NSU-Aufklärung und Zensurversuche

Streit um TV-Dokumentation über den ungeklärten Kiesewetter-Mord

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Er wolle erreichen, dass der Film nicht noch einmal ausgestrahlt wird. Das erklärte der SPD-Landtagsabgeordnete von Baden-Württemberg Wolfgang Drexler gegenüber der Presse. Der Film: Das ist die TV-Dokumentation über den ungeklärten Polizistenmord von Heilbronn von Clemens und Katja Riha, Titel: "Tod einer Polizistin. Das kurze Leben der Michèle Kiesewetter", ausgestrahlt in der ARD am 24.April. Drexler ist zugleich Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses von Baden-Württemberg. Er taucht in dem Film genauso auf wie der Autor dieser Zeilen.

Drexler hat seine Aussage vor Veröffentlichung etwas abgeschwächt und will den Film "in dieser Form" nicht noch einmal ausgestrahlt haben. In welcher Form lässt er offen. Wie auch immer: Man muss seine Worte als klare Aufforderung zur Zensur verstehen. Zumal er sie so verstanden haben will. Denn der Politiker ist in der Vergangenheit schon einmal so vorgegangen.

Aufforderung zur Zensur - schon das müsste ausreichen, seine Eignung für den Vorsitz dieses wichtigen Untersuchungsausschusses grundlegend in Frage zu stellen.

Die TV-Dokumentation der Rihas hat in bestimmten Kreisen zu heftigen, ja, panischen Reaktionen geführt - vor allem bei Bundesanwaltschaft, aber auch einigen Medien und Politikern wie Drexler. Der Tabubruch des Filmes besteht darin, die Tat als "ungeklärt" zu bezeichnen und der Bundesanwaltschaft die Deutungshoheit abzusprechen. Die oberste Ermittlungsbehörde der Bundesrepublik behauptet wider alle begründete Einwände, die Tat sei von den beiden NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos allein verübt worden.

An der offiziellen Version darf nicht gerüttelt werden. "Kippt Heilbronn, dann kippt das gesamte NSU-Verfahren", sagt in der Dokumentation der Kriminologe Thomas Feltes, früher einmal Rektor der Polizei-Fachhochschule von Villingen-Schwenningen und völlig unverdächtig, etwa ein "Verschwörungstheoretiker" zu sein - abgesehen sowieso von der Inhaltsleere eines derartigen Anwurfs. Kippt ein Fall, kippt der gesamte Komplex - das trifft auf mehrere Tatorte zu, Eisenach, Kassel, Köln etwa, aber auf den von Heilbronn besonders. Wenn man die Migrantenmorde und den Polizistenmord, die nichts gemein zu haben scheinen, zusammen bringt, könnte man auf einen bisher unbekannten Hintergrund dessen stoßen, was der "NSU" tatsächlich war oder noch ist.

Erst vor wenigen Tagen berichteten das ARD-Politikmagazin Report (Mainz) und der Stern über Hinweise auf die Anwesenheit von Islamisten mit Verbindungen zur Sauerland-Gruppe zur Tatzeit am Tatort Theresienwiese in Heilbronn. Sie könnten im Zusammenhang mit einem geplanten Waffendeal gestanden haben. Die Hinweise, die auf Handynummern beruhen, hielt das Bundeskriminalamt bisher gegenüber dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages geheim. Der Ausschuss von Baden-Württemberg hingegen hatte die Unterlagen bereits im Dezember 2015 erhalten. wie jetzt gegenüber der Presse bestätigt wurde. Gearbeitet hat das Gremium mit ihnen allem Anschein nach nicht.

Die TV-Dokumentation über den Kiesewetter-Mord scheint einen Nerv getroffen zu haben

Auffällig ist die Aggressivität der Anwürfe. Der Sozialdemokrat Wolfgang Drexler nennt die Dokumentation in einer Presseerklärung, die der Landtag von Baden-Württemberg verbreitete, "grob falsch", "unsachlich", "anstößig", "perfide". Er schrieb an die Intendanten der ARD, um die "Einhaltung journalistischer Grundsätze" anzumahnen. Sein Ziel: den Film verbieten.

Der MdL Drexler zählte zu der übergroßen Landtagsmehrheit, die sich nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 drei Jahre lang mit Händen und Füßen gegen einen Untersuchungsausschuss zum Polizistenmord von Heilbronn stemmte, ehe er nicht mehr verhinderbar war. Seither soll der Parlamentarier aufklären, was er vorher nicht aufklären wollte. Skepsis ist angebracht.

Was Drexler angreift, sind konkrete Recherchen, die geeignet sind, die offizielle Version anzutasten. Beispiel: Die Beamtin Michèle Kiesewetter war als "Nicht offen ermittelnde Polizistin" (NoeP) in die Rauschgiftfahndung involviert. Dabei hat sie Drogen konsumiert. Dafür gibt es mehr als einen Zeugen. Doch Journalisten, die das herausfinden, sind nicht verantwortlich für den Befund. Wer sie aber deshalb diffamiert, will diesen Befund offensichtlich nicht. Ihn zu verschweigen, käme einer Verschleierung gleich.

"In unserer intensiven mehrjährigen Aufklärungsarbeit hat sich aber auch gar nichts dafür ergeben, dass Michèle K. Heroinkonsumentin gewesen wäre", so Ausschussleiter Drexler. Doch das zeugt nur von der oberflächlichen Arbeit dieses Ausschusses. Er könnte sich nun ja um die Zeugen bemühen, die wir Journalisten gefunden haben. Danach sieht es bisher aber nicht aus.

Dem Ausschuss ist auch nicht aufgefallen, dass die Sondereinheit der Polizei in Böblingen, zu der Kiesewetter gehörte, den Mordermittlern des Landeskriminalamtes Unterlagen zur NoeP-Tätigkeit Kiesewetters vorenthalten hat. Warum? Ihm ist nicht aufgefallen, dass bei der Obduktion der toten Polizistin die toxikologische Untersuchung, eigentlich Standard, unterblieb. Warum?

Wie mutwillig Drexlers Angriffe sind, zeigt seine Formulierung über die im Film "verwendeten Bilder der grausam Ermordeten im Badeanzug". Zunächst: Es war ein Bikini, den die junge Michèle an hatte. Aber Herr Drexler scheint Probleme mit Frauenrechten zu haben. Er spielt den religiösen Fundi und stört sich an der Bekleidung einer jungen Frau, die sie anzunehmender Weise freiwillig und gerne trug. Schon gar nicht wurde "die grausam Ermordete" im Badeanzug gezeigt, sondern ein lebendiger Mensch. Die Ermordete war eine Polizistin in Uniform, die im Film unkenntlich gemacht wurde.

Weitere mysteriöse, vom Ausschuss nicht untersuchte Todesfälle

Wiederholt hat der Ausschussvorsitzende Drexler im Laufe der letzten zwei Jahre die Öffentlichkeit mit unwahren Angaben getäuscht. Auch in seinem aktuellen Schreiben über die Kiesewetter-Doku tut er das wieder. Dabei geht es um verschiedene Todesfälle im weiteren Zusammenhang mit dem NSU-Komplex seit 2013, verbunden mit den Namen Florian H., Melisa M. und Sascha W. Sie seien "mit größtmöglichem Aufwand aufgeklärt" worden, so dass "der Verdacht von Fremdverschulden jeweils plausibel ausgeräumt werden konnte", behauptet Drexler, wissend, dass das nicht stimmt.

Die Untersuchung des Todesfalles Florian H. hat der Ausschuss mittendrin abgebrochen und nicht zu Ende geführt. Anlass war die Weigerung der Familie H., dem Ausschuss verschiedene Geräte zu übergeben, weil sie das Vertrauen in die Abgeordneten verloren hatte. Drexler ließ eine Hausdurchsuchung bei den H.s durchführen, die erfolglos blieb, um anschließend die Nachforschungen zum Tod von Florian demonstrativ einzustellen. Ob Suizid oder Mord ist nicht restlos geklärt. Die Staatsanwaltschaft spricht von Suizid, doch ein Gutachter stellte fest, dass der Tote einen tödlichen Medikamentenmix intus hatte und handlungsunfähig war, als der Wagen explodierte, in dem er verbrannte.

Dann kam Florians Ex-Freundin Melisa M. ums Leben. Sie starb an einer Lungenembolie. Wie aber das Blutgerinnsel zustande kam, das die Lungenembolie ausgelöst hat, können die Gerichtsmediziner nicht sagen. Der Ausschuss hat sich mit diesem Todesfall überhaupt nicht beschäftigt. Drexler hat das damit begründet, dass das nicht durch den Untersuchungsauftrag gedeckt sei. Nach seiner Logik hätte man bei der Beschlussfassung des U-Auftrages ja geradezu davon ausgehen müssen, dass eine Zeugin stirbt, um ihren Tod untersuchen zu können.

Als drittes starb der neue Freund von Melisa, Sascha W. Er soll sich erhängt haben. Aber er war in einer neuen Beziehung und seine Frau erwartete ein Kind. Auch diesen Todesfall hat der Ausschuss nicht untersucht.

Jetzt hat ein Nachbar, der beide - Melisa und Sascha - gut kannte, berichtet, dass Melisa nach ihrer Vernehmung im Ausschuss Bedrohungen per SMS erhalten habe. Und wieder: Statt sich für diesen Zeugen zu interessieren, werden die Todesfälle einfach als "aufgeklärt" und ausgeräumt" bezeichnet. Tatsächlich will dieser Ausschuss nicht aufklären, sondern lediglich so tun als ob.

"Merkwürdige Auffassung von Medien und der Rolle von Journalisten"

Drexler will, dass die TV-Dokumentation nicht mehr gezeigt wird. So wie es vor zwei Jahren schon einmal einer anderen 45-Minuten-Dokumentation über den NSU erging, ebenfalls von Clemens und Katja Riha, Titel: "NSU - Kampf um die Wahrheit". Auch damals kam Drexler in dem Film vor. Nach der Ausstrahlung beschwerte er sich beim Intendanten des ZDF. Kurz danach hat der Sender den Film aus dem Programm genommen. Er wurde nie wieder ausgestrahlt.

Und Drexler scheint stolz darauf zu sein. Der Intendant (Thomas Bellut) habe ihm mitgeteilt, schreibt Drexler den Rihas, dass "der Beitrag für weitere Ausstrahlungen und bei "youtube" gesperrt und aus den Mediatheken herausgenommen wurde". Nun, auf YouTube ist er freilich zu sehen (z.B. hier).

Wie damals wandte sich Drexler auch jetzt mit seiner Kritik nicht etwa an die zuständigen Redaktionen, sondern er ging direkt in der Hierarchie nach ganz oben.

Eigentlich könnte man dankbar sein, wenn jemand, der Zensur einfordert, sich dazu bekennt. Dann weiß man, woran man ist und kann Konsequenzen ziehen - oder verlangen. Nicht so hier. Keine sehr ruhmvolle Rolle spielt zum Beispiel der SWR, der die Dokumentation mit produziert hat. Kurz vor Ausstrahlung im Dritten am 26. April um 20.15 Uhr hat sie der Sender selber aus dem Programm genommen und sich davon distanziert.

Nachfragende Journalisten und Zuschauer bekamen ungefähr so viele verschiedene Antworten, wie es der Zahl der Fragesteller entsprach. Weil wenige Tage vor Ausstrahlung Berichte über die Entdeckung eines "NSU"-Schriftzuges am Tatort in Heilbronn kursierten, habe man vermeiden wollen, dass der Film als überholt erschien und ihn deshalb abgesetzt, hieß es einmal. Ein anderer Zuschauer erhielt die Antwort: "Wir waren froh, dass wir es mit dem Film in die ARD geschafft haben, wo er auch ein größeres Publikum erreicht hat. Und das mit Erfolg." Einer Zuschauerin wurde geschrieben: "Nach Fertigstellung der Produktion haben sich neuen Erkenntnisse ergeben und deshalb haben wir uns entschieden, die Sendung nicht auszustrahlen."

Jetzt wird sie es doch. Sie wurde für Mittwoch, 17. Mai, 23.30 Uhr, kurzfristig ins Programm des SWR-Dritten genommen. Zur Zeit bekommen Journalisten die Antwort, "einige Wochen vor dem geplanten Termin" sei deutlich geworden, dass der Film "nicht ins Formatschema von 'betrifft' um 20.15 Uhr passen" würde, so dass erst ein "neuer Sendetermin gesucht werden musste". Der RBB zeigt den Film übrigens am 23. Mai um 22.45 Uhr.

Wie es aussieht, war Zensor Drexler mit seiner Initiative doch nicht erfolgreich. Dennoch ist der gesamte Vorgang höchst bedenklich. Er stellt auch ein Misstrauensvotum gegenüber Redaktionen dar, denen die Fähigkeit abgesprochen wird, kritischen Journalismus zu verantworten.

Wer aber meint, das Publikum spüre nicht, wenn mit Spielchen und Tricksereien operiert wird, unterschätzt es gewaltig. Politiker vom Schlage Drexlers und manche ARD-Verantwortliche liefern so die Munition für diejenigen, die die öffentlich-rechtlichen Medien lieber heute als morgen abschaffen würden. Das schreibe ich auch als jemand, der seit fast 30 Jahren als Autor und freier Mitarbeiter mit den verschiedenen ARD-Anstalten verbunden ist, deren öffentlich-rechtliche Verfasstheit verteidigt und zum zehnten Jahrestag des Kiesewetter-Mordes selber zwei Radio-Dokumentationen beim WDR und RBB veröffentlicht hat.

Die Filmemacher Clemens und Katja Riha empfinden es als "skandalös", wie Wolfgang Drexler gegen Journalisten vorgehe. Das offenbare eine "merkwürdige Auffassung von Medien und der Rolle von Journalisten". "Pikant" sei zudem, dass Drexler als Verwaltungsrat selbst Mitglied des SWR sei, der den Film mit produziert hat. Das zeige, dass es eine "Vermischung von Interessen gibt, auch politischen".

Anscheinend gibt es akzeptierte Lügen und nicht akzeptierte. Als ein Grüner Landtagsabgeordneter in der kurzzeitigen Enquêtekommission von Baden-Württemberg erwischt wurde, die Unwahrheit gesagt zu haben, nutzte das die CDU-Fraktion, um die Zusammenarbeit mit dem kritischen und NSU-kundigen MdL aufzukündigen und die Enquête platzen zu lassen. Dass in der Folge der Untersuchungsausschuss eingesetzt wurde, konnte diese Fraktion damals nicht überschauen. Es war eine Ironie der Geschichte, denn auch die CDU hatte kein Interesse an einem solchen Ausschuss.

Die fortgesetzten Unwahrheiten selbst eines Ausschuss-Vorsitzenden aber bleiben bis heute folgenlos. Sie werden akzeptiert, weil sonst auch dieses Gremium platzen müsste. Damit ginge aber ein noch größeres politisches Desaster einher, weil der Verlust der Kontrolle über die NSU-Aufklärung drohen würde.

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