NSU-Ausschüsse: Kämpfe an der V-Leute-Front

Seite 2: Verfassungsschutzspitzel als Aufwiegler und Brandbeschleuniger

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In der nicht-öffentlichen Sitzung wurde gegenüber BfV-Präsident Maaßen auch der Fall Ralf Marschner angesprochen. Welche Unterlagen zu dem V-Mann überhaupt vorhanden sind, ist unklar. Einmal hieß es, die Marschner-Akten seien 2010 vernichtet worden. Zum anderen bekam die Bundestagsabgeordnete Petra Pau, wie sie im Mai bei einer Podiumsdiskussion in Zwickau bekundete, auf ihre parlamentarische Anfrage, wie viele V-Mann-Berichte von "Primus" vorlägen, vom Bundesinnenministerium die Antwort: Eine Preisgabe dieser Informationen gefährde das Staatswohl. Offensichtlich müssen Unterlagen vorhanden sein.

Wie bei Thomas Richter/"Corelli" gibt es auch bei V-Mann Ralf Marschner/"Primus" einen verbissenen Kampf um die Aufklärung seiner Rolle und seines Wissens. Das zeigte dann auch die Erörterung des Falles im Ausschuss, die mit drei Stunden Verzögerung am Nachmittag begann. Unter den Zuhörern waren drei Nebenklageanwälte des Prozesses in München, die - erfolglos - die Vernehmung Marschners durch das Oberlandesgericht beantragt hatten.

Marschner war eine führende Figur in der rechtsextremen Szene in Zwickau und operierte darin als V-Mann "Primus", nach derzeitigem Wissensstand von 1992 bis 2002. Er schöpfte die Szene aber nicht nur mit Informationen ab, sondern war auch tatkräftig mit dabei.

Im Zeitraum von 1991 bis 2007 gab es insgesamt 19 Strafverfahren gegen den bulligen Neonazi. 1991 machte er bei einem schweren Überfall auf ein Flüchtlingsheim mit. Aktionen in jenen Jahren, verbunden mit den Städtenamen Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen, die sich heute nahezu identisch wiederholen. Schwerer Landfriedensbruch, Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Nötigung, Sachbeschädigung, Diebstahl, Beleidigung, Volksverhetzung, Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen - so die Tatvorwürfe gegen Marschner. Verurteilungen sind so gut wie keine bekannt. Einmal gab es eine Geldstrafe.

Interessant: Fast alle Taten beging Marschner, als er V-Mann war. Das deckt sich mit dem Verhalten des Neonazis und V-Mannes Tino Brandt. Auch er war an Übergriffen und Beschädigungen beteiligt. Verfassungsschutzspitzel als Aufwiegler und Brandbeschleuniger.

Unklar ist, ob Marschner in den Mord an dem Punker Patrick T. 1999 verwickelt war. Ein anonymer Anrufer bei der Polizei hatte das behauptet. Der Ausschuss hat die Ermittlungsunterlagen dazu angefordert.

Eine Tat beging Marschner zusammen mit Susann Eminger, die damals noch ihren Geburtsnamen trug und später André Eminger heiratete. André Eminger ist heute einer der fünf Angeklagten in München, Susann E. eine der neun weiteren Beschuldigten im NSU-Komplex. Die Emingers waren auch mit dem Trio befreundet und kamen regelmäßig zu Besuch in die Frühlingstraße in Zwickau, dem letzten Wohnsitz des Trios. Am 4. November 2011, nachdem Beate Zschäpe die Wohnung in Brand gesteckt hatte, wandte sie sich an André Eminger, der ihr bei der Flucht half, ehe sie sich vier Tage später der Polizei stellte.

Die Emingers sind nicht die einzigen gemeinsame Freunde des Trios und Marschners. Dazu zählt zum Beispiel auch Thomas Starke. Starke, in den 90er Jahren kurzzeitig mit Zschäpe liiert, war die erste Anlaufstelle des Trios, als es im Januar 1998 aus Jena nach Chemnitz floh. Starke besorgte den dreien Unterkünfte in der Szene. Mit Marschner arbeitete Starke beim Vertrieb einer Landser-CD zusammen. Im Zuge des Strafverfahrens gegen die rechtsextreme Band wurde Starke im Jahre 2000 dann selber als V-Person des Landeskriminalamtes Berlin angeworben, unter Beteiligung der Bundesanwaltschaft übrigens. Auch Starke gehört zu den neun Beschuldigten, gegen die die Anklagebehörde Ermittlungen führt.

Oder Jens G., ein guter Bekannter und Mitarbeiter Marschners. Er wohnte in der Polenzstraße 5, schräg gegenüber der Polenzstraße 2, wo das Trio von 2001 bis 2008 eine Wohnung hatte. Alles in allem ein enger Personenzusammenhang mit mehrfachem Bezug zu Sicherheitsorganen.

Viele offene Fragen im Fall Marschner

Soweit die Ausgangslage, von der aus die Abgeordneten des Bundestages den Fall Marschner aufklären wollen. Kannte er Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe? Wusste der Verfassungsschutz durch ihn vom Wohnort des Trios in Zwickau? Warum waren die drei im Sommer 2000 überhaupt von Chemnitz nach Zwickau umgezogen? Warum begann die Mordserie danach, im September 2000? Warum zog das Trio nach dem letzten Mord, dem an der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter, in die Frühlingstraße in Zwickau? Und warum verließ Marschner nach dem letzten Mord 2007 Zwickau?

Marschner betrieb in der Stadt mehrere Szeneläden. In einem will ein Zeuge Beate Zschäpe gesehen haben. Und er unterhielt eine Baufirma für Abrissarbeiten. In der soll auch Mundlos beschäftigt gewesen sein, zu einer Zeit, als Marschner noch V-Mann war. Das bestreitet die Bundesanwaltschaft zwar entschieden, doch was wurde dazu vom Bundeskriminalamt (BKA) ermittelt?

Nach dem Tod von Böhnhardt und Mundlos und dem Auffliegen des NSU im November 2011 hatte ein früherer Geschäftspartner von Marschner, Herr A., gegenüber dem BKA erklärt, Marschner zusammen mit den zwei Uwes an Pfingsten 1998 in Greiz gesehen zu haben. Diesen Zeugen bezeichnete Paul Lehmann, BKA-Ermittler, gegenüber dem Ausschuss als "glaubhaft". Doch es stehe Aussage gegen Aussage. Denn Marschner bestritt bei seiner Vernehmung, Böhnhardt und Mundlos gekannt zu haben.

Marschner wurde zweimal vernommen, im Oktober 2012 und im Februar 2013. Das war mit Umständen verbunden und nicht unproblematisch. Marschner lebt in der Schweiz. Die Vernehmung führte im Rahmen der Amtshilfe ein schweizer Staatsanwalt durch. Die Beamten des deutschen BKA durften dabei sein, aber keine Fragen stellen, wie Lehmann schilderte. Sie hatten lediglich einen Fragekatalog vorbereiten können. Auf Nachfrage des Ausschusses erklärte er: "Wenn ich die Vernehmung selber hätte führen können, hätte ich weitere Fragen gestellt."

Der BKA-Vertreter lieferte damit ein Argument, Marschner in Deutschland direkt vom Ausschuss zu befragen. Zu den neun NSU-Beschuldigten zählt der nicht. Insofern kann er kein Aussageverweigerungsrecht in Anspruch nehmen.

Die Frage, wann ihm mitgeteilt wurde, dass Marschner für das BfV tätig war, ob er das also schon vor dessen Vernehmung wusste, wollte Lehmann in öffentlicher Sitzung nicht beantworten. Das unterliege der Geheimhaltung. Bei der späteren Befragung eines Beamten des Landeskriminalamtes (LKA) Sachsen, Dirk Münster, der ebenfalls in die NSU-Ermittlungen eingebunden war, erfuhr man, dass er über die V-Mann-Tätigkeit Marschners nie offiziell informiert worden war. Was BKA-Vertreter Lehmann in der Sitzung aber bestätigte, ist, dass es Quellenberichte von Marschner im Bundesamt in Köln geben muss. Die Ermittler hätten sie dort einsehen können.

Lehmann musste mehrmals passen, welche Fragen an Marschner damals gestellt wurden und welche nicht. Zum Beispiel die, wie es kam, dass sich auf Marschners Rechner ein Sounddatei mit der Paulchen-Panther-Musik befand. Diese Musik und diese Zeichentrickfigur sind zentraler Bestandteil der DVD über die NSU-Taten. Marschner wurde damit nicht konfrontiert.

Von den Mitarbeitern der Baufirma Marschners hätten 16 verneint, so Lehmann, dass Böhnhardt oder Mundlos auch auf den Baustellen gearbeitet hätten. Einer aber, Herr P., will die zwei auf Bildern erkannt haben. Seltsamerweise taucht diese Aussage im zusammenfassenden Vermerk Lehmanns aber nicht auf. Warum? "Das war ein Versehen meinerseits", antwortete der.

Von den 16 anderen Mitarbeitern wiederum sind etliche als Rechtsextremisten bekannt und polizeilich in Erscheinung getreten. Das ist Erkenntnisstand März 2015. Zu dem im April 2016 bekanntgewordenen Zeugen, einem Bauleiter, der wiederholt beteuert hat, Mundlos in der Truppe gesehen zu haben, konnte Lehmann nichts sagen. Er ist mit diesen neuen Ermittlungen nicht betraut. Dazu wird in der nächsten Ausschusssitzung am 9. Juni voraussichtlich der Vertreter der Bundesanwaltschaft, Jochen Weingarten, Auskunft geben müssen.

Die Ermittlungen des BKA waren insgesamt lückenhaft und oberflächlich. Ein umfangreicher Stichwortkatalog wurde offensichtlich nicht abgearbeitet. Von Ermittlungen über Marschners Verwicklung in die rechte Szene konnte Lehmann nichts berichten. Auch dessen Geschäfte wurden nicht ausreichend durchleuchtet. "Auffällig" sei, wie Lehmann auf Nachfrage einräumte, dass die Geschäfte "kein erfolgreiches Modell" waren. Sollten damit überhaupt Gewinne erzielt werden oder waren es Legenden?, so der Ausschuss. Etwa ein "Honigtopf des Verfassungsschutzes?" Also eine nachrichtendienstliche Einrichtung, um Rechtsextremisten anzuziehen und zu steuern.

Am Widerstand der Ermittlungsbehörden lässt sich die Bedeutung der Figur Ralf Marschner für die Aufklärung des NSU ablesen. Ob er persönlich vorgeladen wird, ist weiterhin offen. Die Sitzung ergab jede Menge Gründe dafür. Aber aus den Reihen des Ausschusses war zu erfahren, dass man eher darauf verzichten will. Man fürchtet, von ihm vorgeführt zu werden, entweder durch Fernbleiben oder durch Auskunftsverweigerung. Das allerdings wäre weder neu noch exklusiv. Auch zahlreiche Beamte haben sich den Untersuchungsausschüssen bisher verweigert, zum Beispiel durch extensive Erinnerungslücken. Ein Gremium des Parlamentes sollte seine Möglichkeiten ausreizen. Und wenn ein amtlich geführter Zeuge die Aussage verweigert, fällt das auf die zuständige Behörde zurück. Die müsste Angst vor so einem Auftritt haben, nicht der Ausschuss.