Misshandlungen, Vergewaltigungen und Ehrenmorde

Über ein Drittel aller türkischen Frauen werden Opfer familiärer Gewalt

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Nachdem die ledige Güldünya Tören von einem angeheirateten Vetter schwanger geworden war, wurde sie in das Haus ihres Onkels nach Istanbul geschickt. Dort gab einer ihrer Brüder Güldünya ein Seil und verlangte von ihr, sich damit zu erhängen. Sie konnte fliehen und bat um Polizeischutz. Die Beamten waren jedoch davon überzeugt, dass die männlichen Familienmitglieder keine weiteren Mordabsichten hegten. Als sich deren Plan, die 22-Jährige zur Zweitfrau des Vetters zu machen, zerschlug, spitzte sich die Lage zu. Im Februar 2004, knapp drei Monate nach der Geburt, wurde Güldünya Tören von ihrem Bruder Ferit auf offener Straße angeschossen. Im Krankenhaus bat sie erneut um Polizeischutz - ohne Erfolg, Ferit blieb weiter auf freiem Fuß. In der Nacht drang ihr Mörder in das unbewachte Krankenhaus ein und schoss Güldünya Tören in den Kopf. Der Polizeipräsident von Istanbul erklärte später: "Wir können nicht jedem Verletzten, der in ein Krankenhaus eingeliefert wird, einen Polizisten ans Bett stellen."

Das Schicksal der Güldünya Tören, das auch in Deutschland für Aufsehen sorgte, steht am Beginn des amnesty-Berichtes Turkey: Women confronting family violence, der in der vergangenen Woche in Istanbul vorgestellt wurde. Aber es ist - leider und doch erwartungsgemäß - kein Einzelfall, der hier in erschreckenden Details dokumentiert wird. Familiäre Gewalt gehört in der Türkei für mindestens jede dritte Frau noch immer zum Alltag, Zwangsverheiratungen und Misshandlungen sind an der Tagesordnung, Vergewaltigungen und Ehrenmorde werden vertuscht oder mit geringen Strafen belegt. amnesty macht für diese Situation aber nicht nur die Täter, sondern auch die türkische Regierung verantwortlich. Ihr wirft die Menschenrechtsorganisation vor, die Nachlässigkeit von Polizei und Justiz stillschweigend hinzunehmen, öffentliche Zufluchtsorte mangelhaft zu unterstützen und keine staatlichen Beratungsstellen zu unterhalten.

Telepolis sprach über dieses Drama, das sich noch an der Grenze der Europäischen Union abspielt, mit Amke Dietert, der Türkei-Expertin von amnesty international.

Welche neuen Erkenntnisse vermittelt der aktuelle amnesty-Bericht?

Amke Dietert: Wenn man von den geschilderten Einzelfällen absieht: im Prinzip keine. Die Situation in der Türkei ist vielen Beobachtern seit langem bekannt. Neu ist, dass amnesty diesem speziellen Thema zum ersten Mal einen umfangreichen Bericht gewidmet hat, und zwar im Rahmen einer internationalen Kampagne, die Gewalt gegen Frauen weltweit ächten soll. Die Frauen, die - nicht nur in der Türkei - familiärer Gewalt ausgesetzt sind, also geschlagen, vergewaltigt und ermordet werden oder Genitalverstümmelungen und viele andere Grausamkeiten über sich ergehen lassen müssen, können das, was ihnen angetan wurde, nicht einmal öffentlich machen. Die Familien schirmen die Täter ab und viele Regierungen nehmen ihre Schutzverpflichtungen nicht ernst genug.

Das gilt auch für die Türkei: Polizei und Justiz werfen einer Frau, die Anzeige erstattet, oft noch vor, den Täter provoziert zu haben oder die Ehre ihrer Familie in den Schmutz zu ziehen. Familiäre Gewalt wird deshalb selten und nur in geringem Umfang bestraft. Es ist wirklich ein Skandal, dass ein Vergewaltiger ohne Strafe davonkommt, wenn er sich bereit erklärt, sein Opfer zu heiraten. Die betroffene Frau dagegen wird doppelt bestraft und ist ihrem Peiniger im schlimmsten Fall lebenslang ausgeliefert.

Ihre Aufgabe besteht also im wesentlichen darin, die fehlende Öffentlichkeit herzustellen.

Amke Dietert: Im Grunde schon. Öffentlichkeit ist genau das, was die Täter nicht wollen. amnesty steht damit natürlich nicht allein. Mittlerweile gibt es eine Frauenbewegung in der Türkei und Gruppen vor Ort, die sich für eine Veränderung des geistigen und juristischen Klimas engagieren. Derzeit laufen auch Gesetzesinitiativen, die eine Verbesserung der Situation versprechen, aber bis diese in der gesellschaftlichen Realität angekommen sind, wird es natürlich noch dauern.

Wie viele Frauen sind in der Türkei von familiärer Gewalt betroffen? "Mehr als ein Drittel" klingt nicht gerade konkret.

Amke Dietert: Das liegt an der hohen Dunkelziffer, die wir veranschlagen müssen. Wir gehen davon aus, dass ein Drittel bis etwa die Hälfte aller türkischen Frauen innerhalb ihrer Familien mit Gewalt konfrontiert werden. Daran sind in der Hauptsache ihre männlichen Verwandten - Ehemänner, Väter, Brüder - beteiligt, es gibt aber auch zahlreiche Fälle, in denen Frauen die Hand gegen Frauen erheben, wenn sich ein Familienmitglied nicht so verhält, wie es dem Kodex entspricht. Außerdem werden viele Ehrenmorde als Selbstmorde getarnt, um gar nicht erst das Risiko juristischer Ermittlungen einzugehen. Gerade im Südosten der Türkei ist die Selbstmordrate von Frauen überdurchschnittlich hoch. Hier kann man Zusammenhänge vermuten, aber nur in Einzelfällen tatsächlich beweisen.

Spielt der Umstand, dass die Türkei ein islamisch geprägtes Land ist, dabei eine besondere Rolle?

Amke Dietert: Nein, das glaube ich nicht, oder nur insofern, als sich die Täter oft auf den Islam berufen, was natürlich blanker Unsinn ist. Die Ursachen für die Gewalt liegen aber in der patriarchalischen Struktur der türkischen Gesellschaft. Gewalt gegen Frauen gibt es auch in Hindu-Gesellschaften, und bei christlichen oder jüdischen Fundamentalisten sind sie ebenfalls alles andere als gleichberechtigt. Die Täter versuchen, ihre Verbrechen durch angebliche religiöse Vorgaben zu rechtfertigen, traditionelle Familienstrukturen und überkommene Ehrbegriffe sind aber der eigentliche Auslöser.

Wie stellt sich die Situation für die in Deutschland lebenden türkischen Frauen dar?

Amke Dietert: Es gibt natürlich auch hier Berichte von Frauen, gegen die Gewalt verübt wurde, weil sie eine unliebsame Beziehung geführt oder sich dem Willen der Familienoberhäupter widersetzt haben. Frauen und Mädchen werden oft schon sehr früh wieder in Türkei gebracht und dort zwangsverheiratet, damit sie vor den vermeintlichen Gefahren der westlichen Welt geschützt sind und ihre Ehre unangetastet bleibt.

Durch die mitunter jahrzehntelangen Sozialisationsprozesse müssten aber auch Unterschiede feststellbar sein.

Amke Dietert: Für Deutschland existieren leider keine Statistiken, aber es ist natürlich so, dass die Betroffenen hier viel eher die Möglichkeit haben, Hilfe und Beistand zu finden. Es gibt Beratungsstellen, Frauenhäuser, Selbsthilfegruppen, und diese Angebote werden auch genutzt.

Kann die Europäische Union - etwa im Rahmen der Beitrittsverhandlungen - dafür sorgen, dass auch in der Türkei vermehrt entsprechende Möglichkeiten geschaffen werden?

Amke Dietert: Das wäre wünschenswert, schließlich fordern die Kopenhagener Kriterien (1993 verabschiedete Bedingungen für einen Beitritt zur Europäischen Union, Anm. d. Red.) unmissverständlich die Respektierung der Menschenrechte. Ich halte allerdings wenig davon, aus diesem besonderen Thema eine weitere Auflage für die türkische Regierung zu machen. In der Türkei würde das als erneuter Versuch interpretiert werden, die Latte wieder ein Stück höher zu hängen, und die Probleme wären damit aller Voraussicht nach auch nicht gelöst. Es geht darum, gesellschaftliche Prozesse zu initiieren, das funktioniert wohl nur durch eine gemeinsame Anstrengung. Die EU tut also besser daran, gezielt Projekte, Initiativen und Gruppen zu fördern, um vor Ort das Problem- und Unrechtsbewusstsein zu schärfen.

Ist die EU denn überhaupt in einer günstigen moralischen Ausgangsposition?

Amke Dietert: Es würde ihr jedenfalls nicht schaden, dieses Thema durchaus selbstkritisch anzugehen und sich - was den Schutz von Frauen vor körperlicher und psychischer Gewalt angeht - auch an die eigene Nase zu fassen. In den neuen Beitrittsländern sind viele Frauen mit ähnlichen Problemen konfrontiert, doch selbst in Deutschland, Frankreich oder Italien gibt es noch einiges nachzubessern. Das gilt erst recht für andere Beitrittskandidaten. Ich möchte bezweifeln, dass sich die Lage in Bulgarien oder Rumänien signifikant von der türkischen unterscheidet.