Militärs und Diplomaten wollen "raus aus der Eskalationsspirale"

Seite 2: Schritte aus der Eskalationsspirale

Das Papier hebt sich wohltuend von der üblichen Medienhysterie ab, indem es völlig selbstverständlich und ohne dies groß zu betonen, auch die russischen Sicherheitsbedürfnisse als gleichberechtigt anerkennt, statt diese, wie bislang üblich, als Quantité négligeable reflexartig vom Tisch zu wischen.

Ebenso nüchtern lassen die Autoren zwischen den Zeilen durchblicken, dass sie die westliche Sanktionspolitik wie die "einseitig auf Konfrontation und Abschreckung setzende Politik" für gescheitert halten. Ein möglicher Ausschluss aus dem Swift-System, den US-Präsident Joseph Biden kürzlich wortgewaltig als Sanktionssuperwaffe androhte, könnte ihrer Meinung nach gar die Sicherheitslage Europas berühren – weil er die russische Wirtschaft gefährden würde.

Man sieht, die Autoren sind – heute eine immer seltenere Eigenschaft – in der Lage, Perspektivenwechsel vorzunehmen und sich auch mal in die Schuhe ihres jeweiligen Gegenübers zu stellen. Sie denken vernetzt und nicht in simplen Freund-Feind-Polarisierungen.

Als Profis wissen sie, dass Gespräche immer und namentlich zu Krisenzeiten eine Conditio sine qua non sind, die niemals an Bedingungen geknüpft werden darf. Und ihre Vorschläge zum Ausstieg aus der Eskalationsspirale wären tatsächlich geeignet, das Blatt zu wenden – vorausgesetzt, sie würden umgesetzt.

Der Westen, so schreiben sie, dürfe der Eskalation nicht tatenlos zusehen oder diese gar stillschweigend billigen. Er solle vielmehr "aktiv auf Russland zugehen und auf eine Deeskalation der Situation hinwirken. Hierzu sollte auch ein Treffen ohne Vorbedingungen auf höchster Ebene nicht ausgeschlossen werden." Im Einzelnen schlagen sie vor:

Einberufung einer hochrangigen Konferenz mit dem Ziel einer Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur auf der Grundlage der fortbestehenden Gültigkeit der Helsinki-Schlussakte 1975, der Charta von Paris 1990 und der Budapester Vereinbarung von 1994, und zwar ohne Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten.

Solange diese Konferenz tage, solle auf beiden Seiten auf jede militärische Eskalation verzichtet und beiderseits der Grenze zwischen der Russischen Föderation und ihren westlichen Nachbarn keine weiteren Truppen und Infrastruktur stationiert werden. Zugleich plädieren die Autoren für die vollständige wechselseitige Transparenz bei Militärmanövern.

Der Nato-Russland-Dialog solle ohne Konditionen auf politischer und militärischer Ebene wiederbelebt werden. Dazu zähle auch ein Neuansatz für die europäische Rüstungskontrolle, da mittlerweile sämtliche wesentlichen Verträge für die europäische Sicherheit gekündigt seien. Umso wichtiger seien alle Maßnahmen zur Schaffung von mehr Transparenz und zur Förderung des Vertrauens.

Schließlich solle "trotz der derzeitigen Lage" als Anreiz für Russland, zu einer kooperativen Politik gegenüber dem Westen zurückzukehren, über weitergehende wirtschaftliche Kooperationsangebote nachgedacht werden.

Es sollten Win-Win-Situationen geschaffen werden, um die derzeitige Blockade zu überwinden. – Und nun kommt der entscheidende Satz: "Dazu gehört die Anerkennung der Sicherheitsinteressen beider Seiten.

Mit Rücksicht darauf sollte in Fragen der künftigen Mitgliedschaften in Nato, EU und CSTO für die Dauer der Konferenz ein Freeze vereinbart werden." Gemeint sind hier vor allem Georgien und die Ukraine.

Es geht den Autoren also zusammengefasst darum, die Logik der Eskalation zu durchbrechen, die aktuelle Situation zu entschärfen und einen Freiraum zu schaffen, in dem Kontakte wieder geknüpft und, wenn es positiv laufen sollte, das Vertrauen Schritt für Schritt rekonstruiert werden könnte.

Im optimalen Falle könnte am Ende eine neue europäische Sicherheitsstruktur stehen, die das zentrale Prinzip der Charta von Paris wieder aufnähme: "Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden."