Muss man immer alles besser wissen?

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Lehren aus angstbestimmtem Gekicke: Die Ungarn spielten gegen Deutschland. Aber gegen wen spielten die Deutschen?

Die chronische Erregung ist die kleine Schwester der chronischen Depression.

Sigmund Freud

Sehen Sie den Regenbogen. Die Brücke, die hinüberführt. Wer weiß, wie bald wir sie beschreiten müssen.

Aus "Opfergang", 1944; von Veit Harlan

Es regnete. Es regnete wie aus Eimern. Es regnete wie seinerzeit im Wankdorfstadion. Es war "dem Fritz sein Wedder" (Sepp Herberger). Doch fast hätten die Ungarn Rache geübt für '54.

Fast hätte es gereicht. Über 80 Minuten lang machten die Pusztakicker, angeführt von ihrem italienischen Trainer Marco Rossi, der ein bisschen so aussieht, wie Gunnery Sergant Hartman, der Schleifer aus "Full Metal Jacket" mit einer Energieleistung, Kampfeslust und klarem, einfachem, gradlinigem Spiel Gulasch aus der deutschen Nationalmannschaft. Sie spielten dabei nicht für Orban und nicht gegen Orban; aber sie spielten gegen Deutschland; sie spielten gegen die Moralapostel, gegen das Land des Regenbogens.

Zuviel Wokeness, zuviel Regenbogen war in den deutschen Köpfen und zu wenig Mut, es danach auch auf dem Platz zu zeigen. Den Worten folgten keine Taten, sondern ein halbherziges, angstbestimmtes Gekicke. Hätten sie den Mut gehabt, am Anfang zu knien, dann hätten sie danach auf dem Platz gestanden. So standen sie am Anfang und mussten dann in die Knie gehen vor den Ungarn.

Die Gulaschkicker aus Ungarn zeigten dagegen Willen, Begeisterung, Zug - all das, was die Deutschen nicht hatten. Bestes Beispiel: Die 15 Sekunden nach dem 1:1. Die Deutschen waren mit ihren Gedanken schon wieder im Achtelfinale, Ungarn schien doch nur die Pflichtaufgabe zu sein, die dahin noch im Weg stand, und schon schlug es wieder ein zum nächsten Tor für Ungarn.

"Sturm ohne Drang"

"Immerhin die Körperspannung ist da", kommentierte Oliver Schmidt. Von der Augsburger Allgemeinen" wurde der ZDF-Ersatzmann für Bela Rethy (offenbar wollte man den Ungarnstämmigen Rethy nicht kommentieren lassen) als "zurückgenommen und unauffällig" charakterisiert. Nicht jeder Schmidt ist halt ein Helmut Schmidt. Mit der Zeit ließ sich der ZDF-Reporter dann aber auch zu gewagteren Metaphern hinreißen: "Sturm ohne Drang". Hoho.

Das deutsche Spiel bewirkte mehr Fragen als Antworten. Schnell war klar, dass das Spiel gegen die Portugiesen geblendet hat, dass man nicht die Abwehrschwächen und das frühe 0:1 ins Zentrum stellte oder die Tatsache, dass das Spiel auch 4:4 hätte ausgehen können, sondern die zwischenzeitliche 4:1-Führung.

Der deutschen Elf fehlt alles Zwingende, es fehlt der tödliche Pass. Man erkennt keine Führung, keine Struktur, und nach dem Rückstand geht kein Ruck durch die deutsche Mannschaft, kein wirkliches Aufbäumen. Erst ein Torwartfehler sorgt für den Ausgleich.

Die deutsche Mannschaft musste offensiv nach vorn spielen, weil die Abwehr instabil ist, und auch Hummels nach vorn besser ist als Innenverteidiger. Souveränität sieht anders aus.

Robin Gosens immerhin kann alle Probleme auf der linken Außenbahn lösen. Aber warum spielt Goretzka nicht von Beginn an? Warum spielt Kimmich nicht zentraler? Warum eine Dreierkette in der Abwehr, und eine Fünfer-Kette im Mittelfeld, in der sich Kroos und Gundogan gegenseitig im Weg stehen.

Mit Ach und Krach überstanden die Deutschen die Todesgruppe und kamen weiter. Die Nummer 13 der Ungarn heulte, aber wieder können die Deutschen nicht gegen eine osteuropäische Mannschaft gewinnen.

Zwischen Selbstüberschätzung und Depression

Gegen wen spielten die Deutschen? "Ich mache der Mannschaft keinen Vorwurf. Ihrem Übungsleiter dagegen schon", ist der Standpunkt von Trainer Ewald Lienen. Bei "Markus Lanz" nahm Zettel-Ewald die deutsche Fußball-Ausbildung des letzten Jahrzehnts auseinander. Man habe "keine Außenverteidiger ausgebildet".

Wichtiger als derartige taktische Fragen ist die Grundeinstellung. Seltsame Lethargie und Kleinmut zogen sich durch das deutsche Spiel - sinnbildlich festzumachen an Leroy Sané.

Wenn man während der letzten Tage die vielen Veröffentlichungen zum Beginn des Russland-Feldzugs vor 80 Jahren gelesen hat, konnte einem wieder auffallen, dass auch diese deutschen Wehrmachts-Generäle immer zwischen Selbstüberschätzung und Depression schwanken.

Die Deutschen sind schon lange ein angestrengtes, ein anstrengendes und dadurch erschöpftes Volk, das sich erstmal erholen müsste, um irgendwann alles leichter angehen zu können. Aber wieder übernahm nun die ewige German-Angst das Kommando, die Furcht, etwas falsch zu machen. Wenn Jogi Löw zuletzt das Wort dynamisch ausspricht, dann wirkt es leider sehr undynamisch.

Sicherheit ist auch im deutschen Fußball der letzten Jahre wieder der höchste Wert. Die unerfüllten Erlösungserwartungen mündeten in Frust und Enttäuschung. Was wir alle bei der Corona-Bearbeitung erleben, ist auch im Fußball erkennbar: Erneuerungen geschehen im bürokratischen Schleichgang.

Vielleicht spielten die Deutschen gegen die eigene Angst oder fürs Prinzip der Turniermannschaft. In jedem Fall aber wollte man die bereits von Heinrich Heine beschworene Herrschaft "im Luftreich des Traums" erhalten, die Hegemonie der Ideen und Moral.

Man selbst findet sich großartig. Denn man steht politisch auf der richtigen Seite. Auf der Seite des Regenbogens, der diffusen Allfarbenzusammenballung. Trotz komplett schwarzgekleideter Mannschaft hat man gerade eine neue Uniform: "Deutschland macht sich bunt", sagen sie in der Pause im heute-journal. Dann ist's ja gut. Dann können sie ja auch verlieren.

Die Frage bleibt nur, ob man wirklich immer alles besser wissen muss? Oder ob man vielleicht zumindest im Sport einfach versucht, Spiele zu gewinnen.