"Natürlich gibt es militärische Lösungen"

Hannover 1945: Eines von mehreren historischen Stadtmodellen im Neuen Rathaus erinnerte auch am Antikriegstag an die Ergebnisse von Krieg. Bild: Stefan Korinth

Antikriegstag: Historiker wendet sich gegen mögliche deutsch-russische Verabredungen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Bei einer Podiumsdiskussion am 1. September, dem Antikriegstag in Deutschland, hat der Historiker Jan C. Behrends die Idee einer neuen deutschen Ostpolitik gegenüber Russland kategorisch abgelehnt. Der frühere OSZE-Vizepräsident Willy Wimmer sprach sich in Hannover stattdessen für neue Verhandlungsinitiativen mit Russland und Friedensforderungen an die Adresse der USA aus.

Zum Schulanfang am ersten September schwiegen die Waffen in der Ostukraine. Es ist nicht der erste Waffenstillstand. Feuerpausen für das Bürgerkriegsgebiet wurden auch früher schon, etwa im Februar 2015 mit dem "Minsk-II"-Abkommen, vereinbart. Die Verhandlungen kamen damals offiziell auf Initiative Frankreichs und Deutschlands zustande. Auch im September wollen der französische Präsident Hollande und Kanzlerin Angela Merkel sich mit dem ukrainischen und russischen Präsidenten zu Gesprächen treffen.

Wie schon bei "Minsk II" wird dann Polen wohl wieder nicht dabei sein. Das kritisiert der Osteuropahistoriker Jan C. Behrends vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. "Heute gibt es keinen Raum mehr für deutsch-russische Sonderbeziehungen", sagte er bei einer Podiumsdiskussion in Hannover. Interessen und Ängste der zwischen Deutschland und Russland liegenden Staaten wie Polen oder den baltischen Ländern müssten mitbedacht werden, forderte er.

In diesen Staaten fühle man sich bei deutsch-russischen Absprachen schon mal an den Hitler-Stalin-Pakt erinnert, sagte der Forscher. Polen würde auch wirtschaftliche Zusammenarbeit von Berlin und Moskau, wie etwa beim Bau der "North-Stream"-Pipeline durch die Ostsee, nicht gern sehen. In diesem Zusammenhang hatte der Osteuropaforscher in einem Gastbeitrag für die Zeit die deutsche Politik als "Gehilfen russischer Machtansprüche" angegriffen. Die Pipeline habe "Russlands Krieg in der Ukraine" ermöglicht, behauptete der Forscher.

Der Historiker Jan C. Behrends vom Zentrum für Zeithistorische Forschung sprach sich bei der Podiumsdiskussion im Neuen Rathaus gegen bilaterale "Sonderbeziehungen" zwischen Berlin und Moskau aus. Bild: Stefan Korinth

Die Annäherung an Moskau habe schon im Kalten Krieg keinen positiven Wandel hervorgerufen, schrieb Behrends in dem Beitrag weiter. Überhaupt habe die ganze Ostpolitik seinen Worten nach kaum etwas zum Ende der Konfrontation beigetragen.

Moskau bedrohe die Souveränität anderer osteuropäischer Staaten auch heute wieder. Und die Bundesrepublik müsse diesen beistehen. "Wir in Deutschland glauben ja nicht gern, dass es militärische Lösungen für Probleme gibt", so Behrends bei der Podiumsdiskussion. "Aber natürlich gibt es militärische Lösungen. Hitler wurde auch militärisch besiegt."

Tanzende Studenten statt Putsch

Ebenfalls bei der Debatte anwesend war Oleh Mirus, Gesandter der ukrainischen Botschaft in Deutschland. Er vertrat seinen Vorgesetzten, Botschafter Andrij Melnyk, der kurzfristig abgesagt hatte. Mirus sprach von einer fehlenden gemeinsamen Erinnerungskultur in Russland und der Ukraine. Dies sei auch ein Grund für die Kämpfe in der Ostukraine. Russland betrachte die Kämpfer im Donbass als Nachfolger der anti-faschistischen Kämpfer im Zweiten Weltkrieg und die Kiewer Machthaber als "Nachfolger Banderas". Das ist aber alles Propaganda, erklärte Mirus.

Der Maidan sei kein Bandera-Putsch gewesen, sondern eine Demonstration von Studenten für ihre europäische Zukunft. Der damalige Präsident Janukowitsch habe diese auf telefonische Anweisung Wladimir Putins blutig unterdrückt, wusste der Botschaftsrat zu berichten. Doch Linke und Rechte, Juden und Ukrainer hätten unter schweren Opfern "Seite an Seite" gegen Janukowitsch gekämpft. Dieser habe dem nicht "standgehalten" und sei geflohen.

Die gewaltsame Dauerokkupation öffentlichen Raums und öffentlicher Gebäude in Kiew und der Westukraine, teils schwer bewaffnete Maidan-Kämpfer, getötete Polizisten oder die verfassungswidrige Absetzung des gewählten Präsidenten kommen in seiner Erzählung vom Maidan nicht vor (Der Putsch, der keiner sein darf).

Wladimir Putin habe schließlich das Machtvakuum nach dem Maidan genutzt, um die Krim zu annektieren, erklärte der Gesandte weiter. Putin habe die schutzlose Ukraine "missbraucht". Gleichzeitig habe die "russische Propaganda" die Ostukrainer anti-westlich erzogen. Überhaupt herrscht in Russland eine "Psychose des Antiamerikanismus", so der gelernte Geograf und frühere Zeitungskorrespondent Mirus.

SS-Massaker

Anlass der Diskussion in Hannover war neben dem Antikriegstag die Eröffnung einer Fotoausstellung im Neuen Rathaus1 zum Massaker der SS im französischen Ort Oradour-sur-Glane im Juni 1944. 642 Dorfbewohner, darunter mehr als 200 Kinder, hatte die SS damals umgebracht und anschließend das gesamte Dorf angezündet. Die steinernen Reste sind heute ein Mahnmal.

Kein Thema bei der Debatte waren die Parallelen des Massakers zu ganz ähnlichen Vorkommnissen während des Zweiten Weltkrieges in der Ukraine. Neben unzähligen Massenerschießungen von jüdischen Ukrainern und Ukrainerinnen durch die SS gab es im heute westukrainischen Dorf Huta Pieniacka 1944 quasi eine Kopie des Massakers von Oradour-sur-Glane.

Damals ermordete die SS in Huta Pieniacka mehrere hundert Bewohner des Dorfes und brannte die Siedlung anschließend nieder. Der Ort war damals jedoch eine polnische Siedlung und die Täter ukrainische SS-Soldaten von der Freiwilligen-Division "Galizien".2 Vielleicht war dies der Grund, warum der historisch durchaus beflissene Gesandte3 den gleichartigen Vorfall nicht erwähnte. Ein bemerkenswertes Detail: Das Truppenkennzeichen der SS-Division "Das Reich", welche das Massaker in Oradour anrichtete, war die Wolfsangel. Sie ist bis heute ein unter Rechtsradikalen genutztes Symbol, das sich besonders in der Ukraine großer Beliebtheit erfreut: So etwa beim Freikorps "Asow", das im Bürgerkrieg in der Ostukraine aktiv ist.

Auf die Rechtsradikalen in der Ukraine angesprochen, sagte Mirus, diese hätten "viel für die Verteidigung des Vaterlandes geleistet". Trotzdem hätten Pravij Sektor und Swoboda nur wenige Wählerstimmen. Und schließlich: "Was sollen wir tun? Wir haben Meinungsfreiheit in der Ukraine." Die Angriffe dieser Militanten auf das Parlament in Kiew mit drei Toten am Montag machte der Diplomat nicht zum Thema.

Europäische Sicherheit am "seidenen Faden"

Genau diese Radikalen waren es auch, die ein Abkommen der Außenminister Frankreichs, Deutschlands und damals auch noch Polens mit Janukowitsch und der damaligen ukrainischen Opposition am 21. Februar 2014 zerstörten. Darauf wies der langjährige CDU-Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer ebenfalls am ersten September bei einer DGB-Gedenkveranstaltung in der Kriegsruine der hannoverschen Aegidienkirche hin.

Das Abkommen von Kiew, das u.a. Neuwahlen noch im selben Jahr und eine Regierung der nationalen Einheit für die Ukraine vorsah, hätte den Konflikt wohl zeitweise befriedet, wurde aber von bewaffneten Maidan-Radikalen im US-amerikanischen Interesse "zerschossen", sagte Wimmer.

Der langjährige CDU-Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer sprach zum Antikriegstag in der Ruine der hannoverschen Aegidienkirche und forderte ein Ende der US-amerikanischen Angriffskriege. Bild: Stefan Korinth

Ganz im Gegenteil zu Historiker Behrends lobte Wimmer die deutsch-russischen Verhandlungen während des Kalten Krieges. Sie seien letztlich der Weg zur Wiedervereinigung gewesen, so der frühere verteidigungspolitische Sprecher der Union.

Vom erfolgreichen Konzept des Verhandelns habe die deutsche Regierung heute aber Abstand genommen, kritisierte er. Weil es nicht mehr im US-amerikanischen Interesse sei. "Die USA sind heute der Hauptkriegstreiber und müssen endlich wieder das Völkerrecht beachten", betonte Wimmer. Es sei bereits fünf vor zwölf, da habe es keinen Sinn, noch um den heißen Brei zu reden. "Die europäische Sicherheit hängt am seidenen Faden."

Bundespräsident Gauck müsse US-Präsident Obama bei seinem Besuch im Oktober auffordern, endlich mit den Kriegen aufzuhören, die übrigens seit Jugoslawien in den 1990er Jahren immer wieder Flüchtlingswellen nach Deutschland trieben. Wimmer forderte die Zuhörer auf, hierzu an den Bundespräsidenten zu appellieren.