Mythos Öffentlichkeit

Seite 3: De-Programmierung der kommunikativen Rationalität

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"Das Wir entscheidet", jener merkwürdige Slogan, mit dem die SPD den diesjährigen Wahlkampf bestritten hat, stimmt nicht mal für die Partei. Selbst die SPD, die sich bekanntlich dem Gemeinsinn und der Solidarität verpflichtet fühlt, besteht aus lauter Einzelwillen, die sich untereinander alles andere als grün sind. Die Troikas, mit denen die Partei sowohl in den 1970ern als auch in den 1990ern und auch diesmal im Vorfeld des Wahlkampfes zunächst antreten wollten, haben bekanntlich nie lange gehalten. Nach einigen Monaten oder Jahren sind sie meist krachend auseinandergeflogen.

Zudem ist das Web mit all seinen Derivaten und Applikationen zwar ein Massenmedium, aber gewiss kein Träger kommunikativer Rationalität. Dafür fehlt nicht nur Zeit und Geduld, dafür mangelt es auch an Dauer und Beständigkeit, die ein Begründen und Überprüfen, Werten und Abwägen von Geltungsansprüchen erfordern. Die Währung, die in den Netzen hauptsächlich zählt und gehandelt wird, ist "Aufmerksamkeit".

Im Netz gilt es vor allem wahrgenommen zu werden, im positiven wie im negativen Sinn. Wem das nicht widerfährt, der existiert nicht. Berufliche Karrieren und soziale Abstiege können dabei ebenso in Gang kommen wie rasch wieder vergehen. Man denke an die kurzzeitige Prominenz einer Maria Weisband, Anne Wizorek oder eines Johannes Ponader.

Debatten, wenn sie denn angestoßen werden (siehe #Aufschrei oder jüngst #brevolt), werden in aller Regel von Stimmungen getragen, von simplen Klicks auf einen Button. Je nach politischen Erregungs- und Entrüstungsgrad können sie beizeiten in Schmähungen, Beschimpfungen und Feindseligkeiten oder auch in Huldigungen, Ehrungen und das Hochjubeln von Personen, Themen oder Parteiungen ausschlagen.

In aller Regel ebben derartige Empörungswellen, die sich häufig an moralisch inkorrekten Äußerungen oder Verhalten halbprominenter Personen entzünden und die Öffentlichkeit über Nacht in einen "Lynchmob" verwandeln können, mehr oder minder rasch wieder ab. Während der "Skandal" im Nachlauf noch in Talkrunden mit den immergleichen Personen durchgenudelt und trivialisiert wird, wird anderswo, wie es im Volksmund heißt, bereits eine "neue Sau durchs Dorf getrieben".

Auch die Ebenbürtigkeit, die ein Diskurs verlangt, sucht man im Netz eher vergebens. Hier prallen die unterschiedlichsten Charaktere und Gestalten aufeinander, Selbstdarsteller und Pseudo-Intellektuelle, Hobby-Philosophen und Überzeugungstäter, Provokateure und passionierte Besserwisser. Recht hat in aller Regel, wer den meisten Beifall einheimsen und die User einer Plattform auf seine Seite ziehen kann.

Folgt man Jaron Lanier, dann lädt das Mitmach-Web zum Ablästern und Verleumden anderer förmlich ein. Es provoziert eine globale Flut Mob ähnlicher Zuschriften. Davon irritiert fragt er mit Recht, was Leute dazu brächte, dass so häufig das Übelste aus ihnen hervorbreche, wenn sie sich in sozialen Netzwerken zu Wort meldeten.

Deswegen habe ich mich vor langer Zeit auch aus bestimmten Foren verabschiedet. Weniger, weil ich keine Lust hatte, beknackte Statements emotionaler oder geistiger Tiefflieger zu lesen oder darauf zu antworten, sondern einfach, weil die Zeit mir dafür viel zu schade ist. Was vor Jahren mal als "basisdemokratische" Einrichtung in diversen Zirkeln gefeiert worden ist, als direkter Kontakt zum Leser oder Hörer, hat sich längst in sein Gegenteil verkehrt. Von einer Kultur des Streitens und Debattierens ist mitunter wenig geblieben. Der Umgangston ist oftmals rüde, der Stil verroht und die Sprache versaut (Die Bühnen des Mobs und der Wichtigtuer).

Nur ein anderes Interface mit anderer Infrastruktur

Im Umkehrschluss muss das aber nicht bedeuten, dass Politik und Parteien vollkommen überflüssig werden, weil der "öffentliche Raum in Staub verwandelt wird" (Byung-Chul Han). Die Öffentlichkeit oder besser: die "Öffentlichkeiten" zerfallen nicht, sie bekommen nur eine andere Struktur, Organisation und Qualität. Im Grunde realisiert sich jetzt jene Vision, die linke Spontis in den 1970ern immer schon umgetrieben hatte. Das Öffentliche und das Private, gemeinhin zwei essentialistisch getrennte Bereiche der modernen Gesellschaft, konvergieren. Das Private wird öffentlich, mithin politisch, und das Öffentliche privat.

Andererseits unterscheiden sich, bei Lichte betrachtet, Online-Medien nicht großartig von traditionellen Medien, zumindest was Inhalt und Form der Kommunikationen angeht. Auch da wird vorwiegend geschwätzt und getratscht; auch da werden Informationen "hochgezogen" oder "durchgestochen", häufig Gerüchte verbreitet und ständig Debatten lanciert oder verhindert.

Was sich hingegen geändert hat, ist die Geschwindigkeit und die Reichweite, mit der solche News in Umlauf gebracht werden, worunter vor allem ihre Qualität und Seriosität leidet. Das Prüfen einer Quelle auf ihre Glaubwürdigkeit, Richtigkeit und/oder Zuverlässigkeit fällt darum nicht nur häufig aus, dank des vielfältigen Mediensystems pflanzt sie sich auch sofort memartig fort.

Bekannt ist der Fall "Neda Soltani", die 2009 zum Symbol der "grünen Revolution" im Iran wurde. Ihr Tod auf den Straßen Teherans, mit einer Handykamera dokumentiert, wurde weltweit und auf allen Kanälen verbreitet. Erst später stellte sich heraus, dass die Unidozentin gar nicht in der Nähe der Demonstrationen war und heute noch lebt. Die Verwechslung mit der getöteten Neda Agha-Soltan hatte allerdings schlimme Folgen für sie. Bedroht von ihrer Regierung, blieb ihr nichts anderes übrig, als Wochen später nach Europa zu fliehen.

Selbstverständlich gilt nach wie vor, dass das avancierteste Medium Form und Prozessieren der Kommunikationen bestimmt. Darum haben die klassischen Massenmedien auch begonnen, sich dem Takt, dem Rhythmus und dem Interface des Web 2.0 anzunähern und anzupassen. Ständig wird man seitdem zum Mittun, zum Anrufen oder Abstimmen aufgerufen; immer wieder wird auf Twitter oder Facebook hingewiesen, es werden ausgewählte Botschaften eingeblendet, die von Laufbändern, Werbebannern und Splittscreens begleitet werden. Allein am Fall des ehemaligen Bundespräsidenten Christoph Wulff konnte man gut erkennen, wie die unterschiedlichsten Medien kooperierten, als es darum ging, eine aus welchen Gründen auch immer in Ungnade gefallene Person medial "abzuschießen".

Längst herrscht im Qualitätsjournalismus die Jagd nach dem Scoop. Auch in diesen (einstigen) "Leuchttürmen" des Nachrichtenwesens, die den Bürgern Sinn und Orientierung geben sollten, setzt sich im Feedback der Klicks und Likes, im Echtzeit-Screening und in Plebisziten, die allerorten auf Leser, Kunden und User lauern, der Trend zur Automatisierung der Nachrichtenwesens und Nachrichtenbetriebs durch.

Es gibt keine Kanalreiniger mehr

Müssen wir uns also vom Konzept der Öffentlichkeit verabschieden? Oder sollten wir ihr mit einer "Demokratieabgabe" auf die Sprünge helfen, wie Zeitungsverleger und Chefredakteure des deutschen Staatsfernsehens vor nicht allzu langer Zeit vorgeschlagen haben, zum Unmut des Netzpublikums? Kann eine weitere Zwangsgebühr ihr Überleben sichern? Oder ist die Öffentlichkeit, wie Habermas sie sich ausgedacht hat, nicht längst ein Mythos, den demokratische Romantiker oder sozial und politisch bewegte Intellektuelle pflegen, ein Dino, dessen Überreste in den Archiven zu bewundern ist? Handelt es sich bei ihr nur um eine "Heimsuchung", die dem "demokratischen Bewusstsein" und "Staatsdenker der Bundesrepublik" vor Jahrzehnten widerfahren ist?

"Was wir über die Welt wissen, wissen wir durch die Massenmedien." Dieser denkwürdige Satz Niklas Luhmanns gilt für die "Öffentlichkeit" ebenso wie für den "Strukturwandel", den Politik und Demokratie durch ihre Entstehung erfahren haben sollen. Zugleich wissen wir aber auch, wieder aus den Medien, dass wir von ihnen verdummt und aufgeklärt, informiert und belogen, zerstreut und manipuliert werden. Aus all dem kann man mit dem Bielefelder Soziologen ableiten, dass "Öffentlichkeit" zuallererst ein Markt für Stimmungen und Meinungen ist, ein "gesellschaftliches Reflexionsmedium", das das "Beobachten von Beobachtern registriert". Medien beobachten Medien, die andere Medien dabei beobachten, K> und was sie genau beobachten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Dies ist auch einer der der Hauptgründe, warum wir immer wieder den Eindruck haben, dass trotz der allseits gerühmten Vielheit der medialen Plattformen letztlich doch überall über die gleichen Themen und Personen berichtet und gesendet wird. Mit dem Web 2.0 ist diese Familie aktuell nur größer geworden. Es sind alternative Medienformen hinzugekommen, die mal der "gegenöffentlichen Variante", mal ihrer "repräsentativen Form" gleichen oder zuneigen, während das Printwesen, die Buchbranche und das Zeitungsgewerbe ihrem Ende entgegensehen. Die Dauer ihrer Laufzeiten zeichnet sich jedenfalls am Horizont bereits ab.

Umgekehrt haben sich jedoch Perspektive und Richtung des Nachrichtenflusses. Aus vormals One-Way- sind zunehmend Two-Way-Kommunikationen geworden. Der einst passive Empfänger, Konsument und Kunde ist zum aktiven Sender, Nutzer und Produzenten mutiert, ganz wie Bert Brecht und Walter Benjamin, Hans-Magnus Enzensberger und Peter Glotz es sich im vorigen Jahrhundert gewünscht und ausgemalt hatten. Aber dies ist kein exklusives Anrecht des massenmedialen Systems. Das gilt für andere Sozialsysteme auch, für die Ökonomie, die Politik und die Kunst, die Religion, des Recht und den Sport usw.

Zugenommen hat gewiss das mediale Rauschen, und damit zugleich die Unordnung und das "Maß der Unsicherheit darüber, ob das alles auch wirklich so ist, wie es vorgibt zu sein" (Bernhard Siegert), in Syrien und in Mali, im Pferdefleischskandal und beim Klimawandel, beim BER-Flughafen und in der EURO-Rettung. Strukturen, die die Kanäle von "sinnlosem Gezänk" reinigen, die Nachrichten werten und auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüfen und den Blick des Publikums fürs "Wesentliche" schärfen, fehlen zusehends.

Doch wer weiß schon, was "das Wesentliche" ist. Medien und ihre Zuträger senden und berichten, sie selektieren, filtern und synthetisieren nur das Neue, Spektakuläre oder Anstößige, an Dauerhaftem oder am Gewöhnlichen sind sie nicht interessiert. Das mag man bedauern, ist aber nicht zu ändern. Auch nicht von einem deutschen "Staatsphilosophen".