"Militär schafft keine Lösungen – weder in Nigeria noch in der Ukraine"

Bischof Kukah. Bild: privat

Militär löst keine Konflikte, sagt Bischof Kukah. In Nigeria wie der Ukraine braucht es Dialog statt Gewalt. Doch was macht Frieden so schwierig?

Bischof Matthew Hassan Kukah ist ein Superstar in Nigeria. Im bevölkerungsreichsten und konfliktgeladenen afrikanischen Land hat der Friedensdiplomat und Mediator ungezählten Menschen das Leben gerettet. Im Interview spricht er über die Grenzen militärischer Einsätze, komplexe Friedensprozesse und die besondere Verantwortung von religiösen Führern.

▶ Bischof Kukah, Sie sind seit vielen Jahren in den Scharia-Staaten Nordnigerias im Amt, einer Region, die von starken Spannungen geprägt ist. Sie arbeiten aktiv in der Konfliktlösung und in Friedensprozessen, haben bspw. federführend auch zum Ende des Krieges der Ogoni gegen den Shell-Konzern im Niger-Delta beigetragen. Was können internationale Akteure von Ihren Erfahrungen in Nigeria lernen?

Matthew Hassan Kukah: Als Bischof in einer Region wie Nordnigeria, wo es Spannungen zwischen Christen und Muslimen, große Unterschiede zwischen Arm und Reich und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Militär und bewaffneten Gruppen gibt, habe ich gelernt, wie entscheidend Dialog und gegenseitiges Verständnis für den Frieden sind.

In den Scharia-Staaten Nordnigerias stehen wir vor tief verwurzelten Konflikten. Solche Spannungen können nicht durch Gewalt gelöst werden. Der einzige nachhaltige Weg zu Frieden führt über den Dialog, der die Geschichte und die Wunden, die oft den Kern der Konflikte bilden, anerkennen muss. Echter Dialog, der auf Frieden abzielt, muss bereit sein, alle Seiten anzuhören und die Ängste und Bedürfnisse aller Beteiligten ernsthaft anzugehen. Dies gilt für lokale Konflikte in Nigeria genauso wie weltweit.

Um zu verstehen, warum bspw. die Gewalt in Nordnigeria anhält, braucht es das Wissen um das muslimische Kalifat des 19. Jahrhunderts, das hier bestand. Es gibt hier große Ängste vor dem Westen und dem Christentum.

▶ In Nigeria wird in Konflikten oft Militär eingesetzt. Wie bewerten Sie diesen Ansatz?

Matthew Hassan Kukah: Das Militär kann ein vorübergehendes Gefühl von Sicherheit schaffen und extreme Situationen stabilisieren, aber es löst nicht die zugrunde liegenden Probleme. Gewalt, Gegengewalt und Repression können keine Grundlage für langfristigen Frieden sein. Stattdessen vertiefen sie die Gräben zwischen den Konfliktparteien und zerstören den Raum, der für Dialog und Versöhnung nötig ist.

Die Militarisierung von Gemeinschaften und die damit einhergehende Verbreitung von Hass und Feindseligkeit sind Gift für die Menschheit. Diese Dynamiken gehen oft Hand in Hand mit Profitstreben und gesteuerter Spaltung. Letzteres sollte in Diskussionen über Militarisierung, Aufrüstung und die Eskalation von Stellvertreterkriegen viel stärker beachtet werden. Militärische Präsenz vertieft oft Gewalt, da den Militärs der Geist des Konsenses und des Dialogs fehlt, der gerade für ein so komplexes Land wie Nigeria zentral ist.

Aber dieses Problem ist nicht auf Nigeria oder die kriegsgebeutelten Regionen Afrikas beschränkt, sondern betrifft, wie wir leider jetzt in der Ukraine sehen, auch immer wieder Europa. Auch hier ist der Bedarf an umfangreichen diplomatischen Bemühungen, um einen Weg zum Frieden zu finden, von größter Bedeutung.

▶ Der Krieg in der Ukraine hat sich seit 2014 verschärft und zeigt, wie internationale Mechanismen versagen können. Hätte eine intensivere Friedensdiplomatie diesen Konflikt eindämmen können?

Matthew Hassan Kukah: Der Krieg in der Ukraine ist ein tragisches Beispiel dafür, wie Konflikte eskalieren, wenn diplomatische Bemühungen und Friedensinitiativen zu spät kommen oder scheitern. Seit 2014 hätte viel mehr in Vermittlung und diplomatische Lösungen investiert werden müssen.

Stattdessen hat die massive Militarisierung den Konflikt verschärft. In Nordnigeria haben wir ähnliche Muster gesehen: Wenn der Dialog vernachlässigt wird, bricht oft Gewalt aus, weil Kompromisse blockiert werden.

Je länger die Gewalt anhält, desto schwieriger wird es, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Kirchen sollten weder von der einen noch von der anderen Konfliktseite politisiert werden oder sich politisieren lassen, noch sollten Kirchenführer in Konfliktsituationen parteiisch sein. Sie sollten vielmehr als Brückenbauer und Vermittler arbeiten. Das Gebot "Du sollst nicht töten" lässt für uns keinen Zweifel.

▶ Das Verhältnis zwischen Afrika und dem Westen war historisch von Gewalt geprägt. Spielt dies heute noch eine Rolle in den internationalen Beziehungen?

Matthew Hassan Kukah: Afrika hat eine lange Geschichte brutaler Ausbeutung durch den Westen. Von der Sklaverei und dem Kolonialismus über den Kalten Krieg bis hin zur anhaltenden Ausbeutung natürlicher Ressourcen – all dies hat tiefe Narben hinterlassen. Und ja, diese Geschichte beeinflusst Afrikas Beziehung zum Westen heute noch stark, oft implizit.

Viele afrikanische Länder folgen nicht einfach unkritisch den Erzählungen des Westens. Der Krieg in der Ukraine wird in Afrika zum Beispiel oft als Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland betrachtet, nicht als Kampf um "Freiheit und Demokratie". Für die Friedensdiplomatie bedeutet das, dass der Westen sehr vorsichtig vorgehen muss, um nicht als Teil des Problems angesehen zu werden. Afrikaner stehen westlichen Interventionen zunehmend misstrauisch gegenüber, besonders wenn sie militärischer Natur sind.

Was Afrika und der Globale Süden brauchen, sind echte Partnerschaften, die auf Respekt, Gerechtigkeit und gegenseitigem Nutzen basieren, nicht auf Ausbeutung, Doppelstandards und geopolitischen Spielen. So hat die Rolle der USA im Nahen und Mittleren Osten diese Region komplett destabilisiert, und wir in Nigeria und in Afrika, sind darüber auch frustriert, weil das auch bei uns zum Erstarken fanatischer islamischer Gruppen geführt hat. Boko Haram beruft sich bspw. auch auf Al-Qaida und ISIS.

▶ Sie haben oft eine Schlüsselrolle in Friedensprozessen in Nigeria gespielt. Welche Rolle könnten zivile Führer und religiöse Persönlichkeiten international bei der Friedensförderung spielen?

Matthew Hassan Kukah: Religiöse Führer haben eine besondere Verantwortung, Brücken zu bauen und als moralische Autoritäten zu wirken. In Nigeria habe ich gesehen, wie wichtig und erfolgreich interreligiöser Dialog bei der Schaffung von Frieden ist. Es ist außerdem entscheidend, dass Verhandlungsführer aller Seiten diesen Führern ein Mindestmaß an Vertrauen und die Bereitschaft zu Kompromissen entgegenbringen.

Das ist unerlässlich, wenn gewaltsame Konflikte nicht durch militärische Unterwerfung, sondern durch gegenseitiges Verständnis beendet werden sollen. In Afrika vertrauen Menschen religiösen Führern oft mehr als Politikern, da sie wissen, dass wir nicht nach Macht streben.

▶ Aber selbst die Kirchen sind tief gespalten, wenn es um die Rolle des Militärs, Waffenlieferungen und die Rolle des Krieges als Mittel der Selbstverteidigung oder in Genozid-Situationen geht. Was ist Ihre persönliche Haltung?

Matthew Hassan Kukah: Mein Glaube spricht zur Stimme der Menschlichkeit, des Mitgefühls, der Versöhnung und der Vergebung. Das Wort "Liebe" wird heute in der Popkultur so häufig verwendet, dass es oft hohl und leer erscheint. Aber in meinem religiösen Kontext ist Liebe der Schlüssel zum Frieden.

Wir müssen uns weltweit zu Brüderlichkeit und Schwesternschaft verpflichten. Wir dürfen die Politik – und schon gar nicht das Militär – nicht allein handeln lassen. Papst Franziskus hat in dieser Hinsicht große Führung gezeigt. Seine Enzyklika "Fratelli Tutti" und das Dokument über die Brüderlichkeit haben dazu geführt, dass die Vereinten Nationen einen Tag der Freundschaft, den 30. Juli, eingerichtet haben.

▶ Am 7. Oktober 2024 halten Sie ein Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche. Wie kam es dazu?

Matthew Hassan Kukah: In der Menschheitsgeschichte war es selten möglich, monströse Konfrontationen wie die im Kalten Krieg friedlich zu lösen. Die Rolle, die gewöhnliche Menschen und die Kirche in Leipzig spielten, war wunderbar. Deshalb habe ich die Einladung der Friedensinitiative "Leipzig bleibt friedlich!" gerne angenommen.

Das Erbe von 1989 zu bewahren, ist wichtig, und deshalb werden wir auch künftig am Konzept des Weltfriedensortes zusammenarbeiten und in Leipzig feierlich eine Kooperationsvereinbarung zwischen dem Kukah Centre, einem Thinktank, den ich in Nigeria gegründet habe, und "Leipzig bleibt friedlich!" unterzeichnen. Ich bin von dieser Geste sehr bewegt und hoffe, dass unsere Zusammenarbeit neue Horizonte der Zusammenarbeit und der Offenbarung von Friedensarbeit eröffnen wird.