Moskau sperrt Zugang zu 81 europäischen Medien – westliche Empörung folgt

Auch AFP steht auf der Liste des ROM-Außenministeriums. Bild: Victor Velter /Shutterstock.com

Moskau blockiert 81 europäische Medien, der Westen empört sich. Gegenseitige Abschottung führt in gefährliche Filterblasen. Droht eine endgültige Spaltung?

Die Entrüstung über die jüngsten Medienzugangssperren des russischen Außenministeriums ist nicht falsch. Sie ist begründet, aber billig, und sie kratzt nur an der Oberfläche. Dagegen wird die Haut der großen Filterblasen immer dicker und undurchlässiger.

Die Sache, um die es geht, ist teuer: Informationsfreiheit. Der freie Westen könnte hier Maßstäbe setzen und seine Softpower-Trümpfe gegen eine autoritär agierende Macht, die zunehmend repressiver wird, ausspielen. Das verlangt jedoch einen hohen Aufwand und Vertrauen in die Öffentlichkeit. Vorausgesetzt, man will ein waches, unorthodoxes politisches Immunsystem. Dazu gehört Toleranz.

Die Entscheidung des Außenministeriums der Russischen Föderation traf 81 europäische Medien. Auf dessen englischsprachiger Webseite teilte man am vergangenen Dienstag mit:

Als Reaktion auf den Beschluss des EU-Rates vom 17. Mai, der ein Sendeverbot für drei russische Medien, darunter RIA Novosti, Izvestia MIC und Rossiyskaya Gazeta, mit Wirkung vom heutigen 25. Juni vorsieht, werden Gegenmaßnahmen ergriffen, die den Zugang zu Rundfunkressourcen in der Russischen Föderation für Medien der EU-Mitgliedstaaten und EU-Medienbetreiber einschränken, die systematisch falsche Informationen über die militärische Sonderoperation verbreiten.

Pressemitteilung, RU-Außenministerium

Ein Schwinger aus Moskau

Das ist ein Schlag mit großer Ausholbewegung, ein Schwinger, der eine vielköpfige Front treffen will. Moskau will zeigen, was man so im Repertoire hat im Kampf der Informationsräume.

Auf der langen Liste stehen glanzvolle, große Namen: Der Spiegel, Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Arte, ORF, The Irish Times, El Mundo, El Pais, La Stampa, La Repubblica, RAI, und in Frankreich die großen Medien: Le Monde, Radio France, Libération und die Nachrichtenagentur AFP.

Es sind hier nur die für eine deutsche Leserschaft bekanntesten Namen erwähnt, die vollständige Liste ist auf der Webseite des Außenministeriums nachzulesen. Wer sich etwas im größeren Informationsraum tummelt, weiß, dass manche Adresse auf der Liste punktgenau ausgesucht wurde, wie etwa die Orbán-kritische Webseite 444.hu..

Aber ist es ein Wirkungstreffer?

Die Empörung

Ja, wenn Entrüstung die Maßgabe ist. Wie beim Oktoberfestklassiker Hau den Lukas hats geklingelt. Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, ist hoch erbost. Seine Begründung ist genauso wie man sie erwartet, jeder kann sie im Schlaf hersagen, dazu braucht es keine KI.

Die EU verurteilt die völlig unbegründete Entscheidung der russischen Behörden, den Zugang zu über achtzig europäischen Medien in Russland zu sperren. (…)

Die verbotenen europäischen Medien arbeiten nach journalistischen Grundsätzen und Standards. Sie informieren sachlich, auch das russische Publikum, unter anderem über den illegalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.

Im Gegensatz dazu sind die russischen Desinformations- und Propagandasender, gegen die die EU restriktive Maßnahmen ergriffen hat, keine freien und unabhängigen Medien.

Josep Borell

Eine ganz ähnliche Klingel wird vom Deutschen Journalisten-Verband (DJV) und dessen Bundesvorsitzenden Mika Beuster betätigt.

Es sei unzumutbar, dass Außenminister Sergej Lawrow seine Propagandakanäle auf ein Niveau mit journalistischen Qualitätsmedien wie Spiegel, Zeit, FAZ, Le Monde, El Pais oder ORF zu heben versuche.

Beuster: "Unsere Medien dürfen nicht zu Spielbällen auf dem internationalen politischen Parkett werden." Er erwarte von den europäischen Institutionen sowie vom Auswärtigen Amt in Berlin eine deutliche Antwort auf die angedrohte Nachrichtensperre.

DJV-Pressemitteilung

Noch einmal, um voreiligen Missverständnissen zu begegnen: Die Reaktionen, die sich über die Einschränkung der Medienfreiheit in Russland beschweren, sind in der Sache richtig, aber kurzsichtig.

Der Autor dieses Beitrags hält es auch für richtig, einen Unterschied zwischen den Sendern Russia Today, Sputnik, die in der EU schon länger verboten wurden, sowie den jüngst von der EU sanktionierten Medien Rossiskaja Gaseta, die Plattform Voice of Europe und Iswestija, womit sich der Gegenschlag aus Moskau begründet, zu machen.

Arte etwa hat ein anderes journalistisches Kaliber, eine andere Spannweite, andere Graduierungen, Le Monde auch, der ORF auch, Die Zeit auch usw. die Liste lässt sich weit fortsetzen. Kritik an westlichen Verhältnissen gehört zum festen Kanon. Indessen RT seit dem Ukraine-Krieg vollends unter die Fahne gegangen ist. Kritische Fähigkeiten haben sich ohne weitere Erklärung davongemacht.

Symbolpolitik mit einem falschen Ansatz

Trotzdem: Die zitierten Reaktionen, die viele ähnliche repräsentieren, liegen neben dem Kern dessen, was auf dem Spiel. Sie sind irrelevant. Symbolpolitik mit einem falschen Ansatz.

Das gilt auch für die Aktion des RU-Außenministeriums, die auf Masse setzt, auf einen Gegenschlag mit großer Wucht und keinen echten Wirkungstreffer erzielt.

Das Problem der Desinformation bzw. ungewünschten Information, die als Desinformation bezeichnet wird - hier gibt es ein größeres Gelände, wo die Trennung nicht so eindeutig zu machen ist, wo die Unterscheidung ganz vom politischen Rechthaberstandpunkt abhängig ist -, bleibt für die Führungen in beiden "Hemisphären", in Russland wie in den westlichen Ländern.

Gefahr der Desinformation gebannt? Realität der Sperren

Aus technischen Gründen: "Wie der Rundfunkempfang und die Erreichbarkeit über Internet technisch eingeschränkt werden, wurde nicht bekannt", heißt es bei heise.de zur Mediensperre in Russland. Dazu kommen die Möglichkeiten der Umgehung der Sperre, die man beim findigen, kritischen Teil der Öffentlichkeiten voraussetzen kann.

Dazu muss man gar nicht notwendigerweise auf VPN zugreifen. Das gilt auch für die Erreichbarkeit von RT:

Ein Korrespondent des Balkandienstes von RFE/RL konnte ohne VPN oder andere Umgehungstools von den Gebäuden der (…) Europäischen Kommission und des Europäischen Rates (…) auf die Websites und Streaming-Dienste von RT - früher bekannt als Russia Today - und Sputnik zugreifen.

RFE

Der Beitrag von RF stammt vom Februar dieses Jahres und unzählig sind seither die Berichte in europäischen Medien, die von der Gefahr der Desinformation künden, täglich. Also, so kann man festhalten, am großen Problem - der Furcht vor einer Destabilisierung der Verhältnisse über propagandistische Info-Quellen – hat sich durch das Verbot nichts grundlegend geändert.

Auch die Zugangssperren von europäischen Medien werden der russischen Regierung in dieser Beziehung nicht viel reale Wirkung einbringen.

Das Risiko der Abschottung

Es ist ein Schlagabtausch und hier liegt die eigentliche riskante oder gefährliche Implikation der Medien-Verbotswelle: Man schottet sich gegenseitig ab, errichtet Mauern in den Informationsräumen, die zu Info-Blasen werden. Und immer weiter und besser abgedichtet werden.

Die Abschottung ist eine Gefahr für Verständigung und Verstehen der anderen Position. Eine weitere Floskel?

Nein, ein anschauliches Beispiel: Schaut man darauf, was der Sender al-Jazeera, der Propagandaanteile hat, beileibe kein unabhängiger Sender, seit Jahrzehnten als Bild von den Weltsichten im arabisch-sprachigen Raum und im Nahen Osten vermittelt, so ist das eine Sicht mit zum Teil völlig anderen Perspektiven, Schwerpunkten und Bewertungen, eine Weltsicht im Kontrast zu vielem, was in unserer Medienschau als apriori verbreitet wird.

Aber wir brauchen, um uns als Leserinnen und Leser von Medien ein Bild der Wirklichkeit zu machen, jenseits von gewünschten Soll- und Idealzuständen, genau auch diese Sichtweisen, um uns ein weiter gefächertes Bild und dazu Meinungen zu bilden.

Und Politiker brauchen eine kritische Öffentlichkeit (auf allen Seiten), um nachhaltige, tragende Vereinbarungen in Konflikten treffen zu können.

Der Schaden an der großen Softpower

Der Schaden, den eine abgefilterte Öffentlichkeit anrichtet, so die Überzeugung des Autors, ist mittel- und langfristig größer als der Schaden, den Veröffentlichungen mit ausgewiesen konträren Weltsichten verursachen, vorausgesetzt man gibt der Öffentlichkeit die Chance, sich möglichst breit zu informieren und sich konträren Sichtweisen auszusetzen.

Die große Softpower der westlichen Staaten liegt in der Kritikkompetenz. Sie nur ermöglicht es, Situationen auch dann zu bewerten, wenn noch kein Skript dafür vorliegt. Abschottung ist der falsche Safe space.

Realistisch aber wird der Mechanismus, der zur Filterblase unpassende Medien aussondert, kaum aufzuhalten sein. Die nächsten Verbote kommen. Damit wird aber auch das Blickfeld eingeengt, das man braucht, um sich von Schablonen zu befreien, die Frontalzusammenstöße bedienen, und eine Realität zu begreifen, die viele situationskluge, unorthodoxe Antworten braucht.

Was Abschottung mit sich bringt, dafür lieferte die Corona-Krise viel Anschauungsmaterial, der Ukraine-Krieg und die Aussichten auf eine andere als bloß militärische Lösung, ist einer der gegenwärtigen Realitätstests für eine kritische Öffentlichkeit, die mehr kann, als sich zu empören.