NSU-Ermittlungen: Schützt das Bundeskriminalamt Ralf Wohlleben?

Auch nach dem Ende des Terrortrios gab es zahlreiche fragwürdige Unterlassungen der Polizei - bis heute

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Wird seit dem 4. November 2011 wirklich gründlich ermittelt? Gerade ein halbes Dutzend Mal hat der Untersuchungsausschuss des Bundestages bisher getagt - und immer lückenhafter erscheinen die Ermittlungen nach dem Ende des NSU-Trios. Gleichzeitig wird immer offensichtlicher, wie Behörden auch aktuell gegenüber dem Parlamentsgremium mauern. Jüngst ist ein Verdacht aufgekommen: Wird Ralf Wohlleben von Amtswegen geschützt?

Zunächst nach München. Wohlleben ist nach Beate Zschäpe der wichtigste Angeklagte im Prozess über die NSU-Verbrechen vor dem Oberlandesgericht. Beide sind bis heute in U-Haft, während die drei anderen Angeklagten André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schultze sich frei bewegen können. Wohlleben wird vorgeworfen, die Ceska-Pistole beschafft zu haben, mit der neun Menschen erschossen wurden. Wie Zschäpe hat auch Wohlleben im Dezember 2015 nach zweieinhalb Jahren sein Schweigen gebrochen.

Er räumte ein, eine Waffe in der Hand gehabt zu haben, die von Schultze zu den drei Untergetauchten Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe gebracht wurde. Er bestreitet aber, der Beschaffer zu sein. Im Gegensatz zu Zschäpe, die ihre Einlassung von ihrem Anwalt vortragen ließ, äußerte sich Wohlleben persönlich und stand im Januar 2016 dem Gericht auch Rede und Antwort. Er wollte damit demonstrieren, dass er kooperiere und nichts zu verbergen habe.

Rechner bislang nicht entschlüsselt

Eine Anwältin der Nebenklage forderte ihn auf, den Schlüssel zu seinen Rechnern preiszugeben, damit diese ausgelesen werden könnten. Wohlleben lehnte das mit der Begründung ab, auf seinen Rechnern befänden sich private Fotos seiner Familie. Er wolle nicht, dass die an die Medien gelangten, wie schon einmal passiert.

Was man dadurch nebenbei erfuhr: Die Rechner von Wohlleben sind offensichtlich bisher vom BKA nicht entschlüsselt worden. Deshalb werden nun Vorgänge interessant, die das BKA selber in den Fokus setzen und die erst vor kurzem bekannt wurden, in den NSU-Untersuchungsausschüssen von Thüringen und des Bundestages.

BKA nahm einem IT-Experten mitten in der Arbeit Datenträger aus den Händen

Im Paul-Löbe-Haus in Berlin wurde im April Christian Hummert als Zeuge gehört. Der letzte des Tages, bis abends um 22 Uhr. Hummert ist Professor für IT-Sicherheit und digitale Forensik und war von 2009 bis 2015 beim Landeskriminalamt (LKA) in Thüringen angestellt. Ende November 2011 wurde Ralf Wohlleben festgenommen, seine Wohnung durchsucht und mehrere technische Geräte beschlagnahmt. Seltsam ist bis heute, warum diese Aktion erst dreieinhalb Wochen nach der Aufdeckung des NSU am 4. November 2011 geschah. Für den Beschuldigten viel Zeit, um Beweismittel verschwinden zu lassen und Spuren zu verwischen.

Christian Hummert wurde damit beauftragt, die Daten der Wohllebschen Geräte zu sichern: Mehrere Rechner, Festplatten, Sticks, Handys. Er bekam sie an einem Nachmittag und begann mit der Datensicherung. Doch am nächsten Morgen, früh gegen 6.15 Uhr, als er noch alleine in der Dienststelle war, seien "viele Herren des BKA" gekommen, vier bis fünf, und forderten ihn auf seine Arbeit abzubrechen - so die Geschichte, wie sie Hummert schildert. Es war der Staatsschutz, der die Geräte beschlagnahmte und mit nach Meckenheim nahm.

Wer entschlüsselt die denn beim BKA?, habe er noch gefragt, weil er wusste, dass es damals bei dem Amt keine Abteilung gegeben habe, die sich mit Entschlüsselungen von Computern befasste. Darum würden sie sich schon kümmern, sei die Antwort gewesen. Die Datenträger von Wohlleben kamen nie zurück. Auch die Teilsicherung der Daten, die Hummert bereits vorgenommen hatte, musste später dem BKA in Meckenheim übergeben werden. Und schließlich wiederholte sich dieser Vorgang bei den Rechnern von André Kapke und Sven Rosemann. Auch die beschlagnahmte das BKA beim LKA in Thüringen. Rosemann und Kapke waren führende Neonazifiguren in Thüringen. Kapke unterstützte das Trio nach dessen Untertauchen. Er ist einer der weiteren neun Beschuldigten im NSU-Komplex, gegen die die Bundesanwaltschaft bis heute ermittelt.

Christian Hummert und sein Vorgesetzter im LKA waren mit dem Verhalten des BKA nicht einverstanden und formulierten eine Beschwerde, die zu den Akten kam. Dadurch erfuhren die Untersuchungsausschüsse in Thüringen und Berlin Jahre später überhaupt von der Sache und dem Namen Hummert. Die "Sache", das ist zusammengefasst: Das BKA nimmt einem IT-Experten mitten in der Arbeit Datenträger aus den Händen und hat sie bis heute offensichtlich nicht entschlüsselt.

Eine nicht ausgewertete Wegfahrsperre und ein übersehenes Projektil

Doch die Geschichte, die Hummert vor den Abgeordneten zu erzählen wusste, geht noch weiter und schlug bis in die jüngste Sitzung des Untersuchungsausschusses in Berlin Ende April Wellen. Der 37jährige Professor ist nach eigener Auskunft "Sachverständiger für Wegfahrsperren" von Kraftfahrzeugen. Im Februar 2012 habe ihn ein Kollege aus dem BKA angerufen und gebeten, die Wegfahrsperre aus dem Wohnmobil, in dem in Eisenach-Stregda Böhnhardt und Mundlos tot aufgefunden wurden, auszubauen. In dem entsprechenden Motorsteuergerät können neben der Wegfahrsperre auch Daten über die Bewegungen des Fahrzeuges gespeichert sein.

Hummert baute, wie gewünscht, das Gerät aus, das die BKA-Kollegen an sich nahmen. Dabei fand er auf dem Fahrersitz unter Glasscherben zufällig ein Projektil, Kaliber 9mm, das zu der Maschinenpistole passte, die neben anderen Schusswaffen im Wohnmobil lag. War es bei der Spurensicherung übersehen worden? Hummert wurde aufgefordert, das Teil wieder hinzulegen, wo es lag. Zwei Wochen später kam das Motorsteuergerät vom BKA zurück und Hummert wurde erneut beauftragt, es wieder einzubauen. Dabei stellte er fest, dass es gar nicht ausgelesen worden war, es war ungeöffnet und noch versiegelt. Die Auswertung habe sich erübrigt, sei ihm erklärt worden. Warum, wisse er bis heute nicht. Nach dem Einbau des Gerätes hätten die Kriminaltechniker des BKA die Fahrerkabine weiter untersucht und in der Tür ein zweites Projektilteil gefunden, das zu dem Projektil vom Fahrersitz passte. Soweit die Geschichte aus dem Munde des IT-Professors Christian Hummert.

Erklärungsschwierigkeiten der BKA-Expertin

Nach der seiner Aussage wollte der Untersuchungsausschuss das BKA zu dem Vorgang hören. Eine Sitzung später, Ende April, erschien Sandra Kruse, Physikerin in Diensten des BKA, vor den Abgeordneten. Und es kam zu einem weiteren fragwürdigen Zeugenauftritt aus den Reihen der Ermittlungsbehörden. Warum die Fahrzeugtechnik zwar ausgebaut, aber nicht ausgewertet wurde, konnte sie nicht plausibel begründen.

Man erfuhr nebenbei, dass sie beim Ausbau selber gar nicht dabei war. Ihre Kollegen, erklärte sie, hätten zunächst vor Ort in Eisenach mechanisch geprüft, ob die Autoschlüssel passten. Und nachdem sie passten, habe es keine Veranlassung gegeben, das Steuerungsgerät auszuwerten. Warum es dann trotzdem ausgebaut wurde, warum es trotz Ausbau nicht ausgewertet wurde und warum es schließlich wieder eingebaut wurde - all diese Fragen blieben unbeantwortet.

Hatte ihr Auftritt eine andere Funktion? Tatsächlich griff sie die Zeugenaussage von Christian Hummert, dem IT-Professor und Ex-LKA-Mitarbeiter, vehement an. Der habe die Technik gar nicht ausgebaut, so die BKA-Vertreterin, sondern ihre BKA-Kollegen hätten das getan. Es sei auch nicht Hummert gewesen, der das 9mm-Projektil auf dem Fahrersitz fand, sondern ebenfalls ihre Kollegen. Hummert habe damals nicht Hand angelegt, sondern nur zugeschaut. Er habe auf eigenen Wunsch als Zuschauer dabei sein wollen, weil er etwas lernen wollte.

Bekundungen, umso bemerkenswerter, als die Zeugin gar nicht vor Ort war und das unmittelbare Geschehen gar nicht bezeugen kann, sondern nur wiedergeben kann, was ihre Kollegen angeblich berichtet hätten. Doch genau diese Konstruktion ermöglichte es, die Aussage von Hummert zu entwerten, ohne die Zeugin der Gefahr einer Falschaussage auszusetzen. Eine präparierte Zeugin, eine inszenierte Zeugenaussage? Dazu passt, dass das BKA selber die Zeugin benannt hatte. Nach der Aussage von Hummert hatte der Ausschuss das BKA um einen zuständigen Zeugen gebeten. Benannt wurde mit Sandra Kruse ausgerechnet jemand, der überhaupt nichts bezeugen kann.

Was ist mit den BKA-Männern, die vor Ort waren und die auch Christian Hummert in seiner Aussage erwähnte? Warum werden sie nicht als Zeugen benannt? Weil sie eine Falschaussage riskieren würden, sollten sie Hummert widersprechen? In Fällen, bei denen Aussage gegen Aussage steht, haben Untersuchungsausschüsse die Möglichkeit einer Gegenüberstellung der Zeugen.

Hinweise auf mögliche Verwicklungen der Verfassungsschutzämter

Auch Hinweise auf mögliche Verwicklungen der Verfassungsschutzämter ergaben sich aus der Sitzung des Untersuchungsausschusses.

Weil am 4. November 2011 im Wohnmobil von Böhnhardt und Mundlos die Dienstwaffen von Michèle Kiesewetter und Martin Arnold gefunden wurden, jene baden-württembergischen Polizisten, die im April 2007 in Heilbronn überfallen wurden, schickte das Landeskriminalamt von BaWü mehrere Beamte nach Ostdeutschland. Sie halfen bei der Spurensicherung und den Ermittlungen und nahmen auch bei den Lagebesprechungen der Sonderkommission (SoKo) Capron in der Polizeidirektion in Gotha teil.

Leiter der SoKo war Michael Menzel. Im Besprechungsraum sahen die Beamten aus BaWü, so die Zeugen Tilmann Halder und Manfred Nordgauer, bereits am Morgen des 5.11.11 gegen 9 Uhr ein Schaubild an der Wand mit den Fotos und Namen des Trios Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe und weiteren Namen, verbunden durch Striche und Linien. Nordgauer wörtlich: "Verbindungsgeflechte, wie sie Ermittler mühevoll erarbeiten."

Von den Besprechungen im Lagezentrum in Gotha existieren Vermerke, die der Ausschuss vorliegen hat. Danach soll Menzel erklärt haben: Die thüringische Zielfahndung habe jahrelang erfolglos nach dem untergetauchten Trio gesucht. 2002 wurde die Fahndung eingestellt. Es sei bekannt geworden, dass das "Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) die Zielpersonen abgedeckt" habe. Eine weitere Aussage Menzels soll gewesen sein: Er wolle alles tun, um Beate Zschäpe zu finden, "bevor sie vom LfV abgezogen wird."

Unterzeichnet sind die Vermerke von Sabine Rieger vom LKA Baden-Württemberg. Tilmann Halder antwortete schließlich auf Frage des Ausschusses, er habe aus dem Mund von Menzel den Satz gehört: Es sei ihm "scheißegal, was der Staatsschutz meine, er ziehe das durch:" Was habe Menzel damit gemeint, mit dem Staatsschutz?, will der Ausschuss wissen. Und Halder: Das habe er ja auch nicht verstanden.

Diese Schilderungen erinnern stark an die Aussage des pensionierten Beamten Norbert Wießner, der in Thüringen erst im Verfassungsschutz und danach im LKA gearbeitet hatte. Vor dem ersten NSU-Ausschuss des Bundestages hatte Wießner ausgesagt, am 4. oder 5.11.11 habe ihn Menzel angerufen, ihm mitgeteilt, Böhnhardt und Mundlos seien tot und ultimativ gefragt, wo Zschäpe sei. Er habe geantwortet, so Wießner damals, wenn er wissen wolle, wo Zschäpe steckt, müsse er Wohlleben fragen. Sicherheitsbehörden mit Kontakt zu Terroristen?

Am selben Tag, als im U-Ausschuss des Bundestages die Aussprüche des Polizeichefs Michael Menzel aus den Tagen nach dem 4.11.11 bekannt wurden, erschien der vor dem U-Ausschuss von Thüringen. Er sollte sein Verhalten und seine Entscheidungen am Tatort Eisenach-Stregda erklären. Für den Journalisten Andreas Förster, der die Sitzung in Erfurt beobachtete, blieb Menzel viele Antworten schuldig. Auch die Abgeordneten habe sein Auftritt nicht überzeugt, so Förster in der Frankfurter Rundschau.

Noch im Mai soll sich Menzel nun auch dem Ausschuss des Bundestages stellen. Zu den Fragen, die dem Polizeiverantwortlichen noch nicht gestellt wurden, gehören die zu seinen Aussagen über den Staats- und Verfassungsschutz bei den Lagebesprechungen im November 2011 in Gotha.