Miss Blandish in der Unterwelt, oder: Ein Roman wie Giftgas

A Canterbury Tale

Chronik eines vergessenen Skandals, der Literatur- und Filmgeschichte schrieb

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1939 erschienen zwei Bücher, die den Kriminalroman nachhaltig veränderten. Raymond Chandler romantisierte mit The Big Sleep die Figur des Privatdetektivs, indem er den unbestechlichen, an weltlichen Gütern nur mäßig interessierten Philip Marlowe zu einem modernen Ritter machte, der sich auf eine Queste begibt, in den Straßen der Großstadt nach verborgenen Wahrheiten sucht und die ethischen Maßstäbe wieder zurechtrückt. Einen anderen Weg schlug der Brite James Hadley Chase ein, der den meisten Literaturgeschichten nicht einmal eine Fußnote wert ist, obwohl er so einflussreich wie Chandler gewesen sein dürfte. In seinem Erstlingsroman, dem Thriller No Orchids for Miss Blandish, schildert Chase eine materialistische und amoralische Welt, in der es keine Sicherheiten mehr gibt und die sexualisierte Gewalt an die Stelle der romantischen Liebe tritt. Das brachte ihm nicht nur die Verachtung der Kritiker und - mit einiger Verspätung - die Aufmerksamkeit der Zensoren ein. Wie die Verkaufszahlen belegen, traf er auch den Nerv der Zeit. Nach Miss Blandish war im Kriminalroman nichts mehr so wie früher.

Orchideen und Maiskolben

Wer etwas über Großbritannien im Zweiten Weltkrieg erfahren will, sollte sich die wunderbaren Filme von Michael Powell und Emeric Pressburger ansehen. 1943 drehten sie A Canterbury Tale, um zu zeigen, für welche spirituellen Werte und Traditionen die Briten und die Alliierten gegen die Nazis kämpften. Eine der Hauptfiguren, der Friedensrichter Colpeper, hält Lichtbildvorträge für Soldaten, mit denen er versucht, einem wenig interessierten Publikum Einblicke in die englische Kultur- und Geistesgeschichte zu vermitteln. Einer der Soldaten will eigentlich nur den berüchtigten Schundroman No Orchids for Miss Blandish lesen, statt ein Referat über seine Vorfahren anzuhören, die vor 600 Jahren nach Canterbury pilgerten. Damit scheint der Film ganz auf einer Linie mit George Orwell zu sein, der bald nach der Uraufführung von A Canterbury Tale, im Oktober 1944, einen berühmten Essay veröffentlichte, in dem er Miss Blandish als Beleg dafür anführt, dass früher doch alles besser war.

A Canterbury Tale wäre allerdings kein Film von Powell und Pressburger, wenn es so einfach wäre. Colpeper reißt versehentlich das Stromkabel aus dem Projektor und kann die Dias zum Vortrag über die Vergangenheit nur zeigen, weil der technisch versierte Krimileser die Verbindung wieder herstellt; und während Colpeper im verdunkelten Raum über höhere geistige Werte referiert, kann der Soldat im Lichtstrahl des Projektors weiter Miss Blandish lesen. Außerdem wissen wir zum Zeitpunkt des Vortrags bereits, dass der geachtete Friedensrichter nachts als der "Leimmann" sein Unwesen treibt. Colpeper schüttet jungen Frauen Klebstoff ins Haar, damit sie die Soldaten nicht von ihrer Aufgabe ablenken können, dem Kampf gegen die Nazi-Barbarei.

Laut Drehbuch sollte er ihre Kleider zerfetzen. Powell hielt das für zu drastisch. Also dachte er sich die Leimattacken aus. Colpeper, der Repräsentant alter englischer Traditionen und Werte, ist trotzdem (oder vielleicht gerade deshalb) die beunruhigendste Figur des Films, und nicht etwa dieser Soldat, der Miss Blandish liest, bevor er an der Landung der Alliierten in der Normandie teilnimmt (und dort mit hoher Wahrscheinlichkeit sterben wird, wofür der Roman auch nichts kann). Es fehlt nicht viel, um aus dem "Glueman" einen Frauenmörder zu machen. Gleich um die Ecke lauert bereits Hitchcocks Norman Bates, oder einer der Psychopathen aus den Büchern von James Hadley Chase.

Der Autor von Miss Blandish, den viele Engländer für einen Amerikaner hielten, weil seine Bücher in den USA spielten, war nicht etwa im Schlachthofviertel von Chicago zur Schule gegangen, oder in der Bronx, sondern hatte die altehrwürdige, 604 zusammen mit der Kathedrale gegründete King's School in Rochester besucht, in der Grafschaft Kent und nicht weit von der Kathedrale von Canterbury entfernt, dem spirituellen Zentrum Englands (Powell war ein Absolvent der King's School in Canterbury, weshalb schon behauptet wurde, dass beide dieselbe Schule besucht hätten). Mit bürgerlichem Namen hieß er René Lodge Brabazon Raymond. Über sein Leben weiß man wenig. Wenn die Angaben im Dictionary of Literary Biography (Band 276) stimmen, wurde er am Heiligabend des Jahres 1906 in London geboren. Mit 18, offenbar nach einem Streit mit seinem als Veterinär im Offiziersrang in der Armee dienenden Vater, zog er von zuhause aus. René bereiste zunächst den Süden Englands, wo er von Tür zu Tür ging und versuchte, den Leuten ein Lexikon für Kinder zu verkaufen. 1926 zog er nach London und wurde Angestellter bei einem Buch-Großhändler.

René Lodge Brabazon Raymond (James Hadley Chase)

Raymond kümmerte sich um die Belieferung der Einzelhändler und der Ausleih-Büchereien. Dabei fiel ihm auf, wie beliebt Dashiell Hammett und James M. Cain bei britischen Lesern waren. Das brachte ihn auf den Gedanken, selbst einen Krimi "im amerikanischen Stil" zu schreiben. Der Legende nach verfasste er Miss Blandish an sechs aufeinander folgenden Wochenenden des Sommers 1938. Das muss man ihm nicht glauben, zumal damals noch ein Teil des Samstags zur Arbeitswoche gehörte. Wahrscheinlich verdanken wir den Entstehungsmythos William Faulkner, von dem sich einiges in Miss Blandish wiederfindet. Frustriert über die geringe Resonanz, die The Sound and the Fury und As I Lay Dying gefunden hatten, entschloss sich Faulkner eigenem Bekunden nach, dem Publikum das zu geben, was es haben wollte: Sex und Gewalt.

In Sanctuary (1931) landet Temple Drake, die verzogene Tochter eines Richters, bei in der einen oder anderen Sünde lebenden Schwarzbrennern, nachdem ihr Freund, der dauernd besoffene Gowan Stevens, einen Autounfall gebaut hat. Bei den Schnapsbrennern trifft sie den zu jeder Schandtat fähigen Popeye, der gezeugt wurde, als seine Mutter an Syphilis erkrankt war. Einige skandalöse Höhepunkte des Romans: Der impotente Popeye tötet den geistig zurückgebliebenen Tommy, der Temple schützen will und vergewaltigt die junge Frau anschließend mit einem Maiskolben; Temple, die nun dem Alkohol und der Fleischeslust verfällt, wird Popeyes Gangsterbraut und bewohnt mit ihm ein Zimmer in einem Bordell in Memphis; Temple hat Sex mit dem Gangster Red, und Popeye schaut dabei zu; beim Prozess gegen einen unschuldig des Mordes und der Vergewaltigung Angeklagten wird der blutige Maiskolben als Beweisstück vorgezeigt; auf Betreiben ihres Vaters, der die Sache schnell abschließen will, gibt Temple den Angeklagten als Täter an; ein Lynchmob foltert, kastriert und verbrennt den Unschuldigen.

André Malraux sah in dem Werk "das Eindringen der griechischen Tragödie in die Detektivgeschichte". Trotz aller Elemente aus dem Sensationsroman ist Sanctuary vor allem dies: ein Roman von William Faulkner, und also keine ganz leichte Lektüre. Die Erzählstruktur ist komplex, das Buch ist sehr genau gearbeitet. Man muss deshalb auch Faulkner nicht glauben, der gern erzählte, er habe den Roman in nur sechs Wochen geschrieben. Raymonds Behauptung kann man als ironische Replik verstehen: Während der spätere Nobelpreisträger sechs Wochen brauchte, schaffte er es an sechs Wochenenden. Gern wird ihm vorgeworfen, dass dabei wenig mehr als ein Plagiat von Sanctuary herausgekommen ist. Richtiger wäre es zu sagen, dass Miss Blandish von Faulkner inspiriert ist. René Raymond erkennt das an, indem er dem alkoholisierten Begleiter seiner Heldin den Namen Jerry MacGowan gibt. So macht er das öfter. Wenn man den Vornamen des Bösewichts in Miss Blandish mit dem Nachnamen im Titel von Raymonds Skandalbuch Miss Callaghan Comes to Grief kombiniert, erhält man Slim Callaghan, einen Krimihelden von Peter Cheyney; der Schurke in Miss Callaghan heißt Raven wie der Killer in Graham Greenes A Gun for Sale (1936). So zeigt Raymond, in welchem Umfeld er seine Bücher verstanden wissen will (und von wem er sich etwas ausgeborgt hat). Mehr sollte man nicht von ihm erwarten. Er war überzeugt, dass seine Leser spannende Geschichten von ihm wollten und keine erklärenden Vorworte. Darum schrieb er auch keine.