Moralische Reflexe statt Reflexivität
Seite 2: Objektivierte Individualität
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Die Individualisierung von Personen ist ein soziologisch wohlbekanntes Phänomen. Gemeint ist damit die sich ergebende Möglichkeit der Moderne, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, etwa abseits von familiären Zwängen, und die sich daraus ergebende gesellschaftliche Vielfalt von Lebensstilen.
Wenn wie folgt von "objektivierter Individualität" die Rede ist, sind hingegen Formen der Individualisierung gemeint, die sich spezifisch aus der Funktionsweise der sozialen Medien ergeben. Von objektivierter Individualität soll mit Blick auf die Profile von Nutzern sozialer Medien gesprochen werden. Die nach Möglichkeit massenhafte Vielzahl von gleichartigen Nutzerprofilen ist essenziell für die Funktionalität von sozialen Medien.3
Erläutert wird, dass soziale Medien einerseits die persönliche Wahrnehmung von Einsamkeit, andererseits die moralische Aufladung von Perspektiven vorantreiben.
Einsamkeit
Die moderne Erfahrung von Vereinzelung, des Erlebens von Einsamkeit ist natürlich kein neues, erst mit der Nutzung von sozialen Medien auftauchendes Phänomen der Massen. Davon legen etwa eindrücklich die schon lange populären Bilder Edward Hoppers Zeugnis ab.4 Es kann davon ausgegangen werden, dass es insbesondere die vielfach fragmentierten, Unverbindlichkeit fördernden Umwelten des modernen städtischen Lebens waren und sind, die die massenhafte (un-)persönliche Wahrnehmung sowohl von Freiheit wie auch Einsamkeit verursachen.
Allerdings scheint sich die persönliche Wahrnehmung von Einsamkeit in den letzten Jahren verstärkt zu haben. Dies zeigt etwa die Popularität von Publikationen wie "Die neue Einsamkeit: Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können" (von Diana Kinnert und Marc Bielefeld) oder "Zeitalter der Einsamkeit" (von Noreena Hertz). Die Funktionsweise der sozialen Medien legt nahe, dass diese weitverbreitete (Selbst-)Wahrnehmung zumindest mitbedingt ist durch die Nutzung dieser Formen von Kommunikation.
Die Funktionalität der sozialen Medien ist vom massenhaften Vorhandensein von Nutzerprofilen abhängig. Erst eine unüberschaubare Vielzahl von gleichartigen, gewissermaßen bindungslosen "Elementarteilchen" (Michel Houellebecq) ermöglicht, hier von einem Medium zu sprechen, dem Formen (hier: kommunikative Bindungen) aufgeprägt werden können. Etwa eine "Freundschaftsanfrage" bei Facebook, die angenommen wird; oder ein beidseitiger "Wisch" der Profilbilder mach rechts von Nutzern von Tinder.
Dabei ist festzuhalten, dass nur schon in der Nutzung selbst von sozialen Medien Unverbindlichkeit ein-, bzw. ausgeübt wird. Die Leichtigkeit und Zwanglosigkeit mit der Kontaktaufnahme möglich ist, ist durch die Kontingenz der Adressierten erkauft. Ein Kontakt mit einem bestimmten Nutzer (des Mediums) ist möglich, aber nicht unbedingt notwendig. Je leichter die Kontaktaufnahme mit einem Nutzer in sozialen Medien ist, desto unwahrscheinlicher wird, so ist anzunehmen, eine verbindliche und verbindende Fokussierung auf einen Kontakt.
Die Anwendung des Mediums selbst prägt Nutzern gewissermaßen eine Swingerclub-Mentalität auf: Alles kann, nichts muss. Es wäre naiv, davon auszugehen, dass dieses Problem durch die Intention eines verantwortlichen, Verbindlichkeit anstrebenden Gebrauchs dieser Medien in den Griff zu bekommen wäre. Denn oft soll, zumindest auf Dating Webseiten, Verantwortlichkeit, eine nach Möglichkeit gegenseitige (wertschätzende) Wahrnehmung von Individualität durch die Nutzung das Medium erst etabliert werden. Diese muss nicht schon vorweg gegeben sein.
Es handelt sich bei Sozialen Medien um eine kommunikative Innovation gesellschaftlicher Evolution mit der keine langfristigen Erfahrungen verbunden sind. Es macht z.B. Handlungsweisen wie das "Ghosting" wahrscheinlicher als zuvor. Ein Phänomen, das zeigt, dass die Wahrnehmung einer verantwortungslosen Unverbindlichkeit, die Nutzern von sozialen Medien aufgeprägt wird, das Potenzial hat, von Nutzern internalisiert oder generalisiert zu werden.
Dies auch deshalb, einmal mehr, weil Nutzer von sozialen Medien üblicherweise personalisierte Medien erstellen. Nämlich Listen von vielen hunderten oder gar tausenden von Kontakten, die zwar einmal mehr Kontaktaufnahme erleichtern, aber in der Tendenz auch Unverbindlichkeit zu individuellen Personen nahelegen, bzw., die Exklusivität von Bindungen zwischen Kontakten unwahrscheinlicher machen.
Nicht zuletzt ist festzuhalten, dass die Erfahrung oder Wahrnehmung von gemeinsamen, geteilten Umwelten Einsamkeit maßgeblich entgegenwirkt. Im Falle einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung mag diese Umwelt zeitweilig exklusiv auch eine andere Person sein. Hoffentlich in Gegenseitigkeit, um Fälle von "Stalking" zu vermeiden.
Schon die vielfältige Fragmentierung der Umwelten hatte sich im städtischen Leben, wie erwähnt, als Problem erwiesen. Mit dem Auftauchen von Smartphones hat sich das Problem von Einsamkeit fördernden ungeteilten Umwelten allerdings auf extreme Weise verschärft.
Mittlerweile muss nicht mehr nur von fragmentierten, sondern von Einsamkeit fördernden individualisierten Umwelten von Personen die Rede sein. Wenn Studien stimmen, dass Personen mittlerweile durchschnittlich fast vier Stunden täglich vor den Bildschirmen ihrer Smartphones verbringen, dann muss sogar von einem Vorherrschen von maßgeblich ungeteilten Umwelten die Rede sein.
Dass es mittlerweile gar nicht so wenige Fälle von Personen gibt, die die geteilte, damit Gemeinschaft stiftende Umwelt eines Gefängnis einer individuellen, doch einsamen Freiheit vorziehen, erstaunt deshalb nicht.
Moralisierung
Vorbei sind die Zeiten, in denen oben erwähnte, wegen eines mutmaßlich rassistischen Tweets geschasste Redakteurin in spe zu ihrer Verteidigung das wohl fälschlicherweise Konrad Adenauer zugeschriebene Bonmot hätte anführen können: "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, weiser zu werden."
Die Nutzerprofile der Sozialen Medien fingieren eine Stabilität und Kontinuität von "Individualität", die vollkommen unrealistisch ist. Nutzerprofile bieten derart ideale Ankerpunkte für die Zuschreibung von moralischen Urteilen und Bewertungen. Personen kann hier, auf ihre dauerhaft gespeicherten Posts Bezug nehmend, unabhängig von Situationen, und so gewissermaßen verabsolutierend, Achtung, bzw., Missachtung zugerechnet werden.
Doch nicht nur in der effektiven situationsunabhängigen individuellen Zuschreibung von Kommunikation sind soziale Medien anfällig für Moral. Auch deren Nutzung legt moralische Kategorien nahe. Soziale Medien motivieren durch die Möglichkeit, Achtung, Aufmerksamkeit und Anerkennung zu finden. So etwa durch die Vielzahl der "Freunde" oder "Follower", oder die Vielzahl von "Likes", Kommentaren, oder geteilten, etwa "retweeteten" Beiträgen. Achtung und Anerkennung wird auf diese Weise greifbar, objektiv mess- und steigerbar.
Die vorgebliche Objektivität der Messgrößen für Anerkennung und Aufmerksamkeit, Achtung und Missachtung, die soziale Medien etwa in der Form von Likes (resp. deren Abwesenheit) erlaubt, kommt moralischer Kommunikation zugute. Schließlich strebt Moral Werturteile an, die sich nach Möglichkeit nicht leichthin reflektierend – eben durch den Verweis auf Situativität – relativieren lassen.
Auch die wohl am meisten verbreitete Form schlicht ignorierter Kommunikation der sozialen Medien ist anfällig für Moral. Kann diese doch unschwer als persönliche Missachtung interpretiert werden und zu extremeren, provokanteren kommunikativen Beiträgen motivieren, um endlich Aufmerksamkeit zu erlangen.
Sei dies nun in Form der Zuschreibung von Achtung oder Missachtung. Dass sich (politisch verwertbare) Aufmerksamkeit insbesondere durch Missachtung provozierende Beiträgen hervorrufen lässt, hat Donald Trump über Jahre hinweg eindrücklich gezeigt.
Nicht zuletzt ist festzuhalten, dass auch das Design der sozialen Medien einmal mehr moralische Kommunikation provoziert. Die Zeichenbegrenzung bei Twitter etwa legt nicht lange, ausgewogene, reflektierende, sondern kurze, angriffige, bissige, Beiträge nahe. Dabei muss unabhängig von Twitter davon ausgegangen werden, dass kurze provokante und streitlustige Beiträge mehr Aufmerksamkeit generieren, als lange, ausgewogen reflektierende Posts.
Es ist notwendig, sich vor Augen zu halten, dass die Nutzerprofile der sozialen Medien in ihrer viel-milliardenfachen Anzahl alle Differenzierungsformen der Gesellschaft kommunikativ durchdringen. Sozialen Medien in ihrer Anfälligkeit für moralische Kommunikation kommt daher ein alle Formen der Gesellschaft korrumpierendes Potenzial zu. Denn offenkundig können soziale Medien weitgehend die Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Bewertung gesamtgesellschaftlich synchronisierend auf ein Thema lenken.
Soziale Medien können thematisch synchronisierend auf persönliche Interaktionen, auf Organisationen und auf Funktionssysteme, wie etwa Wirtschaft, Wissenschaft, Massenmedien oder Politik, einwirken. Die dadurch möglich gewordene umfassende, gesamtgesellschaftliche Fokussierung auf ein Thema (Corona!) wäre vor einigen Jahrzehnten noch unvorstellbar gewesen.