Nachwuchs für den Dschihad: Droht ein Islamischer Staat 2.0?

Aufnahmen wie diese wurden nach Angaben der syrisch-kurdischen Frauenmiliz YPJ auf beschlagnahmten Handys ausländischer IS-Frauen im Camp Al-Hol gefunden. Screenshot: ANF

Ein Sondergericht für IS-Gefangene in Nord- und Ostsyrien wird vergeblich gefordert. In Lagern wird die nächste Generation erzogen. Die Sicht einer UN-Berichterstatterin ist irritierend.

Verstörendes Videomaterial von beschlagnahmten Handys ausländischer IS-Frauen oder von Aufnahmen im Internierungslager Al-Hol bei Hasaka zeigt die Ausbildung von Kindersoldaten. Auch die Hinrichtung eines knienden Mannes durch einen Jungen ist darauf zu sehen. Mit einer Triggerwarnung versehen, haben die syrisch-kurdischen Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) das Material vor wenigen Tagen veröffentlicht.

Teilweise bleibt unklar, wo es aufgenommen wurde, ob es sich um dort kursierendes "Schulungsmaterial" handelt, oder ob die militärähnlichen Übungen in dem schwer kontrollierbaren Massenlager selbst stattgefunden haben.

Seit Jahren fordert die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) die internationale Gemeinschaft zur Einrichtung eines Sondergerichts für Gefangene aus den Reihen der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) auf – bisher vergeblich. Auch die Unterstützung bei der Errichtung sicherer Gefängnisse für IS-Terroristen bleibt aus. In den Lagern wächst die Generation IS 2.0 heran, die zur internationalen Bedrohung werden kann.

Kinder gebären für den Dschihad

In den Gefängnissen der AANES sitzen seit Jahren mehr als 10.000 ehemalige Kämpfer der Terrororganisation aus mehr als 60 Ländern ein. Etwa 60.000 IS-Familienangehörige leben in bewachten Lagern wie dem Camp Al-Hol. IS-Frauen führen in einigen Abteilungen in Al-Hol das Regiment und erziehen ihre Kinder nach der IS-Ideologie.

Der Trakt, in dem mehr als 7.000 ausländische Frauen und Kinder interniert sind, ist dabei besonders auffällig. Dort kommen jeden Monat durchschnittlich 50 Babys zur Welt. Gezeugt von zum Teil eingeschleusten Jugendlichen oder dort lebenden Jungen, um eine neue IS-Generation heranzuziehen. "Besonders überzeugte Islamistinnen würden ihre erst 14 oder 15 Jahre alten Söhne dazu drängen, andere Frauen zu heiraten und zu schwängern, berichten mehrere Quellen übereinstimmend."

"Die Frauen kriegen Kinder, um sie später zu Kämpfern zu machen", sagt ein kurdischer Kommandeur laut einem Bericht der ARD-tagesschau. Von klein auf würde der Nachwuchs indoktriniert und radikalisiert. Zehntausende Kinder ohne Chance auf Schulbildung gebe es bereits – und daher die Befürchtung, dass da eine Generation heranwachse, die nichts anderes lerne als die Weltsicht einer islamistischen Terrororganisation.

Dem Militär der Selbstverwaltung, den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) fehlt Personal, um das Lager lückenlos zu überwachen. So gelangen immer wieder Waffen, IS-Schulungsmaterial, aber auch Personen, die den IS unterstützen, in das Lager. Al-Hol ist eine tickende Zeitbombe, die jederzeit explodieren kann.

Deutscher IS-Terrorist noch immer in Nordsyrien inhaftiert

Seit Jahren appelliert die Selbstverwaltung vergeblich an die Staatengemeinschaft, ihre Staatsangehörigen zurückzuholen. Da gibt es zum Beispiel den inhaftierten deutschen IS-Terroristen Martin Lemke alias Abu Anas Al-Almani, der sich 2014 dem IS in Syrien anschloss. Der Journalist Hubertus Koch führte 2022 ein Interview mit ihm (ab Min. 20). Dort berichtete Lemke, er habe beim IS-Geheimdienst gearbeitet. Reue zeigte er nicht: "Ihr bezeichnet uns als Terroristen, wir bezeichnen andere als Terroristen."

Zu Details über seine Zukunft will er sich nicht äußern, weil "das Nachbarland am Machen ist". Hofft er, bei einem Gefängnisaufstand freizukommen, wie dies im vergangenen Jahr im Gefängnis Sina bei Hasaka der Fall war? Bei diesem Aufstand konnten hunderte IS-Terroristen entkommen – unter anderem, weil das türkische Militär zeitgleich SDF-Einheiten angriff, die zur Unterstützung des Gefängnispersonals auf dem Weg nach Hasaka waren.

Staatengemeinschaft ignoriert Bitten auf Unterstützung

Die Forderung der Selbstverwaltung nach einem internationalen Tribunal zur strafrechtlichen Verfolgung der IS-Terroristen in der Region wird bis heute ignoriert. Nun sollen ausländische Mitglieder der Dschihadistenmiliz von der Justiz der Selbstverwaltung angeklagt werden.

"Wir unternehmen diesen Schritt, weil die internationale Gemeinschaft ihren Pflichten bei der Strafverfolgung von Terroristen und der Schaffung von Gerechtigkeit nicht nachgekommen ist", erklärt Bedran Çiya Kurd, der Ko-Vorsitzende der AANES-Abteilung für Außenbeziehungen.

Der sogenannte Islamische Staat sei eine internationale Bewegung, daher sollte auch von der internationalen Justiz darauf geantwortet werden, betonte Kurd. Die Einrichtung eines Sondergerichtshofs in der Region nach den Standards der Vereinten Nationen wäre die richtige und notwendige Maßnahme. Alleine kann das die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien nicht stemmen.

Das Embargo gegen Syrien, das auch für das Gebiet der Selbstverwaltung gilt, der türkische Wasserkrieg und die ständigen Drohnenangriffe der Türkei binden viele Kräfte und Personal. Wie soll unter diesen Bedingungen die Selbstverwaltung den Kampf gegen den IS, den Bau sicherer Gefängnisse oder gar eine Resozialisierung bewerkstelligen?

Das Auswärtige Amt in Berlin nahm die Ankündigung, ein eigenes Sondergericht einzurichten, bereits zur Kenntnis. Von "großer Bedeutung" sei bei derartigen Verfahren die "Einhaltung internationaler Standards", so die schriftliche Stellungnahme des Auswärtigen Amtes.

Genau aus diesem Grund hat die Selbstverwaltung die internationale Gemeinschaft dazu eingeladen, die Prozesse zu begleiten und zu beobachten: "Wir sind der Einhaltung aller Menschenrechtsstandards verpflichtet und werden die Rechte aller Angeklagten sowie umfassende Garantien eines ordnungsgemäßen Verfahrens sicherstellen", heißt es in einer Erklärung der AANES.

Außer Forderungen nach internationalen Standards gab es von der internationalen Gemeinschaft allerdings keinerlei Vorschläge, das Problem mit den IS-Terroristen gemeinsam zu lösen. Stattdessen wird wieder einmal das typische Framing bedient, dass "die Kurden als dominierende Kraft" in Nordsyrien das Problem seien, die internationale Standards nicht einhielten.

Dabei haben vor allem die arabischen Repräsentanten der Selbstverwaltung in den arabisch dominierten Regionen rund um das Al-Hol-Camp ein Problem mit der in der dortigen Bevölkerung noch vorhandenen IS-Ideologie. Je schlechter die Versorgungs- und Sicherheitslage in der Region wird, desto mehr Menschen wenden sich dem finanzstarken IS zu, um ihre Familien zu ernähren.

Die irische UN-Sonderberichterstatterin Fionnuala Ní Aoláin besuchte Mitte Juli die IS-Camps der Selbstverwaltung in Nordsyrien. Sie kritisierte vor allem die "massenhafte, unbefristete und willkürliche Inhaftierung von Kindern, insbesondere Jungen". Damit meinte sie, dass die Söhne radikaler IS-Mütter gegen deren Willen in umzäunte und bewachte Resozialisierungszentren gebracht werden.

Keine Kindeswohlgefährdung?

Eine alternative Lösung konnte die UN-Sonderbeauftragte jedoch nicht vorschlagen. Wäre es denn besser, die Jungen in der Obhut ihrer radikalen Mütter zu lassen, wohl wissend, dass damit der IS 2.0 herangezogen wird? In der deutschen Gesetzgebung gibt es den Paragraphen der Kindeswohlgefährdung. Dies bedeutet, dass Jugendämter auch gegen den Willen der Erziehungsberechtigten die Kinder ihren Eltern entziehen können. Ist es nicht Kindeswohlgefährdung, wenn Kinder zu Killermaschinen erzogen werden?

Sie habe bei ihrem Besuch nur wenige Einblicke in die Lager bekommen, kritisierte die Sonderberichterstatterin. "Wir wissen überhaupt nicht, was in diesen Einrichtungen passiert. Die Aussage, dass hier internationales Recht gebrochen wird, ist wahrscheinlich die größte Untertreibung, die es gibt."

Vermutlich war ihr entgangen, dass es lebensgefährlich ist, bestimmte Areale der Lager zu besuchen, weil die extrem radikalen IS-Frauen und auch ihr Nachwuchs jederzeit eine Delegation angreifen können: "Komplett schwarz verschleierte Frauen huschen wie Schatten zwischen den weißen Zeltplanen umher, Jugendliche schmeißen Steine und machen Kopf-ab-Gesten in Richtung von Besuchern, die sich ihnen aus Sicherheitsgründen nur in gepanzerten Fahrzeugen oder zu Fuß an der Seite schwerbewaffneter Soldaten nähern", berichtete im März dieses Jahres die ARD.

Der Fotograf Caspar Ermert besuchte Anfang 2023 das Al-Hol-Camp und berichtete: "Als ich und meine Kollegin Khabat den Teil der ausländischen IS-Anhänger:innen betraten, beschimpften uns Kinder als "Hunde". Zeitgleich kommen Vertreter:innen der UNHCR aus dem Inneren des Camps zurück, weil sie mit Steinen beworfen wurden und kleine Kinder ihnen drohten…" (Broschüre Ziyaret, S. 35).

Die Selbstverwaltung ist um die Sicherheit ihrer Besucher besorgt und lässt daher Besuche in gefährlichen Arealen nicht zu. In ihrer Verfassung hat sie sich verpflichtet, internationale Konventionen einzuhalten. Es gibt dort auch keine Todesstrafe. Die Vorwürfe werden daher von der Selbstverwaltung (AANES) mit großer Irritation aufgenommen. Man müsse die eigene Bevölkerung vor Terroristen schützen, heißt es.

Außerdem sei in den vergangenen Jahren ja versucht worden, ausländische Verbündete dazu zu bewegen, deren Staatsbürger aus den Gefängnissen in die Heimatländer zurückzuführen, damit ihnen dort ein Prozess gemacht werden könne.Auch bei der Frage, die Strafverfolgung gemeinsam zu organisieren, sei die Selbstverwaltung im Stich gelassen worden.

Es hieß immer, es sei zu kompliziert und zu teuer. Damit entzieht sich die Weltgemeinschaft ihrer Verantwortung, ihre Staatsbürger im eigenen Land einem Gerichtsverfahren zu unterziehen und sich um Resozialisierung ihrer Islamisten zu kümmern.

Auch im ARD-Beitrag wird richtigerweise festgestellt, dass es eine Jahrhundertaufgabe sei, den tausenden "vermeintlichen oder tatsächlichen IS-Terroristen einen fairen Prozess zu machen". Die lokalen Institutionen des "Kurdengebietes", das sich weiterhin in einer Art Dauerkriegszustand mit dem Nachbarn Türkei befinde, könne dies logistisch kaum stemmen.

Bei dem als "Kurdengebiet" bezeichneten Territorium handelt es sich allerdings um ein multiethnisches und multireligiöses Gebiet, in dessen Verwaltung ethnische und religiöse Gruppen prozentual analog zu ihrem Bevölkerungsanteil repräsentiert sind. In den mehrheitlich arabisch bewohnten Regionen ist die Verwaltung also ebenfalls mehrheitlich arabisch, in den mehrheitlich christlich bewohnten Region daher überwiegend christlich.

Keine Würdigung der Gefallenen und Kriegsversehrten

Der Widerstand gegen die Terrormiliz IS kostete die Menschen in Nord- und Ostsyrien mehr als 11.000 Gefallene, etwa doppelt so viele Verletzte beziehungsweise Kriegsversehrte und eine weitgehend zerstörte Infrastruktur. Weltweit hat niemand sonst einen so hohen Preis gezahlt und trägt noch heute eine so hohe Last im Kampf gegen den IS.

Diese Menschen haben auch Westeuropa mit ihrem Kampf vor Ort bisher vor weiteren IS-Anschlägen bewahrt. Im eigenen Interesse sollten wir alles dafür zu tun, dass sich nicht ein IS 2.0 etabliert und die Welt terrorisiert.

Denn der IS ist längst international unterwegs. Die Entwicklungen in Afrika sind bedenklich. Und die Verstrickung der Türkei in Mafia- und IS-Strukturen im Nahen Osten sollten deren Nato-Partner wie auch die EU im Auge behalten. Denn was erhoffen sich wohl deutsche IS-Terroristen wie Martin Lemke alias Al-Amani davon, dass die Türkei, "das Nachbarland am Machen ist"?