die Aufschrift "Coffee Chic" trägt. Eine junge Frau serviert dort mit einer Espresso-Maschine Kaffee am Straßenrand. Ich frage mich, ob das ihr eigenes Geschäft ist, und ob sie sich als "schicke Kaffee-Verkäuferin" anpreist, oder als "Kaffee-Mädel." Das Wort "Chick" als Bezeichnung für eine junge Frau war zeitweilig außer Mode gekommen. Ich mache also eine Kehrtwendung, bestelle mir einen Kaffee, schwarz, und frage sie persönlich. Sie heißt Stevie-Lee, und es ist nicht ihr eigenes Business. Sie ist nur eine Angestellte. Ja, sagt sie, der eine ihrer beiden Chefs denkt bei dem Wort "chic" wohl eher an "elegant", der andere dagegen an "Mädel". Vier solche Wagen sind unterwegs, an manchen Morgenden verkauft sie an die 40 Tassen, bei manchen anderen Anlässen auch schon über Tausend. Ich denke bei solchen Jobs gewöhnlich daran, wie und wo man wohl mal eine kleine Pause machen kann, wenn man mal "muss"? Vor allem wenn der Morgen kalt, nass und unfreundlich ist? Aber das diskutieren wir heute nicht.

Den fahrbaren Kaffee vom "Coffee Chic" liefert Stevie-Lee bereits in aller Frühe. An manchen Morgenden bis zu 40 Tassen, bei besonderen Anlässen können es auch über Tausend sein.

Und der Morgen ist auch nicht nass, kalt und unfreundlich. Im Gegenteil. Von Whakatane bis Tauranga strahlender Sonnenschein, eine wahrhaft schöne Strecke, fast durchgängig am Meer entlang. Daneben, noch näher am Strand, führt auch die Bahn ihre Schienen. Das Wort "Reissverschlussverkehr", im Deutschen üblich in der Form, "dreisträngig, geht in eins", gab es hier, wie mir auffällt, bislang noch nicht. "MERGE like a ZIP" steht auf Verkehrstafeln, das Konzept wird den Fahrern eben erst beigebracht. Dafür gibt es hier den Verteilerkreis - gerade auch in Whakatane - wo ein Stadtplaner diese Verkehrsrondells wohl aus lauter Daffke alle 100 Meter neu hingepflanzt hat.

Wild ausschlagender Mais am Rand eines Maisfeldes. Auf dem Baum daneben wachsen Dinger, die aussehen wie Maiskolben aus einem jahrtausendealten Inkagrab; es sind aber nur eine Art vertrocknete Tannenzapfen ...

Und schließlich erreiche ich Tauranga, das Ziel meiner Reise. Ein Simpsons-Himmel, blau mit weißen Wölkchen, die sich bald verziehen. Blau von einem Ende bis zum andern. Angenehme Wärme um 25 Grad. Raffinerien, ein Bootshafen mit einem veritablen Wald an Segelmasten. Und auch der Kommerzhafen dieser 100.000-Seelen Kommune ist umschlagskräftiger als der von Auckland, der 2-Millionen-Metropole. Stadtautobahnen stürzen wie Wasserfälle aus allen Richtungen zum Zentrum. Wie in einer amerikanischen Großstadt sind die Avenuen nummeriert statt benamt. Witzige kleine Stadt.

Die feineren Nuancen der Zivilisation, Zähneputzen am Straßenrand in Tauranga. Die rotglühende Zahnpasta mit Sassaparillo-Geschmack darf eigentlich nicht in den Gulli, denn das Abwasser hier fließt ziemlich direkt ins Meer...

Und ich treffe bei guten alten Freunden ein, die mich für einige Tage beherbergen werden. Auch ihr Haus hat die luftige, licht-durchflutete Offenheit amerikanischer Häuser. Das Ganze gebaut aus Holz. Wir sitzen auf der Terrasse, diskutieren das Erdbeben von Christchurch, diskutieren das Erdbeben von 1987, als Tauranga und die ganze Umgebung längere Zeit immer wieder schwer erschüttert wurde. Wie man damals alle schweren Gegenstände, die einem auf den Kopf hätten fallen können, auf dem Fußboden ausbreitete. Wie man Mühe hatte, bei den heftigen Bewegtheiten der Erde, aufrecht zu stehen, ohne sich irgendwo festzuhalten.

Ein zauberhafter Garten in Tauranga, mit feuerroten chilenischen Fuchsien, gigantischen Basilikum-Pflanzen, Feijoas, eine Guavenart, (milden) "Damen-Pepperoni", gigantischen Bananen-Stauden mit extraterrestrischen Blütengehängen und, nicht zuletzt, Passionsfrüchten, einem alles überwuchernden Lianengewächs.

In den nächsten Tagen, und nun ist es hier schon Herbst, aber jeder Tag ist warm und sonnig, genieße ich den Garten mit seinen schon lädierten aber immer noch strahlenden Rosen, mit seinen unzähligen Obstbäumen, mit den gigantischen Bananenstauden, deren Biologie rätselhaft und faszinierend ist, mit seinem duftenden Rauch verbrannter Gartenabfälle - und mit seinen Schmetterlingen. Große, rot oder orangenfarben gemusterte Monarchs segeln - sie flattern nicht, sie segeln - um die Milkweed-Sträucher herum, deren giftige Blätter ihnen Nahrung und Schutz vor dem Gefressenwerden bieten. Freilich nicht vor den Wespen, die ihnen in jeder Phase nachstellen, die ihnen auch im Raupenstadium durch den harten Chitin-Panzer ein Loch bohren und ihre lebendige Biomasse aussaugen. Gerade in diesem Verpuppungszustand sehen die Monarchen besonders "schmuck" aus, als wären sie Gehänge aus Jade und Gold, die, an einem Goldkettchen, um den Hals einer Frau getragen werden wollten. Und ich beobachte das Schauspiel der "Wiedergeburt", als der voll entwickelte Schmetterling sich aus seiner Brutkiste befreit, die großen, schlaffen Flügel eine Stunde lang abtropfen lässt - ist es Fett, das aus ihnen entweicht? - und sie dann allmählich aufbläht und plötzlich - als wäre das alles gar nichts Neues für ihn, ein Experte der Flugkunst - in diesem Garten Eden seine Kreise zieht.

Ein kleiner Garten-Elefant aus Zinn, bzw aus Thailand, der hier vermutlich über die Wohlgerüche wacht. Beim Verbrennen der Abfälle entsteht jedenfalls ein deutliches Aroma von Ganesh-Beedies. Weiter: Puppe des Monarch-Schmetterlings und ein frisch geschlüpfter Monarch Schmetterling

Meine Neuseeland Road Show (29 Bilder)

Unterwegs ein Stopp in Otaki. Eine gottverlassene Landschaft, der man offensichtlich aber auch nicht entfliehen kann. Das einzige Auto weit und breit steht auf Stelzen, ohne Räder, einsam in der schrundigen Botanik.

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