Russische Desinformation vor EU-Wahl: Propaganda oder Realität?

Bildschirm: Fake News

Digitale Massenmedien ermöglichen schnelle Verbreitung von Fake News. Aber welche Reichweite haben sie wirklich? Symbolbild: NoName_13 / Pixabay Licence

Politikwissenschaftler kritisiert ständige Warnungen vor Desinformation: Sie könnten die Demokratie einschränken. Wo beginnt der hybride Krieg? Ein Kommentar.

Nicht erst im Endspurt des EU-Wahlkampfs wurden wir in vielen Medien fast jeden Tag vor Fake News und Desinformation gewarnt. So entsteht schnell der Eindruck, die Demokratie sei akut durch eine gigantische Flut von gezielt verbreitenden Falschnachrichten gefährdet, die beispielsweise dafür sorgen, dass in verschiedenen EU-Ländern rechte Parteien stärker werden. Doch wie real und umfangreich sind die gezielt gefälschten Nachrichten wirklich – und welche Reichweite haben sie?

Der Politikwissenschaftler Andreas Jungherr von der Universität Bamburg rückte im Interview mit dem Deutschlandfunk manche der alarmistischen Warnungen zurecht.

Desinformation im Zeitalter der Massenmedien

Dabei bestreitet er keineswegs, dass es absichtliche Falschmeldungen gibt – allerdings nicht erst seit Kurzem. Gezielte Desinformation gebe es "seit 50 bis 70 Jahren". Mit diesen ungefähren Zeitangaben wollte der Politikwissenschaftler ausdrücken, dass es sie eigentlich seit dem Zeitalter der Massenmedien gibt. Natürlich passen die sich an den Stand der Medientechnologie an.

Mit dem Siegeszug des Internets und anderer digitaler Medien sind die Möglichkeiten gewachsen, gefälschte Nachrichten ins Publikum zu bringen. Heute braucht es keine Emser Depesche, eine "Fake News", mit der Bismarck den von ihm und den von imperialistischen Kreisen dringend benötigten Krieg gegen Frankreich vorantreiben wollte.

Im Zeitalter von Facebook, YouTube, X und Co. sind die technischen Möglichkeiten für Desinformation natürlich immens gewachsen. Das ist sicher eine der Ursachen, warum das Thema heute in aller Welt eine solche Bedeutung bekommen hat.

Fake News: Viel Anekdotisches – wenig Wissenschaft

"Ich höre viel, dass Leute von Desinformation reden, habe aber selber noch keine gesehen", leitet Jungherr sein DLF-Interview ein. Seine Beobachtungen fasst der Politikwissenschaftler so zusammen: Es gebe viele Erzählungen über russische Accounts hier und ein paar chinesische Aktivitäten dort.

Was aber fehlt: Es gibt wenig Interesse, tatsächlich wissenschaftlich die Reichweite dieser gezielt gefälschten Nachrichten zu messen. Die Reichweite seien wahrscheinlich geringer als vermutet, so Jungherr mit Verweis auf Untersuchungen in den USA. Er hat gemeinsam mit Adrian Rauchfleisch eine Untersuchung über die Rolle von Desinformation in den USA durchgeführt.

Gefühlte Desinformation: Was wird aus "Follow the Science"?

Dort hätten viele der Befragten bekundet, Desinformation sie ein großes Problem. Doch als dann die konkrete Reichweite von gezielten Falschinformationen untersuchte wurde, habe sich das nicht bestätigt. Das heißt konkret, es gibt viel gefühlte Desinformation, doch die wissenschaftlich fundierte Beweisführung für die große Macht der Desinformation fehlt.

Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil dort der Ruf "Follow the Science" (sinngemäß: "Höre auf die Wissenschaft") in den letzten Jahren stärker geworden und alarmistische Meldungen aufgrund von Gefühlen und anekdotischen Mitteilungen auch von Rechten gerne verwendet wird.

Beispielsweise wird in diesen Kreisen behauptet, dass die Kriminalität immer mehr zunehme. Tatsächlich aber gab es in den letzten Jahren einen Rückgang von Schwerkriminalität. Solche auf Gefühlen statt auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufgebaute alarmistische Meldungen sollen die Zustimmung zu autoritärer Staatspolitik erhöhen.

Demokratieverlust durch geschürte Panik vor Desinformation

Einen solchen Effekt haben Jungherr und Rauchfleisch auch bei ihren erwähnten Untersuchungen in den USA festgestellt. Weil ständig vor Desinformation in vielen Medien gewarnt wurde, hätten die Befragten das als großes Problem benannt.

Gleichzeitig sei dadurch die Bereitschaft für restriktive Maßnahmen gegenüber Online-Medien gestiegen, was aus einer demokratietheoretischen Maßnahme durchaus problematisch ist, weil es mit einer Einschränkung der Meinungsfreiheit verbunden ist.

Dabei kommt dann das ganze Instrumentarium der repressiven Staatsapparate zum Einsatz, einschließlich von Razzien, Beschlagnahme von Computern bis zu Verhaftungen wegen inkriminierter Äußerungen in den sozialen Netzwerken.

Politiker in der Opferrolle: Was zählt als Hass-Posting?

Da wird auch oft nicht mehr zwischen Äußerungen über bestimmte Politiker und der Verbreitung von rassistischen und antisemitischen Inhalten unterschieden, die dann wie bei der jüngsten Razzia am 6. Juni umstandslos unter dem Begriff "Hass-Postings" subsumiert werden.

Dabei besteht immer die Gefahr, dass das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung eingeengt wird. Eine Kritik daran unterbleibt eher, wenn mit Warnungen vor angeblicher Desinformationen schon der Boden dafür bereitet wird, dass einige Menschen selbst restriktivere Maßnahmen fordern.

Umgekehrt verweist Jungherr darauf, dass die Forderungen nach Regulierung von Meinungsäußerungen in im Internet weniger werden, wenn die Meldungen über Desinformation kontextualisiert werden – und wenn vor allem die wissenschaftlichen Erkenntnisse von der geringen Reichweite gezielter Falschinformation mehr Verbreitung finden würden.

Desinformation mit geringer Reichweite: Bubbles unter sich

Denn es hat sich in den bisher gemachten Untersuchungen herausgestellt, dass solche Desinformationsaktivitäten in ihrer Reichweite sehr eingeschränkt sind und kein gesamtgesellschaftliches Problem darstellen.

Jungherr warnt auch davor, die Reichweite von Desinformation mit Wahlergebnissen kurzzuschließen. Da Desinformation vor allem bestimmte politische Gruppen erreicht, die schon eine gefestigte Meinung haben, also zum Großteil in der jeweiligen "Bubble" bleibt, kann man davon ausgehen, dass gefälschte Nachrichten nicht zu großen Änderungen im Meinungsspektrum führen.

Verschwörungsmythos: Russland schuld an Trump-Wahl

Allerdings können solche Desinformationen dazu führen, dass bestimmte politische Spektren sich in ihrer Meinung bestätigt fühlen. Doch die Vorstellung, dass der Aufstieg der Rechten bei den EU-Wahlen auf Desinformation beruht, ist genauso abenteuerlich, wie die Verschwörungstheorie, dass russische Desinformation 2016 zur Wahl von Donald Trump in den USA geführt hat.

Obwohl wissenschaftlich längst widerlegt, werden solche Behauptungen in Kreisen der Demokratischen Partei in den USA heute wieder aufgewärmt. Dabei handelt es sich genauso um eine Verschwörungstheorie wie bei der Behauptung von Trump und seinem Anhang, es habe 2020 eine "gestohlene Wahl" gegeben.

Fake News als Ausrede für schlechte Wahlergebnisse

Wichtig ist Jungherrs Hinweis, dass es sinnvoller sei, die gesellschaftlichen Ursachen von Wahlergebnissen zu ergründen, als sie einfach zur Folge von Desinformation zu erklären. Mit solchen einfachen Erklärungsmustern soll das Reden über die Probleme im Spätkapitalismus vermieden werden.

Dabei müsste ja stutzig machen, dass sämtliche Staaten und Staatsapparate mit dem Schlagwort von Fake News und Desinformation Demokratie und Meinungsfreiheit einschränken. Auch die im globalen Westen so gescholtenen autoritären Staaten wie Russland verwenden das Narrativ von der Desinformation, wenn sie gegen Oppositionelle vorgehen wollen.

Keine Beteiligung an hybriden Kriegen!

Wenn aktuell Georgien Gesetze gegen die Einflussnahme von EU-gestützten NGOs einführt, dann tun die dort Regierenden im Grunde nichts Andreas als viele EU-Staaten, die wiederum die Verbreitung von "russischen Narrativen" auch mittels Repression bekämpfen. Das ist die Praxis eines hybriden Krieges, wie ihn sämtliche Staaten praktizieren. Allerdings gilt ist dieser nur als verwerflich, wenn er von der anderen Seite praktiziert wird.

Die eigene Seite betreibt natürlich nur Demokratieförderung, wenn sie ähnliche Praktiken durchführt. Da müsste die Parole lauten: Wir beteiligen uns nicht an Kriegen – auch nicht an den hybriden. Ein wichtiger Schritt dazu ist, den Begriff der Desinformation von der Gefühlsebene auf eine faktenbasierte wissenschaftliche Grundlage zu stellen.

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