Nato vs. Russland: Wer hat die Eskalationsdominanz?
Nach den Gedankenspielen eines Sicherheitsexperten und eines Nato-Strategen a.D. bereitet sich "Russland auf regionale Kriege in Europa" vor
Mit dem Kauf des russischen Luftabwehrsystems S-400 rührt die Türkei am Kitt der Nato ( S-400). Das nordatlantische Verteidigungsbündnis lebt wesentlich von einer Bedrohungsvorstellung, bei der Russland eine Hauptrolle zukommt und die von allen geteilt wird.
Von den gemeinsamen "Verteidigungsinteressen" lebt wiederum die damit verbundene Rüstungs- und Sicherheitsindustrie, die seit George W. Bush im Aufwind ist und mit Trump in ein goldenes Zeitalter getreten ist (Privatisierung der amerikanischen Kriege). Erdogans Entscheidung berührt beide substantiellen Bereiche des Nato-Zusammenhalts.
Sein Entschluss, sich russische Waffen zu kaufen, zeigt wie auch andere Kooperationen mit Russland, dass der türkische Präsident nicht dem Drehbuch folgt, Russland als genuine Bedrohung wahrzunehmen und so zu behandeln. Dazu scheint ihm das Geschäftsmodell, das mit dem Kauf der S-400 verbunden ist, offenbar als wirtschaftlich attraktiver als das F-35-Kooperationsprojekt mit den USA.
Wie sehr das an das Selbstverständnis der Nato geht, welche Konsequenzen Erdogans Ausscheren aus der gemeinsamen Front hat, wird sich erst noch herausstellen. Solche Erschütterungen des bisher gültigen Konsens - der Einsatz moderner russischer Waffen durch einen Nato-Mitgliedsstaat wäre eine Premiere, wie gestern häufig zu lesen war - brauchen Zeit, bis die wirkliche Dimension erfasst wird.
Zwei Sicherheitsexperten, einer davon bekleidete bis 2018 einen hohen Posten in der Nato, führen in der heutigen Welt am Sonntag vor, wie das Mindset in der Nato aussieht. Dass "Eskalationsdominanz" hierbei ein Schlüsselwort ist, sagt schon einiges zur "defensiven Ausrichtung" der Allianz, die sich strategisch der Präemption verschrieben hat, wozu Aufrüstung maßgeblich ist, und wo das "Dem Gegner Zuvorkommen" den Thrill der Strategen ausmacht. Die Worte Entspannungspolitik oder Deeskalation sucht man vergeblich im Bericht (online nur über eine Zahlschranke).
"Der Russe wird kommen"
Die Überschrift ist eine Variante des alten Spruches "Der Russe kommt". Sie lautet: "Russland bereitet sich auf regionale Kriege in Europa vor". Die Unterstellung wird in den Zusammenhang mit dem Auslaufen des INF-Vertrags Anfang August gestellt.
Zwar gibt es genügend Material dafür, das die Darstellung in Zweifel zieht, wonach die einseitige Aufkündigung des Vertrags durch Trump eine notwendige Konsequenz war, weil Russland zuvor schon einseitig die vertraglichen Regelungen mit einem Raketenprojekt unterlaufen habe. Ähnliches kann man auch bei der gigantischen Aufrüstung der USA beobachten (Das Theater um den INF-Vertrag). Wie es auch in den folgenden Wochen Einblicke in eine US-Strategie gab, die einen Ersteinsatz von Atomwaffen als durchaus "hilfreich" einstuft. Demnach arbeitet die führende Macht der Nato an Vorwärtsstrategien, die in Russland Reaktionen auslösen. Beide sind in einer neuen Aufrüstungsdynamik (Gefährliches Wettrüsten mit Hyperschallraketen).
Das gegenseitige Aufschaukeln zu thematisieren, liegt nicht im Interesse der beiden Experten, die in der WamS nur von der Bedrohung durch Russland sprechen. Das ist einmal Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, der eine sehr klare Sprache für das findet, was seiner Auffassung nach nicht genügend beachtet wird:
In einer Zeit, in der unsere politische Aufmerksamkeit durch Klimawandel, Migrationskrise, EU-Krise und viele andere Probleme gefesselt ist, die kooperative Lösungen verlangen, bereitet sich Russland unter Putin - völlig unprovoziert(!) - auf regionale Kriege in Europa vor, die es mithilfe von Kernwaffendrohungen siegreich beenden will.
Joachim Krause, Welt am Sonntag, Printausgabe, 14.7.2019
Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß, nach Angaben der Zeitung von Oktober 2013 bis Juli 2018 als beigeordneter Generalsekretär der Nato für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung verantwortlich für die strategische Ausrichtung der Allianz, ist ganz seiner Meinung.
Die russische Führung, politisch wie militärisch, ziele mit ihrem strategischen Konzept darauf ab, "Kriege an der europäischen Peripherie zu führen und erfolgreich zu Ende bringen zu können". Auch der Einsatz von Nuklearwaffen oder die Drohungen damit würden laut russischer Militärdoktrin "Mittel der operativen Kriegsführung darstellen".
"Überraschungsangriff" aus Gründen der Destabilisierung?
Selbstverständlich machen sich die Militärs beider Großmächte über Strategien Gedanken und entwerfen Pläne, die das ganze Waffenarsenal miteinbeziehen, der heikle Punkt ist, wem man mit großer Lautstärke vor Publikum unterstellt, dass er auf Angriff aus ist.
Das ist in den Augen der beiden Sicherheitsexperten ganz eindeutig Moskau, das, so denkt sich Brauß, versuchen könnte, "einen Überraschungsangriff mit begrenztem Ziel zu führen, der durch die nukleare Drohung untermauert würde, bevor die Nato effektiv reagieren kann". Was Russland zu einem solchen, hochriskanten Angriff bewegen könnte, gehört nicht zu den Gedanken Braußens, die der WamS ein paar Zeilen wert gewesen wären. Vielleicht sind sie Brauß auch nicht so wichtig.
Angesprochen wird lediglich, dass das Ziel der Vorstöße, mit den "möglichen Schauplätzen" Ukraine und das Baltikum, die "Destabilisierung von Regierungen und Gesellschaften sowie das Unterminieren der Verteidigungsfähigkeit und des Verteidigungswillens der Nato durch Einschüchterung und Erpressung" sei.
Aber machen da nicht RT und Sputnik und die Trolls schon die Hauptarbeit? Was hätte Russland von einer destabilisierten Ukraine, wenn Moskau schon genug Belastungen durch den destabilisierten Osten des Landes hat? Wozu sollte Russland sich auf dieses militärische Abenteuer einlassen, bei dem es mit einer massiven Gegenwehr zu rechnen hat, ohne das ausgemacht ist, worin der eigentliche Gewinn besteht?
Klar ist einzig, worum es Brauß und Krause geht: die Notwendigkeit von "Gegenmaßnahmen". Zwar ist der tatsächliche Fall gar nicht eingetreten, sondern nur ein "Könnte-so-sein", dennoch ist die Rede von nötigen Gegenmaßnahmen der westlichen Allianz. Brauß erklärt als Schluss aus seinen Gedankenspielen:
Im Wesentlichen geht es darum, die Vorstellung Moskaus zu konterkarieren, Russland besäße unter den genannten Szenarien die Fähigkeit zur militärischen und politischen Eskalationsdominanz.
Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß, Welt am Sonntag, Printausgabe, 14.7.2019
So läuft das Angstschüren von einer künftigen Bedrohung, die völlig außer Acht lässt, für welche faktischen Gefahren Russland in den letzten 30 Jahren in Europa gesorgt hat, darauf hinaus, dass sich die Nato, und Deutschland sowieso, ranhalten muss, um die "Reaktions- und Verstärkungsfähigkeit" zu erhöhen. Medien nehmen solche Stellungnahmen dankbar auf: Der permanente Krieg und die Propaganda.