Mit dem Zeh im Sand

Die persönliche Handschrift lässt sicher kaum Rückschlüsse auf den Charakter zu - möglicherweise aber auf den Gesundheitszustand

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Die Graphologie, die als Technik zur Persönlichkeitsbeurteilung seit Jahren ihr Unwesen treibt, könnte unter Forschungsbedingungen eventuell Aussagen über die Verfassung des Gehirns und des Gedächtnisses zulassen, berichtet New Scientist in der aktuellen Ausgabe.

Lexikalisch als "Lehre von der Deutung der Handschrift als Ausdruck des Charakters" ausgewiesen, ist bis heute keine einzige wissenschaftliche Studie zu dem Resultat gekommen, dass die Graphologie dahingehend eine nennenswerte Aussagekraft besitzt.

Der Fall des Mad Bomber ist wohl der einzig hinreichend dokumentierte, bei der die "Wissenschaft" der Graphologie einen Erfolg verbuchen konnte. Der Mad Bomber terrorisierte in den 40er und 50er Jahren New York und wurde schließlich gefasst, weil ein veröffentlichtes graphologisches Gutachten ihn zu weiteren handschriftlich verfassten Briefen provoziert hatte, die immer mehr Hinweise auf seine Person ergaben.

Aber anstatt inzwischen in wohl verdiente Vergessenheit geraten zu sein, erfreut sich diese Technik zur Charakterdeutung merkwürdigerweise nach wie vor großer Beliebtheit. Während die Aussagekraft anderer Deutungstechniken, die lediglich zu nicht beweisbaren bis schlicht nicht nachvollziehbaren Ergebnissen kommen, zumindest offiziell angezweifelt wird, verweisen u.a. große Konzerne gern darauf, dass sie ihre wichtigsten Mitarbeiter niemals ohne ein graphologisches Gutachten auswählen. Und das, obwohl sogar die Handschriftendeuter selbst darauf hinweisen, dass schon ein banaler Umstand wie etwa Kurzsichtigkeit zu Verfälschungen des Schriftbilds führen könnte. Schätzungsweise 15 Prozent der europäischen Firmen verlassen sich heute auf diese Form der Charakteranalyse.

So widersinnig es erscheint, aus der Handschrift allein Persönlichkeitsmerkmale ableiten zu wollen, so gesichert scheint die Erkenntnis, dass Schriftbilder eindeutige individuelle Merkmale besitzen. Laut Alan Wing vom Sensory Motor Neuroscience Centre an der Unversity of Birmingham kann man den individuellen Stil des Verfassers auch noch erkennen, wenn er mit einem Zeh in den Sand geschrieben hat. Diese Form der Beständigkeit wird motorische Äquivalenz genannt und legt den Schluss nahe, dass die im Gehirn gespeicherten Bewegungsabläufe aus wesentlich komplexeren Codierungen bestehen als nur aus vereinzelten Kommandos an die Muskeln.

Michel Rijntjes und seine Kollegen an der Universität Hamburg haben Freiwillige an einen Computertomographen angeschlossen und sie dann sowohl mit Händen als auch mit Füßen schreiben lassen. Dabei fanden sie heraus, dass beim Schreiben in erster Linie der hintere parietale Kortex aktiv ist - gleichgültig, mit welchem der Gliedmaße gerade geschrieben wird. Diese Region ist für alle Arten von Bewegung zuständig. Die visuellen Regionen des Gehirns sind beim Schreiben kaum beteiligt, was verständlich wird, wenn man sich vergegenwärtigt, dass beim routinierten Schreiben ein Strich viel zu schnell ausgeführt wird, um noch eine Rückmeldung der visuellen Region zuzulassen.

Die Tatsache, dass die Eigenschaften einer Handschrift so deutlich von den motorischen Regionen des Gehirns bestimmt werden, hat zu aufschlussreichen Krankheitsanalysen geführt. Unter Umständen können Veränderungen im Schriftbild einer Person etwas über seine neurologische und psychische Verfassung aussagen, lange bevor sich andere Symptome bemerkbar machen.

Mittels neuer Technik, die eine wesentlich genauere Messung der Parameter einer Handschrift erlaubt, werden dabei während des Schreibens Handschrift, Bewegungsablauf und -geschwindigkeit digital erfasst und ausgewertet.

Die parkinsonsche und die huntingtonsche Krankheit, Schizophrenie, Demenz, Multiple Sklerosis sowie zwanghafte Verhaltensstörungen sind nur einige der Beschwerden, die sich charakteristisch auf die Handschrift auswirken. Manche dieser Beschwerden sind nur schwer zu diagnostizieren - aber einige der Veränderungen in der Handschrift scheinen präzisere Anzeichen für das jeweilige Krankheitsbild abgeben zu können als die Symptome, die derzeit zur Diagnose herangezogen werden.

PARKINSON'S DISEASE: patients write smaller and more slowly than healthy controls. Acceleration phases are significantly longer

HUNTINGTON'S CHOREA: lower and less consistent writing speed and a tendency for less consistent stroke length

SCHIZOPHRENIA: inconsistent repetitive hand movements. Mean stroke duration and time spent in acceleration and are significantly longer

DEMENTIA OF ALZHEIMER'S TYPE: patients write less efficiently, with more cycles of acceleration and deceleration per writing stroke

MULTIPLE SCLEROSIS: writing speed is reduced and stroke duration is increased. The profile of pen speeds associated with a single stroke is irregular and multi-peaked, but stroke size is in normal range

Paraskevi Mavrogiorgou und ihr Team an der Klinik für zwanghafte Verhaltensstörungen (Obsessive Compulsive Disorder) der Universität München fanden heraus, dass OCD-Patienten vergleichsweise deutlich kleiner und langsamer schreiben, und dass sich diese Merkmale mit dem Grad der Obsession verstärken. Veränderungen im Schriftbild könnten also womöglich als Hinweis auf erste Anzeichen dieser Krankheit dienen.

Bleibt nur zu hoffen, dass die Erkenntnisse dieser Studien die selbst ernannten Graphologen nicht auch noch zu weiteren leichtfertig gemachten Schlussfolgerungen verleiten.