Mit dem Masketragen verbundene psychische Folgen

Distanzierte und gesichtslose Menschen - Teil 3

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Die Maskenpflicht herrscht derzeit in sehr vielen Ländern und gilt als ein zentrales Mittel zur Eindämmung des Virus. Während zahlreiche Studien versuchen, den Nutzen von Masken und Mund-Nasen-Bedeckung nachzuweisen, soll dieser Artikel die psychischen Auswirkungen dieser Schutzmaßnahme beleuchten.

Während der erste Teil dieser Artikelserie die Grundlagen über die menschliche Natur vermittelt hat, um besser einschätzen zu können, warum zahlreiche Schutzmaßnahmen auch bedenkliche Nebenwirkungen haben können, fokussierte der zweite Teil auf die Erkenntnisse zahlreicher Studien, die die Konsequenzen von Shutdown, sozialer Isolation, Einsamkeit, massive Reduzierung der Sozialkontakte und soziale Distanzierung mit sich bringen. Dieser Teil nun konzentriert sich insbesondere auf die psychischen Nebenwirkungen eines längeren Tragens der Maske.

Einmal mehr muss betont werden, dass es an dieser Stelle nicht um die Beurteilung geht, inwiefern die früheren und aktuellen Maßnahmen richtig, zu vorsichtig oder zu extrem waren bzw. sind, sondern darum, den Fokus auf die Nebenwirkungen der Maßnahmen zu legen. Negative Folgen der Maske heißt dabei nicht automatisch in der Konsequenz, dass die Maßnahme falsch ist. Ebensowenig würden nur geringe negative Nebenwirkungen automatisch beweisen, dass die Maskenpflicht richtig sind. In der hochpolarisierten Diskussion sollten binäre Denkweisen tunlichst vermieden werden und der differenzierte Diskurs wieder mehr Raum gewinnen. Die Kenntnis der Auswirkungen der Maßnahmen auf Körper und Geist der Menschen sollte dabei für jeden Menschen wichtig und für jede politische Abwägung zwingend erforderlich sein, wenn man eine verantwortungsvolle Politik betreiben oder Alternativen aufzeigen möchte.

Das menschliche Gesicht

Ausgangspunkt der vorliegenden Betrachtung ist einmal mehr eine Rückbesinnung auf die menschliche Natur und das menschliche Wesen. Dacher Keltner, Professor für Psychologie an der University of California, Berkeley, fasst den Kenntnisstand über die Besonderheit des menschlichen Gesichts zusammen: "Im Gegensatz zu unseren Verwandten der Primaten hat das menschliche Gesicht relativ wenig verdunkelndes Haar (das höchstwahrscheinlich in der heißen afrikanischen Savanne zum Zwecke der Kühlung verloren ging), was es zu einem Leuchtturm sozialer Botschaften macht. Und unsere Gesichtsanatomie umfasst mehr Gesichtsmuskeln als die unserer Primatenverwandten, insbesondere um die Augen herum, was ein viel reicheres Vokabular an ausdrucksstarken Verhaltensweisen ermöglicht, die ihren Ursprung im Gesicht haben."

Die außergewöhnliche Fähigkeit des Gesichts eine Vielzahl von Gemütszuständen zu vermitteln und die ebenso bemerkenswerte Fähigkeit des Menschen, die Gefühle seines Gegenübers richtig zu deuten, ist selbstverständlich ganz zentral in der Kommunikation zwischen den Menschen und gilt auch als ein wichtiger Grund für den evolutionären Erfolg unserer Spezies.

Wir können uns nicht mehr spiegeln

Spiegelneuronen wurden 1992 von einem Team um den Neuroforscher Giacomo Rizzolatti aus Parma entdeckt und sind ein eindeutiger biologischer Hinweis darauf, dass der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen ist, denn seine biologische Grundausstattung prädestiniert ihn zum Mitgefühl. Experimente belegen eindrücklich das Wirken der Spiegelneuronen. Eine Untersuchung von William Hutchison zeigt beispielsweise, dass in den Gehirnen der Probanden, die zusahen, wie sich der Untersuchungsleiter selbst in die Fingerkuppe stach, dieselben Nervenzellen feuerten, die auch beim Erleben des eigenen Schmerzes feuern würden. Vergleichbare Experimente am Max-Planck-Institut in Leipzig kamen zu demselben Ergebnis: Allein die Beobachtung von Schmerzen anderer führt dazu, dass Menschen ebenfalls Schmerzen empfinden. Dieses beschränkt sich jedoch nicht nur auf simplen körperlichen Schmerz. Der Neurowissenschaftler Christian Keysers führte ein Experiment durch, bei dem die Probanden eine Hand sahen, die sich ausstreckte, um jemanden zu streicheln, und dann von einer anderen Hand plötzlich und unerwartet weggestoßen wurde. Im Gehirn der beobachtenden Testpersonen feuerten nun die Spiegelneuronen, als hätten die Probanden selbst die Zurückweisung erfahren. Sie fühlten den Schmerz der Ausgrenzung unmittelbar mit.

Keysers beschreibt die Bedeutung der Spiegelneuronen mit eindrücklichen Worten: "Die Entdeckung der Spiegelneuronen machte mir klar, dass unsere Gehirne tatsächlich auf geradezu magische Weise miteinander verbunden sind." Der Neurowissenschaftler Marco Iacobini bringt es prägnant auf den Punkt: "Menschen sind auf Empathie programmiert." Der springende Punkt bei den Spiegelneuronen ist aber, dass die Menschen insbesondere das Gesicht der Mitmenschen sehen müssen, um deren Gefühle intuitiv zu spiegeln und so auch mitempfinden zu können. Die Schutzmaske macht dies jedoch kaum möglich.

Gerade für Babys und Kleinkinder katastrophal

Schon wenige Stunden nach der Geburt beginnen Säuglinge, bestimmte Gesichtsausdrücke, die sie sehen, spontan zu imitieren. Marco Iacoboni beschreibt die Ausbildung von Spiegelneuronen wie folgt: "Baby lächelt, die Mutter lächelt als Antwort. Zwei Minuten später lächelt das Baby noch einmal und auch die Mutter lächelt wieder. Aufgrund des Imitationsverhaltens der Mutter kann das Gehirn des Babys den zum Lächeln notwendigen motorischen Ablauf und die Sicht eines lächelnden Gesichts miteinander assoziieren."

Gerade in der Eltern-Kind-Beziehung wird offensichtlich, wie wichtig und existentiell die Möglichkeit ist, das Gesicht des Anderen ohne Einschränkung sehen zu können, denn nur so können Babys lernen sich zu spiegeln und Spiegelneuronen sich ausbilden. Auch wenn Schutzmasken wohl kaum in den heimischen vier Wänden getragen werden, dürfte es zweifelsohne jedoch so sein, dass in der gegenwärtigen Krise Babys häufig mit Menschen, die Schutzmasken tragen, interagieren, so dass die Gefahr besteht, dass die Babys weniger Spiegelerfahrungen erleben, die so wichtig und entscheidend für die Natur des Menschen sind. (Es ist an dieser Stelle positiv anzumerken, dass das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales betont, Mitarbeiter in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege sollten "während der Besuchszeiten sowie bei Veranstaltungen der Einrichtung ihr Gesicht (zwischen Kinn und Stirn) nicht verhüllen", wie der fundierte Artikel von Christof Kuhbandner kürzlich dargelegt hat).

Ein Experiment führt vor Augen, welche Gefahr für ein Baby bestehen kann, wenn eine erwartete Spiegelung ausbleibt: Wenn bei der sogenannten "Still face procedure" ein Erwachsener seine eigene emotionale Intuition absichtlich unterdrückt und das Baby völlig regungslos anschaut, wendet sich das Kind schnell ab. Wird diese Prozedur mehrere Male wiederholt, führt dies zu einem emotionalen Rückzug des Kindes.

Ein letztes "Spiegelproblem" für Babys besteht darin, dass sie die Lippen der Menschen nicht lesen können, wenn diese von einer Maske verdeckt sind. Um aber das Sprechen zu lernen, blicken sechs bis zwölf Monate alte Babys automatisch den Sprechenden auf den Mund. Eine Studie konnte die zentrale Bedeutung des Lippenlesens für die Sprachentwicklung beim Baby herausfinden. "Die Babys müssen erkunden, wie sie ihre Lippen formen sollen, um jene Laute zu bilden, die sie hören," erklärt hierzu der Entwicklungspsychologe David Lewkowicz von der Florida Atlantic University.

Ich kann mich nicht emotional anstecken lassen

Die Schutzmaske verringert nicht nur deutlich die Fähigkeit den Mitmenschen und dessen Gefühle zu lesen, sondern viel gravierender noch, es erschwert die emotionale Ansteckung. Menschen können von Natur aus gar nicht anders, als sich emotional anstecken zu lassen. Diese überaus beeindruckende Erkenntnis gelang Ulf Dimberg von der Universität Uppsala in den 1990er-Jahren (siehe auch hier und hier). Probanden wurden für jeweils nur eine halbe Sekunde auf einem Bildschirm Portraits menschlicher Gesichter gezeigt, wobei die Testpersonen gebeten wurden, möglichst neutral zu bleiben. Bei Bildern von lächelnden oder verärgerten Menschen reagierten die Probanden in Sekundenbruchteilen, indem sie unwillkürlich die Mimik des Portraits nachahmten. Ein solches Resonanzverhalten trat sogar dann auf, wenn den Probanden die Bilder nur so kurz gezeigt wurden, dass sie diese unmöglich bewusst wahrnehmen konnten. Wie Joachim Bauer, Professor für Psychoneuroimmunologie an der Universität Freiburg, bemerkt, mogelt sich "offenbar die Bereitschaft, spontanen emotionalen Gesichtsausdruck eines anderen Menschen zu spiegeln, mit Vergnügen an unserer bewussten Kontrolle vorbei."

Die emotionale Ansteckung ist "ein Wegbereiter für die Empathie". Es liegt daher auf der Hand, dass Schutzmasken somit die ungewollte Nebenwirkung entwickeln, die angeborene Fähigkeit des Menschen zur Empathie schlicht dadurch einzuschränken, dass der Mensch sich nicht emotional anstecken kann und so die Emotion seines Gegenübers nicht zu spiegeln vermag.

Ich kann Dein Gesicht nicht mehr lesen

Inwiefern sind Menschen in der Lage, Gefühle des Mitmenschens richtig zu deuten, sobald eine Schutzmaske den Großteil des Gesichts bedeckt? Genau dieser Frage ist Prof. Claus-Christian Carbon von der Universität Bamberg in einer Studie nachgegangen. Den Probanden wurden insgesamt zwölf verschiedene Gesichter gezeigt, wobei jedes Gesicht zufällig mit sechs verschiedenen Ausdrücken dargestellt wurde: wütend, angewidert, ängstlich, glücklich, neutral und traurig. Die Gesichter waren dabei entweder vollständig sichtbar oder von einer Gesichtsmaske bedeckt. Ergebnis: Waren die Gesichter durch eine Maske bedeckt, wurde das emotionale Lesen der Gesichtsausdrücke stark beeinträchtigt.

Prof. Carbon erläutert: "Die Teilnehmenden erkannten Emotionen weniger genau und vertrauten ihrer eigenen Einschätzung seltener. Spannend in diesem Zusammenhang ist vor allem, dass es zu charakteristischen Fehlinterpretationen von einzelnen Emotionen kam." So schätzten die Probanden einen deutlich angewiderten Gesichtsausdruck mit Maske als wütend ein. Einige Emotionen, wie Glück, Trauer und Wut, bewerteten sie als neutral. "Der emotionale Zustand wurde also gar nicht mehr wahrgenommen," gibt Prof. Carbon zu bedenken.

Es gilt also an dieser Stelle festzuhalten, dass die Schutzmaske zweifelsohne negative Nebenwirkungen auf das menschliche Miteinander hat. Daher empfiehlt Prof. Carbon: "Wir können die Unfähigkeit, Emotionen zu lesen, ausgleichen. Zum Beispiel können wir vermehrt Körpersprache, Gesten und mündliche Kommunikation einsetzen, um weiterhin effektiv sozial interagieren zu können."

Ich kann Dein Lächeln nicht mehr erkennen

"Ein Lächeln ist oft das Wesentliche. Man wird mit einem Lächeln bezahlt. Man wir mit einem Lächeln belohnt. Man wird durch ein Lächeln belebt," schreibt Antoine de Saint-Exupery in "Bekenntnis einer Freundschaft". So sehr jeder Mensch sicherlich die Bedeutung des Lächelns und dessen Kraft kennt, so wenig ist vermutlich bekannt, welch zentrale Rolle das Lächeln in der Geschichte der Menschheit spielt, genauer gesagt in der Geschichte der Kooperation, die die menschliche Evolution auszeichnet. Dacher Keltner bemerkt hierzu: "In der evolutionären Werkzeugkiste der Anpassungen, die die Zusammenarbeit fördern, ist das Lächeln vielleicht das wirkungsvollste Werkzeug. (...) Das Lächeln entstand, um kooperative und affiliative Nähe zu erleichtern."

Der Anthropologe und Psychologe Paul Ekman unterscheidet beim Lächeln zwei Formen: Das Lächeln, das die Aktivierung des Jochbeinmuskels (Mundwinkel) und des Augenringmuskels einschließt, als Duchenne- oder D-Lächeln (D smile) bezeichnet (man könnte es auch der Einfachheit halber als ein echtes Lächeln bezeichnen). Andere Formen des Lächelns sind für Ekman Nicht-D-Lächeln (non D smile). Dacher Keltner macht den Unterschied an einem einfachen Beispiel klar: "Wenn sich einem zehn Monate alten Kleinkind seine Mutter nähert, leuchtet das Gesicht des Kleinkindes mit dem D-Lächeln auf; wenn sich ein Fremder nähert, begrüßt dasselbe Kleinkind den Erwachsenen mit einem vorsichtigen Nicht-D-Lächeln."

Die Bedeutung des D-Lächelns für den Menschen kann kaum überschätzt werden, insbesondere wenn man Kleinkinder betrachtet. Die bereits zitierte "Still face procedure" hat hierzu bemerkenswerte Ergebnisse. Die Mutter wird gebeten, sich einfach in der Gegenwart ihres etwa neun Monate alten Säuglings aufzuhalten, aber keinerlei Gesichtsausdrücke zu zeigen, insbesondere nicht zu lächeln. Während das Kleinkind durch die Laborumgebung krabbelt, sucht das Kind im Gesicht seiner Mutter nach Informationen darüber, was sicher und lustig ist und was nicht. Die Mutter sendet aber keinerlei Signal. In einer Umgebung ohne Lächeln erkundet das Kleinkind die Umgebung nicht mehr, nähert sich nicht mehr neuen Spielzeugen an. Das Kind wird schnell unruhig und verzweifelt, oft wild, wölbt sich den Rücken und schreit auf.

Ein weiteres Experiment, das die kommunikative Kraft des Lächelns belegt: Wenn einjährige Säuglinge am Rand einer visuellen Klippe sitzen, die eine Glasfläche über einem steilen Abhang bildet, mit der Mutter auf der anderen Seite, schaut der Säugling sofort zur Mutter, um Informationen über diese wenig eindeutige Szene zu erhalten. Wenn die Mutter Angst zeigt, wird kein einziges Kind über die Glasfläche krabbeln. Wenn die Mutter lächelt, krabbeln hingegen etwa 80 Prozent der Kleinkinder eifrig über die Oberfläche und riskieren dabei potentiellen Schaden, um in der warmen, beruhigenden Mitte des Lächelns ihrer Mutter zu sein.

Messbare Effekte des D-Lächelns lassen sich auch bei Erwachsenen belegen. In der zuvor erwähnten Studie von Ulf Dimberg werden für jeweils nur eine halbe Sekunde auf einem Bildschirm Portraits menschlicher Gesichter gezeigt. Menschen, die so unbewusst ein D-Lächeln gesehen haben, lächeln nicht nur unwillkürlich selber, sondern berichten auch von größerer Zufriedenheit und Wohlbefinden. Tatsächlich setzt ein erlebtes D-Lächeln den Neurotransmitter Dopamin aus, was eine freundliche Annäherung und Zugehörigkeit erleichtert. Ebenso führt es zur Freisetzung des sogenannten Kuschelhormons Oxytocin.

Die existentielle Bedeutung des Lächelns für den Menschen und den bedeutenden Unterschied zwischen einem D-Lächeln, einem echten Lächeln, und einem künstlichen ist enorm. Problematisch aber und im Hinblick auf die Nebenwirkungen der Schutzmaske entscheidend: Ein D-Lächeln kann deutlich schlechter wahrgenommen und von einem künstlichen Lächeln unterschieden werden, wenn die betreffende Person eine Maske trägt. Zwar ist die beteiligte Augenpartie sichtbar, die aber ebenso am D-Lächeln beteiligte Mundpartie jedoch nicht. Es ist also unmöglich zu sehen, ob sich die Lippen und die Mundwinkel bei einem Lächeln in natürlicherweise verziehen oder nicht. In einem weiteren Punkt, erschwert also die Schutzmaske das intuitive und natürliche Verständnis zwischen den Menschen.

Ich sehe nicht, dass Du errötest

Ein weiterer Gefühlsausdruck, der dem Menschen eigen ist, kann wegen der Schutzmaske nicht mehr gelesen werden: das Erröten. Tatsächlich ist der Mensch die einzige Spezies im gesamten Tierreich, die errötet. Charles Darwin nannte daher dieses Phänomen "die eigentümlichste und menschlichste aller Ausdrucksformen." Das Erröten hat eine ganz besondere Funktion in der menschlichen Kommunikation, und sie hat nichts mit der Märchenprinzessin zu tun, wenn sie in einem Hollywoodstreifen ihrem Prince Charming begegnet.

Dacher Keltner resümiert die Bedeutung des Errötens: "Es ist der Ausdruck der Beschämung, die versöhnt, die Menschen in Kontexten von Distanz und wahrscheinlicher Aggression zusammenbringt." Kurz gesagt: Das Erröten ist ein Friedenssignal, da der Mensch seine eigene Verlegenheit und Beschämung zeigt. Aber durch die Maske kann dieses Zeichen nicht mehr wahrgenommen werden.

Möglicherweise ein historischer Vorläufer

Der Chirurg und Geburtshelfer Ignaz Semmelweis entdeckte in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Bedeutung der Hygiene. Insbesondere führte er das Kindbettfieber auf mangelnde Hygiene zurück. Semmelweis, der ein tragisches Ende fand, dürfte sicherlich Hunderttausenden Menschen durch seine bahnbrechende Erkenntnis, die sich erst im 20. Jahrhundert durchsetzen konnte, das Leben gerettet haben.

Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Erkenntnis über die geradezu existentielle Bedeutung der Hygiene wurde gerade in Waisenhäusern massiv auf das Einhalten der Hygienevorschriften geachtet und aus Sorge vor Infektionskrankheiten auf möglichst jeden Körperkontakt verzichtet. Insbesondere Dr. John Watson, der Mitbegründer des Behaviorismus, machte sich für diese Richtung stark und gab seinen generellen Erziehungsrat: "Umarmen und küssen Sie (Ihre Kinder) niemals, lassen Sie sie nie auf Ihrem Schoß sitzen. Wenn es denn sein muss, küssen Sie sie einmal auf die Stirn, wenn Sie 'Gute Nacht' sagen. Geben Sie ihnen am Morgen die Hand."

Einige Mediziner und Verhaltensforscher plädierten sogar für den vollständigen Verzicht auf körperliche Nähe. Der Haptikforscher Prof. Martin Grunwald von der Universität Leipzig gibt hierbei zu bedenken: "Dass körperliche Nähe einen Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes haben könnte, erschien angesichts der vielen medizinischen Erfolge bei der Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit Anfang des 20. Jahrhunderts geradezu absurd."

Resultat der Beherzigung dieser scheinbar absoluten wissenschaftlichen Erkenntnis: In den 1910er- und 1920er-Jahren lag in den Waisenhäusern der USA die Kindersterblichkeit in den ersten beiden Lebensjahren bei unfassbaren 32 bis 75 Prozent. In einigen Waisenhäusern erreichte die Sterblichkeit sogar 100%. Erst als 1931 die Kinderärztin Harry Bakwin einen Zusammenhang zwischen Säuglingssterblichkeit und emotionaler Verkümmerung feststellte, fand die bislang praktizierte Radikalkur ein Ende.

Kind nicht mit dem Bade ausschütten

Selbstverständlich hinkt dieses historische Beispiel sehr stark als Vergleich zur aktuellen Krise. Dennoch sollte es die Gefahr eines monokausalen Denkens und der Unkenntnis der menschlichen Natur aufzeigen. Maßnahmen, die aus rein medizinischer Sicht unbezweifelbar Sinn machen, gehen nicht zwangsläufig ohne gravierende Nebenwirkungen einher. In diesem Sinne stellt sich die wichtige Frage, ob derzeit in ausreichendem Masse die Nebenwirkungen eingeschätzt und berücksichtigt werden.

Ein grundlegender Gedanke soll die Untersuchung der möglichen Nebenwirkungen der Maßnahmen zur Eindämmung des Virus abschließen. Alle dargestellten Maßnahmen trennen die Menschen von einander und schaffen eine Distanz unter ihnen. Dabei brauchen wir gerade jetzt mehr Solidarität, Zusammenhalt und Altruismus denn je. Aber die geschaffene Distanz erschwert das Mitgefühl, weil diese Nähe bedarf, um empfunden zu werden. Es gilt sich dieses Problems bewusst zu sein und für diese Zeit auch ganz bewusst die Antennen des Mitgefühls auszufahren und für den Mitmenschen da zu sein.

Ebenso gilt es auch bei der Erziehung von Kleinkindern und Kindern sowie bei der Begegnung mit diesen zu berücksichtigen, dass diese Generation das Unglück hat, in einer Zeit zu leben, in der die natürliche Ausbildung von Spiegelneuronen und Mitgefühl eingeschränkt ist. Entsprechend bedürfen die Kleinkinder und Kinder unserer besonderen Aufmerksamkeit und Nachsicht. Eine bedrückende Darstellung des Alltags in den Grundschulen macht dies deutlich.

Benutzte Bücher: Bartens, Werner: Berührung. Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst. Bregman, Rugter: Im Gunrde gut. Breithaupt Fritz: Kulturen der Empathie. Grunwald, Martin: Homo Hapticus. Harari, Yuval Noah: Homo Deus. Keysers, Christian: Unser empathisches Gehirn. Keltner, Dacher: Born to be good. Ricard, Matthieu: Allumfassende Menschenliebe. Rifkin, Jeremy: Die emphatische Zivilisation. Thadden, Elisabeth von: Die berührungslose Gesellschaft. Tomasello, Michael: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens.

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen"

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