Nato und Russland: Blick in den Abgrund

Seite 3: Darum beharrt Russland auf schriftliche Vereinbarungen

Wenn die Nato erklärt, die Aufnahme der Ukraine stehe aktuell nicht an, ist das für Russland nicht befriedigend. Es erinnert daran, wie die Westmächte mit ihren Erklärungen gegenüber der Sowjetunion während der Verhandlungen zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten umgingen, indem sie die abgesprochenen Inhalte nicht in die von beiden Seiten unterschriebenen vertraglichen Regelung aufnahmen.

Damals war Michail Gorbatschow wohl zu gutgläubig, dass Worte seiner Verhandlungspartner gelten. Wäre das Thema damals juristisch sauber geführt worden, dann wäre die aktuelle Kriegsgefahr gar nicht erst entstanden. Implizit ist diese Frage allerdings sehr wohl völkerrechtlich zu bewerten.

Mit ihrer Politik, das auszublenden, hebeln die Nato und die sie unterstützenden Kräfte – auch in der Ampel-Koalition – nicht nur die Vereinbarungen aus, die die Einheit der beiden deutschen Staaten erst möglich gemacht haben. Und sie verkaufen die von ihnen selbst praktizierte Aufkündigung der zum Ende des Kalten Krieges 1990 vereinbarten Sicherheitsarchitektur als deren Aufrechterhaltung.

Der stoische Verweis auf die Verteidigung von "Souveränität", "Freiheit" und "Demokratie" könnte den Kontinent dem Risiko eines Atomkriegs aussetzen. Denn die Spannungen, die sich aus der Verletzung unter anderem der Abmachungen von 1990 ergeben, führen zu Konfliktsituationen, die von beteiligten Akteuren schon selbst als gefährlich nahe an einem dritten großen Krieg in Europa seit 100 Jahren gekennzeichnet werden, wie man auch aus den Zitaten aus der Münchner Sicherheitskonferenz ersehen kann.

Während dieser Konferenz warfen westliche Politiker Russland vor, es plane eine fingierte Situation herbei, um einen Angriff auf die Ukraine zu legitimieren: Nato-Generalsekretär Stoltenberg sprach von "Anzeichen, dass 'Russland sich darauf vorbereitet, einen Vorwand für einen Angriff auf die Ukraine zu schaffen'. Die zunehmenden Waffenstillstandsverstöße in der Ostukraine, die 'falschen Anschuldigungen' eines 'Genozids' im Donbass und die Evakuierung der von den prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete seien 'beunruhigende Zeichen'.

Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell warnte in einer schriftlichen Erklärung vor russischer "Manipulation", durch die ein "Vorwand' für eine militärische Eskalation geschaffen werden könne".

Derartige Szenarien kennen die USA und ihre Partner aus der Arbeit des US-Geheimdienstes CIA sowie seiner Partnerorganisationen wie dem BND aus vielen verdeckten Aktionen in den zurückliegenden Jahrzehnten weltweit.

In der nach dem US-Strategen James Schlesinger bislang gefährlichsten Situation der Geschichte während der Kuba-Krise, während der die Menschheit nur knapp einem nuklearen Inferno entkam, täuschten die Westmächte die Menschheit, indem sie den Konflikt so darstellten, als sei er durch sowjetische Atomraketen auf Kuba ausgelöst worden.

Doch zuvor soll die damalige US-Regierung das "National Security Memorandum 181" entwickelt haben, von dem der US-amerikanische Intellektuelle Noam Chomsky sagt, es sei der Sowjetunion und Kuba bekannt gewesen, als beide Staaten den Beschluss über die Stationierung der Atomraketen auf Kuba fällten.

Dieses US-Regierungsdokument vom September 1962 habe empfohlen, in Kuba eine interne Revolte anzuzetteln, die eine US-Militär-Intervention legitimieren würde (ab Minute 08:30). Chomsky beruft sich auf Aussagen des ehemaligen US-Beamten und späteren Whistleblowers Daniel Ellsberg. Erste Vorbereitungen einer Invasion Kubas seien eingeleitet gewesen, als die sowjetischen Atomraketen auf Kuba ankamen.

Die Kuba-Krise wurde dadurch beendet, dass sich die USA und die Sowjetunion auf einen Deal einigten, bei dem die USA das Gesicht wahren konnten: Die Sowjetunion entfernt ihre Raketen aus Kuba und die USA ihre aus der Türkei, wobei die Weltöffentlichkeit über nichts über den Abzug der US-Raketen aus der Türkei erfuhr.

Fazit

Das schon zitierte Dokument der Nato-Strategieschmiede JAPCC beinhaltet die Aussage, es sei anzuzweifeln, dass es keinen großen Krieg mehr in Europa gebe – die Strategen machen für dieses Szenario Räume nahe der russischen Westgrenze aus (S. 141).

Die vielen Brüche des internationalen Rechts und der Vereinbarungen zwischen westlichen und östlichen Verhandlungspartnern rechtfertigen den aktuellen Rechtsbruch Russlands nicht. Die Friedensbewegung hat wiederholt eingefordert, Frieden auf der Basis des Rechts zu bewahren. Das ist auch jetzt das Gebot der Stunde: Deeskalation und Demilitarisierung sind nun ein umso dringenderes Erfordernis.

Dies gilt vor allem angesichts der Gefahr, dass kriegerische Handlungen in einer Region mit Atomkraftwerken auch ohne den Einsatz nuklearer Arsenale zu einem GAU für die Zivilisation werden können: Circa 200 Kilometer von sogenannten Volksrepubliken der Ostukraine entfernt steht Europas größte Atomanlage.

Die Nato hatte im Mai 2014 die damals illegale Kiewer Regierung Jazenjuk darin beraten, wie mit solchen Anlagen im Kriegsfall umzugehen ist. Die Eskalationsstrategie seither vollzogen die Militärs also sehenden Auges an den Rand des Abgrunds der Zivilisation. Sie zu stoppen ist die Bedingung für die Aussicht auf Zukunft, die es nur im Frieden geben kann.