Nach der Utopie: Der Teufel möglicherweise

Seite 2: Tumult im Granada

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Performance

Der Film handelt vom Aufbrechen fest gefügter Identitäten. Am Anfang wird das thematisiert, indem mit Hilfe von Spiegeln fragmentierte Körper gezeigt werden. Man darf bezweifeln, dass die Zuschauer, bestimmt erschöpft von John Voights Deckhengst-Aktivitäten in Midnight Cowboy, für solche Feinheiten ein Auge hatten. Sie sahen Chas, der sich bei der Fellatio im Spiegel betrachtet. Und Chas beim Sadomaso-Sex mit seiner Freundin, inklusive Strangulation zur Steigerung der Lust. Das ist typisch Cammell. Er führt eine Art von „Normalität“ vor, deren sexuelle Verklemmtheit eng mit Gewaltphantasien und Gewaltakten verknüpft ist, um sie anschließend mit einem positiv besetzten Gegenentwurf zu kontrastieren (die Liebesspiele in Turners Haus). Dafür braucht er Zuschauer, die bereit sind, sich auf einen Film einzulassen. Das Granada war kein Altenheim. Aber mit dem Zielpublikum von Performance hatte die dortige Stammkundschaft auch nichts zu tun. Wenn man von Dilettantismus sprechen kann, dann auf Seiten des Studios. Die Filmproduktion und das Bestattungsgewerbe trennen Welten.

Performance

Dann kam die Szene mit Chas und Joey Maddocks, den beiden Jugendfreunden, die mühsam ihre homosexuelle Seite unterdrücken, was – wieder typisch Cammell – in einer Gewaltexplosion endet. Weil Joey zu zärtlichen Berührungen nicht fähig ist (die Männlichkeit), peitscht er Chas aus. Die Schnittfassung von Performance, die damals gezeigt wurde, gibt es nicht mehr. Erhalten ist nur ein Transkript. Deshalb weiß man, dass die Peitsch- und Prügelszene länger und detaillierter war als in der späteren Version. Bevor Joey, von Chas’ Kugel getroffen, starb, kroch er zu diesem hin und zerschnitt mit einer Rasierklinge die Spitze seines Schuhs – ein letzter Akt des Widerstands, der sich auch sexuell deuten lässt.

Performance

Weil auch diese Vorführung ein Desaster war, wird sie oft mit der vom Februar vermengt. Deshalb ist unklar, ob sich die Gattin eines Studio-Offiziellen im Februar oder im Juli bei dieser Stelle erbrach, wenn die Dame nicht überhaupt erfunden ist. Im Granada jedenfalls brach nun ein Tumult aus. Die Vorführung musste gestoppt werden. Wer gehen wollte, bekam sein Geld zurück. Nach 20 Minuten wurde der Film fortgesetzt. Am Ende gab es heftige Diskussionen unter denen, die bis zum Schluss geblieben waren. Sandy Lieberson erinnert sich an eine traumatische Erfahrung und daran, dass die Warner-Bosse fluchtartig das Kino verließen.

Ted Ashley und John Calley hatten Dr. Aaron Stern mitgebracht. Dieser Herr war Psychiater von Beruf, was ihn offenbar für eine leitende Funktion in der Abteilung der Motion Picture Producers’ Association (MPPA) qualifizierte, die für die Freigabe-Zertifikate zuständig ist (1971 wurde er dort Chef). Solche Altersfreigaben haben – auch wenn die Verantwortlichen das immer vehement bestreiten – schon deshalb viel mit Zensur zu tun, weil die wirtschaftlichen Konsequenzen gravierend sind. Dr. Stern warnte seinen Freund Ted Ashley, dass Performance in dieser Form ein X-Zertifikat erhalten werde (das heutige NC-17, unserem FSK 18 entsprechend).

Der Theorie nach wurde durch ein X sichergestellt, dass solche Filme nur von Erwachsenen gesehen werden konnten. Dagegen wäre vor allem dann nichts einzuwenden, wenn solche Zertifizierungen transparenter und weniger stark von Vorurteilen und ideologischen Normen bestimmt wären (das Wirken des Dr. Stern ist dafür ein trauriges Beispiel). In der Praxis gab es viele Kinos, die einen X-Film grundsätzlich nicht zeigten, auch nicht für Erwachsene, weil das X automatisch mit Pornographie assoziiert wurde. Unter den großen Studios galt es als peinlich, einen Film in den Verleih zu bringen, den die eigene Produzentenvereinigung mit einem X gebrandmarkt hatte. Darum könnte an dem Gerücht etwas dran sein, dass Calley und Ashley von den anderen Studiobossen aufgefordert wurden, Performance an einen Verleiher zu verscherbeln, der Pornokinos belieferte und so die Filmindustrie – traditionell ein Hort der Scheinheiligkeit – vor Schande zu bewahren.

Glücksspiel und Zensur

Es gibt Fälle, in denen Studios der MPPA die Stirn boten und ein X verhinderten, ohne größere Konzessionen zu machen. Calley und Ashley knickten schon ein, als Dr. Stern seine inoffizielle Expertise abgegeben hatte. Das hatte wahrscheinlich mit ihrer Abneigung gegen Performance zu tun, ganz sicher aber mit Parkplätzen. Mit diesen Parkplätzen hatte Caesar Kimmel, jetzt Vizepräsident der Kinney National Services, das Vermögen verdient, ohne das Steve Ross, der Kinney-Chef, die Warner Brothers nicht hätte kaufen können. Caesar war der Sohn von Emmanuel Kimmel, eines bekannten Spielers aus New Jersey. Kinney gehörten auch die Limousinen, mit denen Kimmel sen. einige betuchte Freunde des Glücksspiels von New York nach New Jersey bringen ließ, wo er ein Würfelspiel organisiert hatte. Als in New York der Staatsanwalt davon Wind bekam, eröffnete er ein Verfahren wegen illegalen Glücksspiels, in das auch Ross und Kimmel jun. verwickelt wurden.

Caesar Kimmel beteuerte seine Unschuld, und das Verfahren verlief letztlich im Sande. Doch die peinliche Affäre fiel genau in die Zeit der Übernahme der Warner Brothers durch Kinney, die von den Behörden nun besonders misstrauisch beobachtet wurde, weil sie alte Verdachtsmomente bezüglich einer Verbindung zwischen der Unterhaltungsindustrie und dem illegalen Glücksspiel zu bestätigen schien (wie die Parkgaragen und die Bestattungsinstitute dazu passten, überlasse ich der Phantasie des Lesers). Das Kinney-Führungspersonal hatte Anweisung, alles zu vermeiden, was auf das Unternehmen aufmerksam machen und dieses in ein ungünstiges Licht rücken konnte. Weiteren Ärger mit Performance konnten Ashley und Calley gerade jetzt überhaupt nicht brauchen.

Wir wollen annehmen, dass Filme in aller Regel zum Schutz der Jugend geändert werden. Aber manchmal ist auch ein Würfelspiel in New Jersey daran schuld. Ashley und Calley verfügten, dass eine hollywood-kompatible Fassung von Performance hergestellt werden musste. Um nicht gleich wieder die Kontrolle zu verlieren, sollte das diesmal in Los Angeles geschehen, nicht in London. Lieberson musste zurück nach England, wo er einen neuen Film produzierte. Roeg wurde in Australien erwartet, um Walkabout zu drehen. Donald Cammell fiel daher die Aufgabe zu, für eine Version zu sorgen, mit der sich alle drei identifizieren konnten. Je nachdem, welches Interview man liest und in welchem Jahrzehnt danach gefragt wurde, gelang ihm das mal mehr und mal weniger gut. Zu fast allem, was da gesagt wird, kann man auch das Gegenteil finden.

Üblicherweise gibt es ein Sammelsurium von Gründen, warum ein Film umgeschnitten wird. In den wenigsten Fällen sind es allein der Sex und die Gewalt, obwohl das oft behauptet wird. Und falls doch, muss man immer noch fragen, um welche Art von Sex und Gewalt es sich da handelt. Mit einer Laufzeit von etwa zwei Stunden war Performance den neuen Warner-Chefs zunächst einmal zu lang. Cammells erste Tat war die, den ihm zugeteilten Cutter loszuwerden. Als er dann Frank Mazzola kennenlernte, trafen sich zwei Seelenverwandte. Mazzola war in Hollywood aufgewachsen, hatte in Rebel Without a Cause eine kleine Rolle gespielt und war inzwischen ein sehr erfahrener, aber keineswegs auf althergebrachte Handwerksregeln festgelegter Schnittmeister.

Mazzola erinnert sich, dass er vor allem die erste Hälfte des Films bearbeitete und um etwa 20 Minuten kürzte. Da die von ihm geschnittene Version von Calley abgenommen wurde, sind Zweifel daran angebracht, ob es wirklich Turners Badewanne und Doppelbett waren (in der zweiten Hälfte), die als so anstößig empfunden wurden. Von den Kürzungen stark betroffen waren der Umgang der Gangster mit ihrer Homosexualität und die damit verbundene Gewalt. Am Ende der Szene, in der Harry Flowers den Auftrag gibt, Chas zu töten, geht er mit geilem Grinsen aus seinem Schlafzimmer in den Raum, in dem bei Cammell der sexuelle Missbrauch stattfindet: ins Badezimmer. Er wirkt, als habe ihn der Mordauftrag erregt. Ursprünglich wurde im Gegenschnitt der nur mit einem Handtuch bekleidete Stricher gezeigt, den Harry da so lüstern anschaut und mit dem er jetzt Sex haben wird. In der derzeit verfügbaren Fassung ist der Gegenschnitt entfernt (früher in der Szene gibt es noch eine Einstellung mit dem Mann im Handtuch). Es besteht da eine beunruhigende Beziehung zwischen unterdrückter oder nur im Geheimen ausgelebter (Homo)Sexualität und Gewalt (das hat nichts mit Schwulenfeindlichkeit zu tun).

Performance

In Großbritannien erhielt die bereits stark gekürzte Fassung erst die Freigabe, als die Zwischenschnitte aus der Auspeitschszene entfernt worden waren: in diesen Einstellungen ist Chas beim Sex mit seiner Freundin zu sehen, was den sexuellen Charakter der Prügelei unter Männern deutlich macht, die sich anders nicht berühren können. (Die britischen Zensoren mochten es auch nicht, wie in dem Film mit einem ihrer nationalen Statussymbole umgegangen wird. Die Szene, in der Chas den Rolls-Royce des Anwalts mit Säure übergießt, musste auf Anordnung des BBFC ebenfalls gekürzt werden.)

Die Amerikaner hatten auf einen Swinging London-Film gehofft, gepaart mit einem dieser Popstar-Filme wie Finders Keepers (mit Cliff Richard). Sie bekamen schwule Gangster, die sich Reiterbilder an die Wand hängten wie in einem exklusiven Herrenclub, mit gewöhnungsbedürftigem, weil vorher nie gehörtem East-End-Akzent sprachen und so taten, als seien sie seriöse Geschäftsleute aus der Londoner City (die Krays traten gern als Direktoren ihrer „Firma“ auf, einer Gangsterbande). Und sie bekamen einen Mick Jagger, der zum ersten Mal zu sehen war, als der Film schon halb vorbei war. Im nicht verwendeten Material fand Mazzola ein paar Einstellungen, in denen Jagger eine Wand besprüht. Diese Bilder fügte er in den Gangsterteil ein. Das war verwirrend, scheint Calley aber besänftigt zu haben, weil der ersehnte erste Auftritt des Stars nach vorne verlegt worden war.