Mörderische Arbeitsbedingungen und individuelle Verzweiflungsakte
Weitere Selbstmordversuche bei Angestellten von France Télécom
Gestern wurde eine Angestellte in Metz gefunden, bewusstlos von einer Überdosis Barbiturate, ein Selbstmordversuch, wie berichtet wird.Nähere Angaben wollte die Direktion von France Télécom noch nicht mitteilen. In der offiziellen Erklärung heißt es, dass genau das passiere, was man am meisten befürchte: ein Ansteckungs-Effekt. Die absolute Priorität bestünde seit Freitag darin, diese tödliche Spirale zu beenden.
Am vergangenen Freitag hatte sich eine Télécom-Angestellte in Paris aus dem Fenster gestürzt; sie verstarb später an ihren schweren Verletzungen. Am Mittwoch zuvor versuchte sich ein Télécom-Techniker während einer Mitarbeiterversammlung umzubringen. Mit einem Messer, das er sich in den Bauch stieß.
Die Selbstmordserie währt schon länger: Seit Februar 2008 haben sich laut Angaben von Le Monde 23 Angestellte des französischen Telekommunikationunternehmens umgebracht.
Das Observatoire du stress et des mobilités forcées de France Telecom, gegründet in der Folge der Privatisierung von France Télécom, weist den Arbeitsbedingungen und damit der Führung des Unternehmens eine große Mitverantwortung für die Serie der Selbstmorde zu. Gegen die offiziellen Linie der Chefetage, die sich zunächst aufs Abwiegeln konzentrierte, sucht man die Erklärungen für die Verzweiflungstaten in der Härte der Arbeitsbedingungen bei France Télécom und weniger in „persönlichen Dispositionen“, dem Argument, das Vertreter des Unternehmens immer wieder anführen.
Der Konflikt zwischen den beiden Erklärungsansätzen schwelt seit Monaten (siehe Persönliches Drama oder die Schuld des Unternehmens?). Als offenkundige Beweise für die Sichtweise des Observatoires werden Klagen von vielen Mitarbeitern angeführt, die von unerträglichen Veränderungen in Folge der Umstrukturierung des ehemaligen Staatsbetriebs berichten. Stichwort dafür sind die "mobilités forcées", erzwungene Flexibilität, längere Wege zur Arbeit, weil Filialen aufgelöst wurden, neue Arbeitszeiten, neue Arbeitsplätze - Techniker, die in den Bürodienst oder Verkauf delegiert werden, etc.; sehr oft wird auch das deprimierend schlechte Arbeitsklima erwähnt, das als brutal empfundenen Ausrichtung auf Effizienzkriterien einen schlimmen Nährboden findet.
Der Abschiedsbrief eines Angestellten vom 13.Juli dieses Jahres, hinterläßt den Leser fassungslos. Weil er das Dokument eines Menschen ist, der seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Und weil er - wie die Aussage eines Kronzeugen - dafür genau die Gründe aufführt, die das Observatoire du stress immer schon als Hauptgrund für die Selbstmordwelle geltend gemacht hat:
Ich habe mich wegen meiner Arbeit bei France Télécom umgebracht. Das ist der einzige Grund.
Dauernde Dringlichkeit, überlastet von der Arbeit, das Fehlen von Ausbildung, die totale Desorganisation des Unternehmens. Ein Management, das über Terror funktioniert.
Das hat mich selbst völlig durcheinandergebracht und verstört. Ich bin zum Wrack geworden, es ist besser, dem ein Ende zu setzen.
Weiter berichtet der Angestellte vom bösen Blut, das eine vom Unternehnem in einem geheim zu haltenden Schreiben mitgeteilte Gehaltserhöhung unter seinen Kollegen verursachte. Der Angestellte zeigte dieses Schreiben seinen Kollegen, um nach seinen Worten für „Transparenz“ zu sorgen. Die Kollegen, unter denen viele „Null Gehaltserhöhung“ beklagten, machten ihm die Gehaltserhöhung zum Vorwurf, obwohl er, wie er beteuert, gar nicht um diese Gunst gebeten hatte. In seiner Verstörung habe er dann weitere Ungeschicklichkeiten begangen. Am Ende seines Briefes betont der Angestellte noch einmal, dass er France Télécom für seinen Selbstmord verantwortlich macht. Er erwarte, dass viele sagen würden, es gebe auch andere Gründe außerhalb der Arbeit, dass er alleine sei, ohne Kinder und dass er vielleicht Schwierigkeiten damit hatte, älter zu werden, denen halte er allerdings entgegen, dass er sich immer „gut durchgeschlagen“ habe.
Die Führung des Telekommunikationunternehmens hatte in offiziellen Erklärungen immer wieder darauf hingewiesen, dass jeder Selbstmordversuch ein „individueller Fall“ sei, dessen Erklärung mit psychischen Dispositionen in Zusammenhang gebracht werden muss. Begründungen für diese Perspektive lassen sich auch in den jüngsten Fällen finden. So zitiert Le Monde im Fall der jungen Telekom-Angestellten, die sich vergangene Woche aus dem Fenster gestürzt hat, die Aussage der Telekom-Führungskraft Barbara Dalibard, mit den Worten, dass es sich um eine „zerbrechliche Person“ gehandelt habe, die seit längerer Zeit schon in Behandlung von Psychologen und Arbeitsmedizinern gewesen sein soll und einer sozialen Hilfeeinrichtung des Unternehmens unterstützt wurde.
Für die Arbeitnehmervertretung – das Observatoire stammt aus einer Intiative der Gewerkschaften CFE-CGC und Sud - ist dieses Erklärungsmuster ein exepemplarischer Versuch, von den Problemen abzulenken, die im Unternehmen herrschen. Mittlerweile läßt sich auch bei Telekom ein Abweichen von der ursprünglichen Argumentationslinie feststellen; man will die Probleme „sehr ernst“ nehmen, betont man in der Öffentlichkeit. Alle Maßnahmen, die den Mitarbeiter einen Wechsel des Arbeitsplatzes innerhalb des Unternehmens vorschreiben, werden zunächst ausgesetzt. Wie der Fall des Telekom-Mitarbeiters, der sich vergangenen Mittwoch vor versammelter Kollegenschaft mit einem Messer umbringen wollte, nahelegt, erklärt die Härte der erzwungenen Arbeitsplatzveränderung nicht zwingend alles. Zwar stand dem Techniker ein Abteilungswechsel ins Haus, aber er würde – im Unterschied zu vielen anderen - in der selben Stadt bleiben, am selben Standort und seine Tätigkeit als Techniker behalten.
Mittlerweile haben sich Minister in die Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaft und Unternehmen, bei dem der Staat der größte Aktionär ist, eingeschaltet. Die Wirtschaftsministerin Christine Lagard erklärte, dass es sich sicherlich um 23 individuelle Fälle von Selbstmorden handele, betonte aber, dass sie in „einem Unternehmen“ geschähen und oft mit dem „Ausdruck größter Verunsicherung“ und „großer Einsamkeit im Unternehmen“:
Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Unternehmen die Dinge nicht ändern kann.
Heute morgen empfing Arbeitsminister Xavier Darcos den Chef von France Télécom Didier Lombard zu einem Gespräch. Zuvor mahnte er, dass sich die Unternehmen heutzutage die Risikofaktoren in Betracht ziehen sollten, die die Organisation und die Veränderung der Arbeitswelt für die psychische Gesundheit darstellen.
Lombard bestätigte nach dem Treffen, dass man „diese Bewegung“ unbedingt stoppen müsse, es brauche einen neuen „Sozialvertrag“, die Betreuung der Angestellten müsse verbessert werden; man müsse ihnen mehr zuhören, zitiert der Nouvel Observateur den Vorstandsvorsitzenden. Die Direktion hatte zuvor 70 Arbeitsmediziner des Konzern, der etwa 100.000 Angestellte hat, in einem Schreiben angewiesen, Risikofälle sofort zu melden.