NSU: Nach dem Urteil ist vor der Aufklärung

Seite 2: Die Rätsel Zschäpe und NSU

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Dabei passt das "Rätsel Zschäpe" zum "Rätsel NSU". Sie habe sich im November 2011 nicht gestellt, um nicht zu reden - das sagte sie nicht nur damals den Fahndern, sondern Anfang Juli 2018 noch einmal in ihrem Schlusswort. Allerdings hat sie bis heute nicht geredet. Ein offener Widerspruch, der dazu führen könnte, dass das Kapitel Zschäpe doch noch nicht zu Ende ist.

Ergeben hat die Aufklärung in den letzten Jahren außerdem, dass auch der Verfassungsschutz (VS) seinen Anteil an den NSU-Taten hat. Beispielsweise war in Kassel ein VS-Beamter während des Mordes am Tatort. Wie groß der Anteil des Geheimdienstes genau ist, gehört zu den bislang unbeantworteten Fragen.

Er reicht aber in die Reihen der Täter. Und das macht die Sache brisant. Unter den weiterhin neun Personen, die der NSU-Unterstützung verdächtig sind, befindet sich mit Sicherheit mindestens eine V-Person einer Polizeibehörde.

Aber auch der Angeklagte Ralf Wohlleben ist, was häufig und gerne verschwiegen wird, mutmaßlich ein V-Mann des Verfassungsschutzes gewesen. Der Klarname "Wohlleben" stand auf einer Liste des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) von V-Leuten in Führungspositionen der NPD.

Das hat ein unverdächtiger Zeuge, ein früherer Bundesanwalt und zeitweiliger Verfassungsschutzpräsident eines Bundeslandes, gegenüber dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages ausgesagt.

Die Doppelbödigkeit des Gerichtsverfahrens

Im Angeklagten Wohlleben personalisiert sich die Doppelbödigkeit des Gerichtsverfahrens von München. Trifft der Verdacht zu, stand die Bundesanwaltschaft vor der komplizierten Aufgabe, diesen "ihren" Angeklagten zu verschonen, ohne dass es auffällt. Im Strafmaß von zehn Jahren Haft wäre das gelungen. Es wäre der Plan B, mit dem der V-Mann befreit und zugleich ruhiggestellt werden könnte. Wie aber stellt man Beate Zschäpe ruhig?

Doch in welchem Verhältnis stehen die Anklagebehörde Bundesanwaltschaft (BAW) und das Oberlandesgericht München zueinander? Herrscht im Rechtsstaat nicht Unabhängigkeit und Gewaltenteilung? Das eine - die BAW - ist eine politische Behörde, die zur Staatsgewalt Exekutive gehört, das andere eine formal unabhängige Instanz der Staatsgewalt Justiz. Beide allerdings betreiben Staatsschutz.

Die Bundesanwaltschaft steuert die Prozesse durch die Auswahl der Angeklagten, die konkreten Schuldvorwürfe, wie die in den Prozess eingeführten oder ausgesparten Ermittlungsakten und Zeugen. Von Zeugen, die die Anklagebehörde nicht benennt, erfährt ein Gericht normalerweise nichts.

Wie jener Zeuge, ein Bewohner der Keupstraße in Köln, Tatort der Nagelbombe, der unmittelbar nach dem Anschlag zwei bewaffnete Zivilisten, mutmaßlich Beamte, gesehen hatte. Es ist einer der zahllosen weiterhin ungeklärten Sachverhalte des NSU-Komplexes.

Staatsschutz

Dass der Staatsschutzsenat unter Leitung des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl in dem Prozess tatsächlich auch Staatsschutz betrieb, hat er im Fall Kassel dokumentiert. Beim Mord an Halit Yozgat in dessen kleinem Internetcafé war ein hessischer Verfassungsschutzbeamter zugegen. Davon kann man fest ausgehen. Der Beamte könnte ein Mittäter oder sogar der Täter gewesen sein.

Der bestritt das natürlich und sprach von einer zufälligen Anwesenheit. Das Gericht glaubte ihm das und beendete das Kapitel, ohne dass es aufgeklärt wurde. Es unterwarf sich den Interessen der Anklageinstanz GBA.

Warum also nicht auch bei den Urteilssprüchen eine Unterwerfung unter den GBA? Dass die Justiz formal unabhängig ist, ist keine Garantie dafür, dass sie Staatsschutzansprüchen und -logiken nicht nachgeben könnte.

Insofern wäre das Urteil vom 11. Juli 2018 ein politisches Urteil. Wo die Öffentlichkeit aber derart kritisch auf die staatlichen Verantwortungsinstanzen schaut wie im Falle NSU, wäre es zugleich ein fragiles Urteil.