Moralische Reflexe statt Reflexivität

Seite 3: Lockdown als Phänomen der Moral

Hier beschriebene "Megatrends" scheinen in den gesellschaftlichen Lockdowns zu kulminieren. Vereinzelung, "social distancing", einerseits, ist eines der primären Mittel der Wahl um die Pandemie zu bekämpfen. Die moralische Unterdrückung von Reflexivität, andererseits, ermöglicht, dass eine epidemiologische Perspektive eine Dominanz gewinnt, der sich alle andere gesellschaftlichen Blickwinkel (wirtschaftliche, politische, künstlerische, erzieherische, religiöse etc.) unterzuordnen haben. Die aktuelle Referenz auf ein gefährliches Virus scheint fast als Geburtshelfer zu dienen, um ohnehin bestehende gesellschaftliche Trends der letzten Jahrzehnte vollends zu verwirklichen.

Tatsächlich ist die Wahrnehmung von Ereignissen (wie aktuelle Pandemie) als Gefahr, die hinzunehmen ist, oder als Risiko, dem handelnd entgegnet werden kann, kontingent.5 Es hängt von den aktuellen Gesellschaftsstrukturen, von der Wahrnehmung der eigenen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten ab, ob ein Ereignis fremdreferenziell als Gefahr, die mehr oder minder zu akzeptieren ist, wahrgenommen wird, oder als Risiko, dem durch geeignete Maßnahmen entgegnet werden kann.6 Dies zeigt auch ein Blick auf Opfer des Straßenverkehrs oder von Zivilisationskrankheiten, wie Alkohol- oder Fettsucht. Die Ursachen dieser Todesfälle werden offenkundig eher als hinzunehmende Gefahr, denn als Risiko, das handelnd zu bekämpfen ist, wahrgenommen.

Auch die mit gegenwärtiger Pandemie vergleichbaren Pandemien von 1957 (Asiatische Grippe) und 1968 (Hongkong Grippe) wurden lediglich als Gefahren wahrgenommen (als übliche "Lebensrisiken"), die weithin passiv hinzunehmen sind und insofern kaum bemerkt wurden. Sie hinterließen kaum Spuren im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft. Dies gleichwohl die faktische Gefährdung der damaligen Pandemien derjenigen von heute entspricht. Es wird davon ausgegangen, dass damals global, hochgerechnet auf die heute Weltbevölkerung, je zwischen zwei und acht Millionen Menschen starben.7

Es ist demnach nicht ausschließlich die "objektive" Gefährlichkeit der Corona-Pandemie die Lockdowns unabdingbar notwendig macht, wie Moral glauben lassen will. Vielmehr erlauben die gegenwärtige, durch "Digitalisierung" ermöglichten gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten (etwa "homeoffice", "homeschooling", "homeshopping"), Covid-19 als Risiko wahrzunehmen, als Ereignis, dem handelnd zu entgegnen ist. Gegenwärtige Maßnahmen zur Abwehr der Pandemie wären noch vor ein paar Jahrzehnten undenkbar gewesen.

Funktional kommt der Risikoaversion der Moral die Bedeutung zu, schnell auf wahrgenommene Gefahren reagieren zu können. Reflexivität in Form von Einwendungen, kritischen Vorbehalten, Missbilligungen, Widerspruch bedarf der Zeit. Eines Zeitaufwands, sagt die Moral, den wir uns im Angesicht von Gefahren, die schnelles, unmittelbares Handeln erfordern, gar nicht leisten können. Moral hat deshalb die Tendenz, kritischen Widerspruch zu diskreditieren. Etwa im Naserümpfen vor Querdenkern, Covidioten, Corona-Leugnern und -Kleinrednern, Maskenverweigerern, Kritisch-Hinterfragern.

Im massenmedialen Mainstream (Zeitungen und Fernsehen) kommen daher grundsätzlich alternative Perspektiven, die defätistisch wirken könnten, kaum vor. Gleichwohl natürlich "im Netz" oder den sozialen Medien Auffassungen und Meinungen jedweder Couleur zu finden sind. Diese können zwar marginalisiert, aber kaum unsichtbar gemacht werden. Moral kann immerhin festhalten, dass "das Netz" ein Tummelplatz von Covidioten und Verschwörungstheoretikern ist, hier zu findende Auffassungen nicht ernst zu nehmen sind.

Der funktional notwendige, Gefahren abwehrende Tunnelblick der Moral erlaubt deshalb prinzipiell nicht, sich selbst zur Disposition zu stellen. Kritische Einwendungen, etwa, dass Lockdowns zu einem globalen wirtschaftlicher Notstand führen, sich der Tod durch Hunger vervielfachen wird, Massenarbeitslosigkeit, die Vernichtung von wirtschaftlichen Existenzen vor allem im künstlerisch-kulturellen Bereich, in der Gastrobranche und der Tourismusindustrie zu erwarten ist, mag Moral allenfalls – unmoralischerweise? - ein reflexhaftes Achselzucken zu entlocken. Die Kritik kann aber nicht reflektierend oder argumentativ aufgenommen werden.

Es muss davon ausgegangen werden, dass es die milliardenfache Anzahl der Nutzerprofile ist, die den erstaunlich stabilen, mit Scheuklappen bewährten Blick auf Corona ermöglicht. Eine Perspektive also, die alle anderen gesellschaftlichen Sichtweisen lediglich unter dem Vorbehalt der einschränkenden Berücksichtigung des Senkens "hoher Fallzahlen" ermöglicht oder zulässt. Die, wie erwähnt, für Moral anfälligen Nutzerprofile durchdringen alle funktionalen Bereiche der Gesellschaft und vermögen so die gesellschaftliche Wahrnehmung und Bewertung unmittelbar und umfassend zu beeinflussen, bzw., gar zu korrumpieren.

Die "schlimmen Bilder aus Bergamo" etwa, oder Videos "aus der Intensivstationen in Wuhan", die durch soziale Medien global und gesellschaftsweit mit Lichtgeschwindigkeit Verbreitung fanden und finden, gaukeln einen unmittelbaren Blick auf eine gewissermaßen ungefilterte Realität vor. Auf eine gefährliche Realität, auf die augenblicklich, ohne zu zögern, reagiert werden muss.

Derart vermag Moral auch das Spezialistentum für den Blick auf die Realität, nämlich wissenschaftliche Perspektiven, zu korrumpieren. Etwa in der Auswahl nur "seriöser" Wissenschaftler, die das Faktum einer Gefährdung auch wissenschaftlich kaum zu relativieren vermögen. Eine andere Auswahl wäre nämlich gerade dies: zu gefährlich und eben deshalb moralisch fragwürdig.

Es ist naiv, davon auszugehen, dass es eine Zeit vor und nach Corona geben wird. Nicht allein ein Virus in seiner "Objektivität", das lediglich erfolgreich zu bekämpfen ist, "wird uns unsere Freiheit, unser Leben wiedergeben", wie Moral behauptet. Hauptursache aktueller Krise ist die spezifische (veränderte) Form der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Gefahren und Risiken.

Der oft als "Digitalisierung" beschriebene Strukturwandel der Gesellschaft und sich dadurch ergebende neue Möglichkeiten des gesellschaftlichen Wahrnehmens, Bewertens und Handelns haben offenkundig dazu geführt, dass wir einerseits Kontrollmöglichkeiten in der Bekämpfung von äußeren Gefahren überschätzen. Andererseits Risiken und Gefahren, die mit gegenwärtigem moralischen Tunnelblick einhergehen, unterschätzen.

Die Krise zeigt, dass gegenwärtige sich durch Digitalisierung rasch verändernde Gesellschaft noch nicht gelernt hat, selbst- und fremdreferenzielle Bezüge "weise" auszutarieren. Also zwischen Ereignissen zu unterscheiden, die ein mutiges, riskantes Handeln erfordern, und Ereignissen, bei denen es besser ist, eine Haltung der Gelassenheit einzunehmen. Vorerst bleibt uns hier nur die – mutige, gelassene, weise, resignative, gar zynische? – Anrufung "höherer Instanzen", um Abhilfe zu verschaffen:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Reinhold Niebuhr