Meinungskampf und Abgrenzung: Wie der Israel-Gaza-Krieg die Vielfalt einschränkt

Historische Schuld und der Wunsch, sie zu delegieren, machen die Auseinandersetzung nicht leichter. (Pro-Palästina-Demonstrant in Berlin.) Foto: Montecruz Foto / CC-BY-SA-3.0

Nichts ist mehr "richtig": Wie Meinungsbildung gedeckelt wird, zeigt sich beim Israel-Gaza-Krieg. Über ein Friedensfest mit Hindernissen. Ein Kommentar.

Die falsche Meinung zu haben, grenzt in der Wahrnehmung vieler Menschen an ein gedankliches Kriegsverbrechen. Aber was ist die richtige Meinung? Die Diskursräume werden enger, die Debatten absurder. Verdienen sie überhaupt noch den Namen?

Am Beispiel der ins Gerede gekommenen Kölner Initiative "Arsch huh, Zäng ussenander" (frei übersetzt: "Hintern hoch und Mund aufmachen") erhält die Frage neuen Zündstoff.

Die Initiative bezeichnet sich selbst als "Deutschlands langlebigste Musiker- und Künstlerinitiative gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit"; im vorigen Jahr wurde das 30-jährige Bestehen gefeiert.

"Give Peace a Chance"

Das Aktivnetzwerk hatte für den 3. Dezember unter dem Motto "Give Peace a Chance" zu einer Friedenskundgebung in Köln aufgerufen. Der Aufruf – genauer: eine Formulierung darin - erwies sich als Stein des Anstoßes. Im Arsch-huh-Text liest sich das so:

Am 7. Oktober verübte die Hamas ein Massaker an über 1200 israelischen Bürgern und nahm 220 Israelis als Geiseln. In dem darauf folgenden Krieg wurden nach Angaben der Gesundheitsbehörde in Gaza, die unter anderem vom amerikanischen Außenministerium für glaubwürdig gehalten werden, bisher über 13.000 Palästinenser getötet, davon 5.500 Kinder (Stand 19.11.23).

Wir trauern um die israelischen genauso wie um die palästinensischen Opfer und möchten mit unserer Kundgebung ein Zeichen der Solidarität mit beiden Völkern setzen. Weder kann Krieg für Sicherheit sorgen noch Terror für Befreiung. Notwendig ist eine Friedenslösung auf der Grundlage des Existenzrechts beider Nationen.

Aus dem Aufruf zur Friedenskundgebung

Das war offenbar zuviel für einige. Der Vorsitzende der Synagogen-Gemeinde Köln und Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, zog die Zusage zur Teilnahme zurück, nachdem er eine unzulässige Gleichsetzung der beiden Kriegsparteien erkannt zu haben glaubte. Der Kölner Stadt-Anzeiger erblickte umgehend moralische Defizite beim Veranstalter, sprach ihm die früheren Qualitäten ab.

Das Medienhaus DuMont war 2006 mit 25 Millionen bei er israelischen Haaretz-Gruppe eingestiegen, inzwischen sind die Anteile aber wieder verkauft.

Friedensfest mit Hindernissen

Die aufgebrachte Stimmung schwappte über den Kölner Klüngel hinaus und ließ letztendlich kein ungetrübtes Friedensfest mehr zu. Und auch kein großes mehr: Mit mehreren tausend Besuchern war üblicherweise bei Arsch-huh-Veranstaltungen zu rechnen. Tatsächlich kamen am vergangenen Sonntag nur rund 700 Menschen zum Aachener Weiher in der Kölner Innenstadt. Abraham Lehrer wurde bundesweit in Medien zitiert. Er meinte:

Hier wird der Terror der Hamas mit dem Verteidigungskrieg Israels gleichgesetzt (…) Israel kämpft gegen eine Terrororganisation und bis diese nicht vernichtet ist, wird es keinen Frieden im Nahen Osten geben.

Abraham Lehrer, Vorsitzender der Synagogen-Gemeinde Köln, begründet seine Absage

Die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG Köln) sah sich genötigt, den Einsatz Israels ostentativ noch einmal für legitim zu erklären und sprach von einem "besonnenen, verhältnismäßigen, gerechten und begründeten Krieg gegen die Hamas und den Islamischen Jihad". https://www.report-k.de/abraham-lehrer-sagt-teilnahme-an-arsch-huh-friedenskundgebung-ab/

Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, war ebenfalls eingeladen. Er schloss in einer eigenen Erklärung betont jede religiöse Komponente aus dem Zwist aus, es handle sich um eine politische Auseinandersetzung.

Das Problem: In Wahrheit hört das Problem soeben offensichtlich auf, ein "nur" politisches zu sein; die zu beobachtende Verabsolutierung des Staates, die Zulässigkeit aller Mittel zur Erreichung der angestrebten Ziele fordern eine moralische Rechtfertigung.

"Starke Emotionalisierung"

Die erfolgt gerne staatstragend (siehe oben), aber damit ist die Crux nicht aus dem Weg. Weltweit schrumpfen die Diskursräume, weil die Angst, etwas Falsches zu sagen, die freie Meinungsäußerung hemmt. Das kam auch am 6. Dezember in der Sendung bei Markus Lanz zur Sprache, wo der Cambridge-Professor und Bestsellerautor Christopher Clark zu Gast war.

Christopher Clark äußerte sich über die Situation in Cambridge, wo er unterrichtet, aber auch über die Debatte, wie sie in den USA geführt werde. Er beobachte die starke Emotionalisierung, sagt er und spricht geradewegs von einer "Inszenierung" durch die Hamas. Bei seinen Studenten verursache die kriegerische Konfrontation große Verunsicherung. Clark weiter:

In Cambridge haben die Studenten zum Teil Angst, sich überhaupt zum Thema zu äußern, weil sie befürchten, sie werden angegriffen, wenn sie das Falsche sagen. Man steht unter Druck, sich richtig zu positionieren - aber was ist denn die richtige Position? (…) Es ist ein ständiges Vorwerfen und ein Hin und Her, auch unter den Gelehrten.

Christopher Clark, Historiker und Autor, am 6. Dezember bei Markus Lanz

Kein "gerechter Zorn" mehr

Was in Gaza geschieht, führt ein nihilistisch anmutendes Extrem vor Augen. Wir erleben eine Demonstration der Sackgasse. Die Rechtfertigung des Staates, auf Seiten Israels auch der Demokratie und damit verbundener Ansprüche, nimmt Schaden; von "gerechtem Zorn" kann da keine Rede mehr sein.

Die angewandten Mittel und der offiziell ausgegebene Zweck (Recht auf Selbstverteidigung, dauerhafter Frieden nur durch Auslöschung der Hamas) werden live als Spektakulum des Todes aufgeführt.

Umgekehrt, die Terrororganisation Hamas mit ihrer blindwütigen Aktion, die Clark als "Inszenierung" bezeichnet, diskreditiert sich in deklamatorischer Endgültigkeit durch die verübten Grausamkeiten vor aller Welt - und beweist zudem ein beachtliches Maß an Finalismus, was das Leben der großteils anonym bleibenden Milizionäre selbst angeht.

Ein Gefühl bleibt, trotz aller Erklärungen, Statements, Platzierungen: Nichts scheint mehr "richtig", eben im Sinne einer "richtigen Position". Der französische Bestseller- und Skandalautor Michel Houellebecq sprach in einem anderen Zusammenhang einmal von einer um sich greifenden feigen politischen Korrektheit.

Hoffentlich landen wir nicht in dieser Falle.