Miloševićs Tentakeln

Der erste serbische Anime überzeugt mit Witz und guten Ideen

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Rock' n Roll sei die Weltsprache der Sehnsucht, sagte der Filmemacher Chris Marker einmal in seinem Film Sans Soleil. Die Weltsprache von was ist dann der Anime? Versuch einer Antwort anhand von "Technotise", dem (angeblich) ersten serbischen Anime.

Belgrad, 2074. Während ländliche Modernisierungsverlierer noch mit dem Pferdewagen durch die Stadt ziehen, sind überall Roboter am Werk, die jungen Leute haben keine Probleme mit Sex, Drugs, & Rock'n Roll und Implantaten, die Alten erinnern sich mühsam an Zeiten vor all dem. Die Heldin ist Anfang 20, heißt Edit, studiert Psychologie und geht nebenher einer noch seltsameren Beschäftigung nach - im Aufrag einer dubiosen Hochtechnologiefirma namens TDR spielt sie die Babysitterin für einen erwachsenen Autisten namens Abel.

Bilder: Yodi Movie Craftsman / Black White 'N' Green Animation Studio

Das wirkt nicht sehr anstrengend, denn Abel sitzt nur da, sagt nichts und nimmt auch sonst keinen Kontakt auf. Ansonsten chillt Edit mit ihrem Freund Bojan, einem sympathischen Macho, und ihren Kumpels Broni, Johan, und Herb die ebensolche Teilzeitlibertins sind wie sie. Ach ja, und sie wohnt bei ihrer sehr anstrengenden Mutter und dem weniger anstrengenden, aber ein bisschen wunderlichen Großvater.

Eisentabletten futtern, um Wachstum und Funktion des Intranets in ihrem Körper sicherstellen

Alles in Butter, könnte man meinen, kämen da nicht ein paar Ereignisse zusammen, die das beschauliche Leben von Belgrader Hipstern des Jahres 2074 durcheinanderwürfeln. Edit beschließt, bei einer Studienprüfung zu pfuschen und lässt sich einen illegalen Chip einsetzen, der ihrer Gedächtnisleistung und Intelligenz ein wenig Rückenwind gibt. An sich in ihrer Szene nichts Unübliches, das macht man in der Zukunft ebenso locker, wie man sich heute auf dem Schulklo per SMS die Lösungen für Prüfungsaufgaben einsagen lässt. Die Sache wird problematisch, als ihre Auftraggeber von TDR die Katze aus dem Sack lassen, was Abel angeht.

Der gute Mann galt bis vor kurzem als mathematisches Genie, das, na klar, an der Weltformel gearbeitet, und sie auch gefunden hatte. Dummerweise hat ihre Auffindung Abel nicht nur zum Verstummen gebracht - sie ist auch so beschaffen, dass Computer, denen man sie vorsetzt, Bewusstsein erlangen, um dann ebenfalls durchzuzdrehen. Edit wird ein Funktionsgraph dieser Weltformel gezeigt, und das bringt unvorhergesehener Weise den illegalen Chip in ihrem Arm zum Ticken: er wuchert und legt autonom ein zweites, maschinelles Nervensystem in Edit an das sich seinem biologischen Vorbild eng anschmiegt.

Edit muss jede Menge Eisentabletten futtern, um Wachstum und Funktion des Intranets in ihrem Körper sicherstellen. Zwar verleiht ihr das zweite Nervenkostüm übermenschliche Kräfte, hat aber auch eigene Pläne, wie auch die bösen Buben von TDR, die in ihm die Maschine ahnen, die mit Abels Weltformel fertig wird. Das fänden sie sehr nützlich, weil sich auf diese Weise die Zukunft vorhersagen ließe. Auf dieser Ausgangslage fußt alles weitere, Tod und Auferstehung der Heldin inklusive.

Ein gewisser sarkastischer Cyberennui

Es gibt eine Menge an Technotise zu kritisieren, nicht nur die hanebüchene Story. Das Frauenbild ist zum Beispiel nicht aus der Zukunft, sondern eher von vorgestern. Der Cyberpunk-Plot von Technotise wirkt ebenfalls ziemlich angejahrt, und die Anmation ist nicht perfekt. Und da wäre noch das aggressive product placement des Hauptsponsors, offenbar ein serbischer Ableger der deutschen Kreissparkassen.

Aber trotzdem funktioniert der Anime erstaunlich gut. Das hat unter anderem mit dem Setting zu tun, denn es ist sehr angenehm anzuschauen, wie der Science Fiction-Stoff mit der Belgrader Bühne versöhnt wird, auf der er abgehandelt wird. Das erinnert manchmal fast an die Bilder von Max Ernst; dann wieder an japanische Produkte à la Metropolis ist aber immer ästhetisch interessant und befriedigend.

Dann ist da der trockene Humor der Charaktere, ein gewisser sarkastischer Cyberennui, der für manchen starken Spruch gut ist. Dazu kommen die vielen bizarren Einfälle. Wenn sich zum Beispiel der Großvater Edits in einer Rückblende an den 5.Oktober 2000 und eine Begegnung mit Slobodan Milošević selig erinnert, dann geht es nicht ohne Seltsamkeiten ab, die Tentakel einschließen. Die beiden persönlichen Roboter Edits, die sie wohl aus Kindertagen überbehalten hat, sind ziemlich witzig. Es gibt viele andere, liebevolle Einfälle, die Spaß machen.

Die Weltsprache der Vulgärphilosophie in ihrer Gestalt als Verschwörungstheorie

Und warum funktioniert diese Art Ästhetik auf Japanisch und Serbisch (oder soll man besser immer noch "Serbokroatisch" sagen?), warum ist sie, auch mit ihren europäischen Transformationen, die Erscheinungsform einer Weltsprache? Das erklärt sich zu einem Teil aus dem Paradox, dass jeder historische Roman eine Menge über die Zeit aussagt, in der geschrieben wurde, und das gilt natürlich auch für die Zukunftshistorien der Science Fiction.

Implantate und anderer Cyberzinnober sind weltweit verständlich geworden, weil die ganze Welt darauf wartet, dass sie real werden. Und wenn der Rock'n Roll die Weltsprache der Sehnsucht ist, dann ist der Anime die Weltsprache der Vulgärphilosophie in ihrer Gestalt als Verschwörungstheorie.

Miloševićs Tentakeln (20 Bilder)

Bilder: Yodi Movie Craftsman / Black White 'N' Green Animation Studio

Böse Multis, Mikrochips, Biotechnologie und einzelne tapfere (Anti-)helden, die den Plänen der Mächtigen widerstehen, diese Mischung wird noch lange für mehr oder weniger gute Geschichten sorgen - mindestens solange, wie die Welt für Geschichten dieser Art Anlass gibt.

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