Mit falschen Papieren gegen "Euro-Anarchisten"

Seite 2: Deutsche Polizisten arbeiten für britische "Gesellschaft mit beschränkter Haftung"

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Ziercke erklärte im Innenausschuss, dass auch deutsche Undercover-Polizisten längst international aktiv sind und bei Gipfelprotesten eingesetzt werden. Zum G8-Gipfel im schottischen Gleneagles waren fünf verdeckte Ermittler des Landeskriminalamts (LKA) Berlin eingesetzt. Einem entsprechenden Bericht des Spiegel liegt das Protokoll der Innenausschuss-Sitzung von Ende Januar zugrunde, in der Jörg Ziercke, Chef des Bundeskriminalamts (BKA), über die Verwendung ausländischer Undercover-Polizisten in Deutschland Auskunft gab.

An Großbritannien verliehene Polizisten seien laut Ziercke von der britischen National Public Order Intelligence Unit (NPOIU) angefordert worden – offensichtlich nicht nur für den G8-Gipfel. Die NPOIU gehört zur National Extremism Tactical Coordination Unit (NETCU), die wiederum der Association of Chief Police Officers (ACPO) untersteht und als "Gesellschaft mit beschränkter Haftung" allgemeine Polizeiaufgaben übernimmt. Die NETCU geriet unter Beschuss, nachdem dubiose Ermittlungsmethoden ans Licht kamen. Mehrere Polizisten hatten Sexualität eingesetzt, um Vertrauen zu erschleichen oder Informationen zu erlangen. Der Innenminister hat der ACPO jetzt das Mandat der Führung von Spitzeln entzogen.

"We hate it!"

Mit der zunehmenden Überwachung unter Einsatz geheimdienstlicher Methoden werden antikapitalistische, antifaschistische, antirassistische und globalisierungskritische Aktivisten unter Kontrolle gebracht. Ihr Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen politischen Strömungen in Deutschland, eine reale grenzüberschreitende Vernetzung, ist deutschen Behörden verdächtig.

Im Innenausschuss hatte BKA-Chef Ziercke von einer "Europäisierung der Anarchoszene" gesprochen. Aktivisten aus Griechenland, Spanien, Großbritannien, Frankreich, Dänemark und Deutschland würden "schwerste Straftaten" begehen. Derartige Hinweise seien für den G8 in Heiligendamm auch aus Großbritannien eingegangen. Weder sind "schwerste Straftaten" allerdings eingetreten, noch war seitens des BKA an anderer Stelle etwas dazu zu hören. Die Razzien vor dem deutschen G8 wurden ähnlich begründet, ein entsprechendes Ermittlungsverfahren nach 40 Hausdurchsuchungen und Anhäufung von 80.000 Seiten voller Erkenntnisse später klammheimlich eingestellt.

Der BKA-Präsident belehrt den Innenausschuss, dass Polizeien zukünftig "international und konspirativ" agieren müssten. Ziercke erklärt den Abgeordneten, die Polizeien der EU-Mitgliedstaaten würden ihre Spitzeln gegen "Euro-Anarchisten, militante Linksextremisten und -terroristen" in Stellung bringen. Das Vokabular ist aufschlussreich: Der absurde Begriff "Euro-Anarchisten" ist beispielsweise im deutschen Sprachraum bislang nicht gebräuchlich. Was soll er auch bedeuten?

Erstmals eingeführt wurde das Gespenst von Euro-Anarchisten als "Kartell europäischer Anarchistengruppen" vom damaligen italienischen Innenminister Guiseppe Pisanu 2003 zur Bezeichnung einer auch unter linken Gruppen anrüchigen "Federazione Anarchica Informale" (F.A.I.). Der Name ist die Abwandlung einer anderen anarchistischen Gruppe, der "Federazione Anarchica Italiana". Die von Pisanu in den Fokus gerückte F.A.I. übernahm in den letzten Jahren mehrmals die Verantwortung für Briefbombenanschläge und war deshalb eine Zeitlang auf der EU-Terrorliste geführt ("Zivile Todesstrafe").

Ähnlich hatte sich beim 2005 zahlreich vorgetragenen Gipfelprotest in Gleneagles, der laut Ziercke mithilfe deutscher Polizisten infiltriert wurde, Tony Blair geäußert. "We hate it!", beschwerte sich der Premierminister gegenüber der Presse, da sich die Führer der größten Industriestaaten hinter einem Zaun verstecken müssten. Obschon über hunderttausend Demonstranten rund um das Tagungshotel die Zufahrten blockierten und am Absperrzaun rüttelten, machte Blair "kleine Gruppen internationaler Anarchisten" dafür verantwortlich, dass sich die G8 nicht händeschüttelnd mit der Dorfbevölkerung fotografieren lassen können.

Womöglich liegt also der Schlüssel zur Undercover-Zusammenarbeit gegen "Euro-Anarchisten" in der Sicherheitszusammenarbeit für die Gipfel von G8, G20, NATO und COP 15 in Gleneagles, Heiligendamm, London, Strasbourg und Kopenhagen. Unwahrscheinlich ist das nicht: Der für den G8-Gipfel in Deutschland zuständige Polizeichef Knut Abramowski war beispielsweise anlässlich des G8-Protests in Schottland 2005 bei britischen Behörden zu Besuch.

Wenig wurde indes zur Rolle Frankreichs innerhalb der internationalen verdeckten Polizei-Konspiration bekannt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben auch französische Behörden Spitzel in internationalen Bewegungen platziert. Die ehemalige Innenministerin Michèle Alliot-Marie schuf 2008 den Begriff einer "anarcho-autonomen Bewegung", die über beste Kontakte ins Ausland verfüge. Auf dem Konstrukt basierte nicht nur eine der spektakulärsten Repressionswellen (Hakenkrallen "Made in Germany"?) der letzten Jahre, es half auch bei der Reorganisation des französischen Polizeiapparates. Anlässlich des deutsch-französischen NATO-Gipfels 2009 wurde die bilaterale Polizeizusammenarbeit in den höchsten Tönen gelobt. Das dürfte auch für internationale Spitzel-Teams gelten, die beiderseits der Grenze Vorbereitungstreffen und Informationsveranstaltungen infiltriert hatten.

"Greetings from America!"

Scheinbar kooperieren nicht nur die Polizeien der EU untereinander, gespitzelt wird auch auf Ebene der G8-Staaten. Anders ist es nicht zu erklären, dass eine FBI-Informantin Kontakt zu Aktivisten der G8-Proteste in Gleneagles aufnehmen wollte. "Greetings from America!", schrieb eine "Anna", die zuvor im Zusammenhang mit der Verhaftung von drei US-Umweltaktivisten der Organisation "Earth First!" geholfen hatte. "Anna" pries ausdrücklich ihre angeblichen Erfahrungen bei der Vorbereitung rund um den G8 2004 in den USA an.

Der britische Polizist Mark Kennedy soll andersherum über eine - ungewöhnlich lange - Arbeitserlaubnis (bis 2013) in den USA verfügen. Aktivisten hatten ihn zufällig in New York getroffen. Auf seine Aktivitäten angesprochen erklärte der 41jährige, er würde sich dort mit Protagonisten der Gipfelproteste gegen den japanischen G8 2008 treffen, die zu der Zeit auf einer Rundreise in den USA gewesen waren.

Auch das BKA hatte japanische Behörden anlässlich des Gipfels mit Informationen über die unter absurden Vorwürfen durchgeführten Razzien kurz vor dem deutschen G8-Gipfel beliefert und über womöglich zu erwartende deutsche antikapitalistische Gruppen berichtet, darunter die "Interventionistische Linke", das Netzwerk "Dissent!" und andere Anti G8-Bündnisse. "Nach Einschätzung der Bundesregierung ist Japan an den deutschen Erfahrungen interessiert", schrieb die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage. Entsprechende Informationen würden auch künftig "auf japanische Anfrage, soweit möglich", zur Verfügung gestellt.

Ziercke wird im Spiegel zitiert, er habe für die grenzüberschreitende Spitzelei "stets Lob von Seiten der Politik bekommen". Gut möglich, dass die spätestens 2005 in Schwung gekommene internationale Ausleihe verdeckter Ermittler auch zur Ausforschung der Proteste in Japan genutzt wurde. Womöglich arbeiten deutsche Polizisten auch mit Undercover-Kollegen aus den USA zusammen. Die Kooperation mit Russland, ebenfalls G8-Staat, scheint indes an Relikten des Kalten Krieges zu scheitern.

Die britischen Spitzel "Marco Jacobs" und "Lynn Watson" hatten zwar die aus Großbritannien 2006 vorbereiteten Proteste unterwandert. Ihre angekündigte Teilnahme an Gegenaktivitäten in St. Petersburg sagten sie indes kurzerhand ab. Geargwöhnt wird, dass russische Behörden die Reise mit falschen Papieren nicht genehmigten.