Mischgestalten

Maschinen und Menschen bewegen sich aufeinander zu

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Jüngst sind sie wieder gefeiert worden, die "Helden der Landstraße", als sie bei der "Tour der Leiden" auf ihren Rennmaschinen über den Tourmalet, den Mont Ventoux und den Col de Galibier nach La Plagne hinüber geflogen sind. Vor allem ihr König und Meister, der "Unerbittliche", Lance Armstrong, hat wieder mal bewiesen, dass er die Konkurrenz mit seiner Beinfrequenz, die er am Berg und gegen die Uhr entwickelt, in Grund und Boden stampfen kann.

Ein paar Wochen zuvor waren es hingegen die südkoreanischen Balltreter, die uns mit ihrer Wuseligkeit und ihrem nimmermüden Fleiß begeistert und die Nachmittagsstunden versüßt haben. Mit schier unerschöpflichen Kraft- und Luftreserven hetzten sie die nach Korea gereisten Kicker-Millionarios über den Platz, und zwar technisch so versiert und organisiert, dass auch ich die Daumen für sie gedrückt habe, als es im Halbfinale gegen die deutschen "Panzer" und "Rumpelfüßler" ging.

Salbutamol? Unmöglich! Das ist erstunken, total erlogen!

Manolo Saiz, Rennleiter des Once-Teams

Und sicherlich dürften viele auch noch die Olympischen Winterspiele von Salt Lake City in bester Erinnerung haben. Nicht am Nachmittag, sondern zur besten Fernsehzeit konnten wir die Spannweiten von Oberschenkeln, Brustkörben und Oberarmen der Athleten und Athletinnen bewundern, die technische Präzision, mit der sie ihr Sportgerät ins Ziel lenkten, ihren Mut, mit dem sie sich in die Tiefe stürzten, aber auch das modische Outfit ihrer Rennanzüge, die Männlein und Weiblein einen merkwürdig androgynen Status verliehen.

Updaten und Screenen

Dass diese Jagd nach Titeln und Rekorden, Werbeverträgen und Images nicht ganz ohne Wachstumshormone, Aufputschmittel und andere medizinische Tricks zu schaffen ist, dürfte weidlich bekannt sein. Müsli, Orangensaft und Großportionen von Fleisch und Pasta reichen bei weitem dafür nicht aus; und von Wissenschaftlern und Physiotherapeuten entworfene Trainingsprogramme oder die von Computern gesteuerte Abgleichung von Ausdauer-, Blut- und Laktatwerten ebenso nicht. Um über Nacht zum Giganten der Landstraße, der Laufbahn oder der Arena aufzusteigen und in der Hall of Fame des Weltsports Aufnahme zu finden, braucht es schon der Beimischung zusätzlicher Kampfstoffe wie anaboler Steroide und Kortekoide, Dutch-Cocktails und diverser anderer, Blutdoping verschleiernder Mittel, wie etwa den Stoff Probenicid, die unter ärztlicher Aufsicht und Kontrolle dem Athleten und Wettkämpfer verabreicht werden.

Den Body mit Medikamenten, Drogen oder anderer chemischer Stimulantien aufzupeppen, ihn mit im Labor gezüchteten Materialien zu screenen oder upzudaten, liegt heute im Trend. Weswegen wir dieses künstliche Hochtrimmen eines als mangelhaft erfahrenen Menschenkörpers zu neuen Höchstleistungen überall dort finden, wo Fitness und Non-Stop Engagement für die Firma, die Organisation oder die Nation verlangt werden, oder wo wie in der Showbranche der eigene Body zum Kapital und Markenzeichen im Kampf um Schlagzeilen und Prominenz wird.

Giftstoffe injizieren

Reproduktionsmedizin und Diätetik, Sportmedizin und Schönheitschirurgie bieten inzwischen auch eine Vielzahl raffinierter Praktiken und Techniken an, um Lippen, Geschlechtsteile oder Brüste aufzuschäumen, runzelige Häute und Stirnfalten zu glätten, unschöne "Höcker" abzuhobeln oder überflüssige Pfunde durch Liposuktion abzusaugen. Der Wille zur Körperoptimierung geht soweit, dass mancher Zeitgenosse sich einer regelmäßigen Darmspülung in einer Klinik unterzieht, um nach zu kalorienreichen Genüssen bei Empfängen, Partys oder Diners wieder mit Waschbrettbauch in der Öffentlichkeit glänzen zu können.

Andere wiederum, so hört man, lassen sich giftige Substanzen unter die Haut spritzen, um nach diesem Eingriff für vier bis sechs Monate mit wunderbar frisch wirkenden Gesichtspartien herumzulaufen. Botox, ein Nervengift, das jugendliches Aussehen ohne schmerzhafte Operationen verspricht, heißt diese neue Wunderwaffe der Schönheitsindustrie. Es wird vom Bakterium Clostridium Botulini gebildet. Zwischen Augen und Mundpartie gespritzt, lähmt das Gift die umliegende Muskulatur und glättet dadurch Falten und Runzeln der Haut (Aussehen wie man sich fühlt).

In den USA ist Botox längst ein kosmetischer Hit. Und auch hierzulande soll die Fangemeinde stetig wachsen. Den Nachteil, den diese subkutane Verabreichung von Bakterien hat, scheinen die auf juvenil getrimmten Personen bereitwillig in Kauf zu nehmen. Da durch das Gift die Signalübertragung zwischen Muskel und Nervenzelle gelähmt wird, sind die behandelten Personen nur noch zu eingeschränkten Regungen der Wut, der Angst oder der Freude fähig. Der Mimik des Gegenübers ist jedenfalls nicht mehr zu entnehmen, welche emotionale Regungen und Empfindungen eine f2f-Interaktion bei ihm hervorrufen. Auf ihre Umwelt wirken diese Leute daher wie ein Tagesschau-Sprecher oder eine Figur aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett.

Vor diesen Möglichkeiten, die Selektions- und Optimierungstechniken der Schönheitschirurgie versprechen, verblassen die Erfolge der Forschungen zur künstlichen Intelligenz. Trotz lichtschneller Rechensysteme und entscheidungssicherer Schach-, Überwachungs- oder Kreditprüfungsprogramme, und trotz diversen E-Schnickschnacks und E-Playmobils wie Tamagotchis, AIBOs und Fußball spielender Robocups, die Eigenschaften lebendiger Systeme (Autonomie, Flexibilität, Teamgeist ...) simulieren, ist es weder AI- noch AL-Forschern gelungen, eine Intelligenz zu modellieren, die der menschlichen auch nur annähernd gleichkommt oder sie gar übertrifft.

Maschinensysteme

Im Gebrauch von Sprache, Werkzeug und Technologie unterscheiden Menschen sich von Tieren. Aufwändige Versuche, Maschinen Sprache und Kommunikation beizubringen, sind zwar am Laufen, scheitern bislang aber kläglich. "Push red wa blue ko" kauderwelscht es zum Beispiel aus den Laptops von Luc Steels, dem Leiter des Sony-Centers in Paris, worauf ein anderer mit unverständlichen Lautfolgen wie "Wabaku", "limiri" "wawosido" antwortet (Werthern schubst Lotte).

Und auch am MIT in Boston arbeiten Forscher vehement am Nachbau menschenähnlicher Roboter, die einmal die körperlichen oder geistigen Fähigkeiten eines Kleinkindes aufweisen sollen. Doch davon sind bis heute nur ein metallischer Torso (Coq) mit Kopf und zwei Greifarmen übrig geblieben, der unbeholfen nach Metallbällen grabscht, und ein Gesichtsroboter namens Kismet, der durch sein Aussehen (rote Gummilippen, rosarote Ohren und großen Augen) und seine Reaktionen (Blick geht verschämt nach unten, wenn jemand ihn anblickt), Mitleid oder Muttergefühle beim Betrachter hervorruft.

Die Hoffnung, dass später aus der Realisierung solch simpler und starrer menschlicher Fähigkeiten einmal komplexes Verhalten hervorgehen wird (Emergenz), vermag mich nicht zu überzeugen. Offenbar lässt sich Intelligenz nicht so einfach von seinem kohlenstoffbasierten Träger trennen oder auf andere Stoffe übertragen. Damit sie selbstständig Entscheidungen treffen, situativ auf Ereignisse reagieren und Bekanntes im Lichte neuer Erkenntnisse prüfen und reflektieren kann, braucht die Intelligenz die Erfahrung der Erdenschwere, der Verdauung, der Bewegung, des Alterns usw. oder auch die Empfindung von Leid, Schmerz, Begeisterung, Hass usw. Um eine gleichwertige Intelligenz zu erzeugen, reichen die physische Einbettung ("Verkörperung") in eine Umwelt (Rodney Brooks) dafür jedenfalls ebenso wenig aus wie die Kombination von Wahrnehmung und Handlung (Luc Steels).

Menschmaschinen

Wahrscheinlicher als robotische Zwillinge, die wie HAL 9000 allmählich die Weltherrschaft übernehmen, oder Siliziummaschinen, auf die wir unser Bewusstsein wahlweise laden, um darin ewig zu leben, ist deshalb eine Kooperation oder schrittweise Annäherung von Mensch und Maschine. Auf diese "Vermanschung" und allmähliche Cyborgisierung des Menschen macht jedenfalls auch Rodney Brooks in seinem jüngsten Buch "Menschmaschinen" aufmerksam, das kürzlich auf deutsch im Campus Verlag erschienen ist (Umpolung im nächsten Jahrtausend).

Darin wagt der Direktor des Artificial Intelligence Lab am MIT einen Ausblick, wie man sich die technische Manipulation des Menschenkörpers in naher Zukunft vorzustellen habe: Cochleare Implantate (Gehörschnecken), die eine direkte Verbindung zum Nervensystem herstellen, und Gehörlosen ihr Gehör wiedergeben; Retina-Chips für Blinde, die einfache Wahrnehmungsbilder erzeugen; Arm- und Beinprothesen aus Metall, durch die antimagnetische Flüssigkeiten fließen und die womöglich vom Gehirn aus gesteuert werden, um erwünschte Bewegungen wieder zu stimulieren. Denkbar hält der Tüftler und Bastler aber auch Gentherapien, die den menschlichen Hautsack auf zellulärer Ebene manipulieren, reparieren oder austauschen; rekonstruktive Chirurgien, die Menschen aus natürlichen und künstlichen Komponenten aufbauen; oder auch Schulkinder, die ihre Hausaufgaben oder Prüfungen künftig mit implantiertem Internetzugang machen oder mit "Google" im Kopf herumlaufen.

Herzschrittmacher, künstliche Gelenke und Ellbogen, die dem Menschen eingesetzt werden, gibt es längst; "Schutzengel", die den Blutzucker, die Atmung oder die Körpertemperatur überwachen, wird es bald geben; und wem die Mängel, die sein Körper aufweist, zu groß und folglich zu teuer sind, um sie zu beheben, der findet im Netz inzwischen ein breites Angebot (Digital Beauties), um wenigstens sein "virtuelles Äußeres" zu verschönern oder zu perfektionieren.

Als Vorbild und Prototyp gilt in vielen Fällen der "Behinderte". Meist geht es dabei darum, Funktionen oder Kräfte, die der Mensch im Laufe der Evolution verloren hat oder für die er zu langsam, zu schwach oder ungeeignet ist durch elektronische Bausätze oder Komponenten zu erweitern, zu steigern oder zu ersetzen.

Mischgestalten

Cyborgs erleben eine andere Wirklichkeit als wir. "Mischgestalten" vermutlich auch. In SF-Erzählungen und Romanen ist darüber immer wieder spekuliert worden. In Isaac Asimovs Erzählung "The Bicentennial Man" sehnt sich beispielsweise der vollkommen künstliche Androide danach, ein Mensch zu werden. Nach etlichen Operationen, bei denen die Hardware (Metall) durch Wetware (Fleisch) ersetzt wird, erlangt der Cyborg endlich Sterblichkeit.

Diese Idee bildet bekanntlich die Grundlage für den Androiden Data im "Raumschiff Enterprise: Das nächste Jahrhundert". Und in Philipp K. Dicks "Do Androids Dream of Electric Sheep?" wiederum, der Romanvorlage zum SF-Klassiker "Blade Runner" von 1982, ist die Verschmelzung des Menschen mit der Maschine nahezu abgeschlossen. Dort sind die Replikanten bereits so perfekt aus organischen Komponenten zusammengestellt, dass biologisches Original und technische Fälschung nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Nur durch den so genannten "Empathie-Test" sind sie von ihren Schöpfern noch zu diskriminieren.

Fußball ist nicht immer logisch - deshalb lieben wir ihn.

Rudi Völler

Während in Filmen wie "Terminator" oder "Matrix" Killerroboter durch Nachahmung und Mimesis immer besser lernen, sich dem menschlichen Verhalten und ihren Umwelten anzupassen, ist in all den oben genannten Erzählungen der uns tröstende Gedanke gemeinsam, dass die Maschinen mit zunehmender Entwicklung unweigerlich den Wunsch empfinden, dem Menschen immer ähnlicher zu werden, um nicht, wie die Replikanten in "Blade Runner", Bürger zweiter Klasse zu sein.

Gefühlsmatsch

Damit wären wir wieder am Anfang, bei den Heroen, Giganten und Titanen des Sports. Was sie uns so sympathisch macht, sind ja weniger die Präzision, die Perfektion oder das Timing, mit der sie Siege erringen oder Rekorde erzielen. So klebt an Michael Schuhmacher trotz all seiner Erfolge und der Vergötterung durch manchen seiner Fans das Image oder der Makel an, eine Maschine oder ein Rennroboter zu sein, der seine Gegner nach Kannibalenart verspeist. "Mit Michael kann man nicht leiden, der ist ja permanent oben," antwortet Niki Lauda auf eine entsprechende Frage in einem Interview mit dem Magazin Stern. Da kann er noch so viele Tränen der Freude vor den Kameras der Weltöffentlichkeit vergießen.

Was wir bewundern oder was uns fasziniert ist weniger das Maschinelle und Uhrwerkhafte, das nach erwartbaren, beschreibbaren und erkennbaren Regeln funktioniert, als vielmehr das Blut und der Schweiß der Sportler und Sportlerinnen, ihre Wutausbrüche und Tränen der Freude, der Enttäuschung und des Schmerzes, aber auch das Ungewisse darüber, ob sie der Konkurrenz und dem Leistungsdruck standhalten, ob ein anderer Heroe oder Heroine sie vom Sockel stürzt oder ob sie dem "they'll never come back" ein Schnippchen schlagen.

Schon allein wegen dieses ganzen Gefühlsmatches, der im Sport besonders weit verbreitet und gut zu beobachten ist, werden die "Menschmaschinen", und da ist Mr. Rodney Brooks zuzustimmen, den "Maschinenmenschen" immer eine Nasenlänge voraus sein.