Methusalem-Reaktoren

Die Energie- und Klimawochenschau: Von weltweiten Protesten und uralten Reaktoren, von laxer Atomaufsicht und billigem Gas sowie von optimalen Speichern und neuen Stadtwerken

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Pünktlich zum Jahrestag der Fukushima-Katastrophe fantasiert die Welt eine Renaissance der Atomkraft herbei, die Deutschland verpassen würde. Kaum eine Reaktion auf die dreifache Kernschmelze habe es in den anderen 30 Atomstaaten gegeben. Wobei beim Springerblatt offensichtlich nur die Entscheidungen von Konzernzentralen als nennenswerte Reaktionen gelten.

Eine fast 95-prozentige Mehrheit in einem Referendum, mit dem sich das italienische Wahlvolk im Sommer 2011 gegen den Bau neuer Atomkraftwerke aussprach, zählt ebenso wenig wie die 200.000 Taiwaner, die am Samstag im ganzen Land für die Stilllegung der drei auf der Insel betriebenen und gegen den Bau eines weiteren AKW demonstrierten.

Demonstrationen gegen die Atomkraftnutzung gab es am Wochenende und am Montag wie berichtet in Japan und Deutschland, in Indien, in Großbritannien, in Frankreich - 20.000 nahmen an Protesten in Paris teil -, auf Sri Lanka, in der Türkei und einer ganzen Reihe weiterer Länder. Atomkraft ist zwei Jahre nach Fukushima bei vielen Menschen rund um den Globus und oft bei der Mehrheit der Betroffenen unbeliebter denn je.

Alt- und Uraltreaktoren

Zusätzliches Misstrauen schafft das zunehmende Alter der Reaktor-Flotte. Inzwischen laufen weltweit bereits 45 Reaktor 40 Jahre oder noch länger. In den nächsten Jahren wird sich die Zahl dieser Methusalem-Reaktoren rasch vergrößern, und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass Materialermüdung und andere Alterserscheinungen zu schwerwiegenden Reaktor-Unfällen führen.

103 der Alt- und Uraltreaktoren stehen in den USA. Dort hat dieser Tage die Union of Concerned Scientists (UCS) der Nuclear Regulatory Commission (NRC), also der nationalen Atom-Aufsichtsbehörde, bescheinigt, dass ihr Sicherheitsnetz Löcher aufweist.

2012 hat es in US-Atomkraftwerken nach Zählung des NRC 12 sogenannte "near misses" gegeben, heißt es im oben verlinkten Bericht. Gemeint sind damit Ereignisse, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze um mindestens den Faktor zehn erhöht wird. In den vergangenen drei Jahren, so die UCS, habe es in 40 Reaktoren 56 derartiger Ereignisse gegeben. Die UCS geht davon aus, dass in den seltensten Fällen zu laxe Regeln das Problem gewesen sind, sondern dass vermutlich die Verletzung derselben und vor allem eine zu wenig strenge Aufsicht des NRC dafür verantwortlich waren. Es gebe eine schlechte Sicherheitskultur.

Boom und Blase

Ein kleiner Trost ist da, dass auch jenseits des Atlantiks von einem "Atomkraft-Boom" nicht die Rede sein kann. Jedenfalls kann die Washington Post keinen ausmachen. Nur fünf Reaktoren seien dort im Bau, mindestens ebenso viele müssten in den nächsten Jahren stillgelegt werden ( über die Verzögerungen auf den dortigen Baustellen haben wir bereits in der Link auf www.heise.de/tp/artikel/38/38698/1.html berichtet).

Gerade hätte die NRC einem französischen Unternehmen - gemeint ist offensichtlich Areva - die Baugenehmigung für einen Referenzreaktor im Bundesstaat Maryland verweigert. Außerdem würden einige Betreiber ihre Meiler trotz weiter laufender Betriebsgenehmigungen schließen, weil sie nicht mit den in den USA sehr günstig operierenden Gaskraftwerken konkurrieren können.

Die Frage ist natürlich, was passiert, wenn der US-amerikanische Erdgasboom vielleicht schon bald wieder zusammenbricht, wie es einige Beobachter bereits unken (Fracking: Auf zu neuen (Fall-)Höhen?). Ob dann schnell genug andere Kraftwerke zur Verfügung stehen? Aber vielleicht triggert ein Platzen der Gasblase ja auch ein ebensolches der Kreditblase und dann wäre der Energiebedarf krisenbedingt fürs erste ohnehin deutlich niedriger.

Was sind die richtigen Speicher?

Auch in den USA sind die Erneuerbaren jedenfalls auf dem Vormarsch. Nicht zuletzt die Windenergie hat wieder halbwegs passable Aussichten, da im Februar die Steueranreize endlich verlängert wurden. Und mit dem weiteren Preisverfall bei den Solaranlagen dürfte in den vielen sonnenreichen Regionen im Südwesten der USA demnächst der große Durchbruch kommen.

Damit wird sich auch dort langfristig das Problem stellen, wie sich unstetig anfallender Sonnen- und Windstrom möglichst effektiv speichern lassen. Eine jüngst von der Stanford-Universität in den USA veröffentlichte Studie hat die energetischen Aspekte verschiedener möglicher Lösungen verglichen. Dabei kam heraus, dass Batterien und Akkus bisher eine denkbar schlechte Variante darstellen. Ein Blei-Akku kann lediglich über seine ganze Lebensdauer das Doppelte der Energiemenge speichern, die für seine Herstellung nötig ist. Lithium-Ionen-Akkus sind besser aber längst nicht gut genug. Sie bringen es auf den Faktor zehn. Ein Pumpspeicherwerk erreicht hingegen den Faktor 210 und Druckluftspeicher können gar über eine Periode von 30 Jahren 240 mal so viel Energie speichern, wie zu ihrer Herstellung benötigt wurde.

Noch kommen die USA und auch Deutschland ganz gut ohne zusätzliche Speicher aus, aber ab einem Anteil der Erneuerbaren von rund 40 Prozent wird der Bedarf akut. Hierzulande dürfte dies in spätestens zehn Jahren der Fall sein.

Zeit also, in die Hände zu spucken, statt die Energiewende zu chaotisieren, wie es Merkels Minister-Duo Philipp Rösler und Peter Altmaier gerade versuchen, oder die Öffentlichkeit mit Desinformationskampagnen in die Irre zu leiten, was offensichtlich das Bestreben von Beiträgen wie dem eingangs erwähnten Welt-Artikel ist.

Doch wie es aussieht, versagen die hiesigen Eliten vor der historischen Herausforderung. Während die Atomkraft wegen der ihr innewohnenden Gefahren desavouiert ist und die fossilen Energieträger sich aufgrund ihrer Endlichkeit verknappen, fällt der Bundesregierung, den Energiekonzernen und weiten Teilen der Industrie nichts anderes ein, als am Bestehenden festzuhalten, es mit Händen und Klauen zu verteidigen. Statt den notwendigen großen technologischen Übergang, vergleichbar mit der Verbreitung der Dampfmaschinen, des Kunstdüngers oder der Benzin- und Dieselmotoren, schnellstmöglich auf den Weg zu bringen, wird gebremst, getrickst und getäuscht.

Das hat sicherlich viel mit konservativer geistiger Trägheit zu tun, der Vorliebe zum Verharren in Verhältnissen, in denen man es sich ganz gut eingerichtet hat. Aber bei manchem geht es auch ganz handfest ums materielle Interesse. Die Stromkonzerne wollen aus ihren alten abgeschriebenen Anlagen einfach solange und so viel wie möglich herausholen. Und den Erdölkonzernen winken gar in Zeiten, in denen einerseits die Abhängigkeit von Benzin und Diesel auf dem heutigen Niveau verharrt, andererseits aber aufgrund der beginnenden Knappheit die Nachfrage nach dem Treibstoff größer als das Angebot ist, traumhafte Gewinne.

Guter Start

Ein Grund mehr, die Energieversorgung, also das Rückgrat der modernen Industriegesellschaft, demokratischer öffentlicher Kontrolle zu unterwerfen. Ganz so, wie es diverse Initiativen in verschiedenen Städten und Landkreisen anstreben.

Zum Beispiel in Berlin, wo kürzlich ein Energie-Volksbegehren anlief und einen guten Start hinlegte: 20.000 Unterschriften sind nach einem Monat bereits zusammen, berichtet die Tageszeitung Neues Deutschland. Bis 10. Juni werden 170.000 gültige Unterschriften gebraucht. Die Organisatoren haben daher 200.000 als Ziel ausgegeben. Erfahrungsgemäß werden nicht alle Unterschriften von den zuständigen Behörden als rechtmäßig anerkannt.

Sollten die notwendigen Unterschriften zusammen kommen, können die Berliner vermutlich schon parallel zur Bundestagswahl am 22. September darüber abstimmen, ob in der Bundeshauptstadt ein öffentlich-rechtliches Stadtwerk und eine ebensolche Netzgesellschaft gegründet werden sollen. Ziel des Gesetzesinitiative ist es, die Stromversorgung der Stadt demokratisch zu kontrollieren, sozial zu gestalten und auf erneuerbare Umzustellen. In einem ersten Schritt soll dafür Vattenfall das örtliche Netz abgenommen werden, wenn zum 31.12. 2014 der Konzessionsvertrag ausläuft. In Hamburg ist eine ähnliche Initiative schon einen Schritt weiter und hat die nötigen Unterschriften bereits zusammen (First we take Berlin: Wie Bürger die Stromnetze in den Großstädten übernehmen).