Netflix und das Mainstream-Paradoxon

Bild: Netflix

Der Streaming-Dienst hat in den USA das erste Mal seit 2011 Zuschauer verloren, nachdem man den Drehbüchern seiner Serien stark anmerkte, dass versucht wird, einen möglichst großen Markt anzusprechen

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Der Streaming-Dienst Netflix hat in den USA im Zweiten Quartal 2019 das erste Mal seit 2011 Abonnenten eingebüßt. Sogar sechsstellig, nämlich etwa 130.000. Das schlug sich gestern in einen kräftigen Aktieneinbruch um mehr als elf Prozent nieder (vgl. Netflix: Ein Zahlenwerk zum Fürchten). Im Halbjahr davor hatte die Aktie noch um insgesamt 35 Prozent zugelegt. Dass der Gewinn mit 270 anstatt der 384,3 Millionen Dollar im Vorjahr nicht noch niedriger ausfiel, liegt daran, dass der Dienst weltweit gesehen um 2,83 Millionen Abonnenten zulegen konnte - aber auch das waren deutlich weniger als die 4,81 Millionen, die man erwartet hatte.

Dem Netflix-CEO Reed Hastings zufolge liegt der Abonnentenrückgang in den USA nicht an vermehrtem Wettbewerb, weil sich hier seinen Beobachtungen nach nichts Wesentliches geändert hat. Die Preiserhöhung geschah in den USA bereits im Januar und wirkte sich im ersten Quartal nicht entsprechend aus. Daran, dass die Amerikaner weniger Geld hätten, kann es auch schlecht liegen. Die Wirtschaft dort boomt mit 3,2 Prozent Wachstum, die Arbeitslosenrate ist mit 3,6 Prozent so niedrig wie seit 50 Jahren nicht mehr, und die Steuerlast ist für die meisten Amerikaner gesunken (vgl. USA: Kongresskammern einigen sich auf Steuerreform).

In letzter Zeit nichts, was Chernobyl qualitativ nahe gekommen wäre

Anhaltspunkte dafür, dass das Interesse an Serien allgemein gesunken sein könnte, gibt es auch nicht. HBO-Produktionen wie Chernobyl finden weiterhin ein großes Publikum. Eine mögliche Ursache für den Abonnentenrückgang könnte sein, dass es auf Netflix in letzter Zeit nichts gab, was Chernobyl qualitativ nahe gekommen wäre (vgl. Serien vor der Serienblüte). Stattdessen wirkten die Drehbücher der Netflix-Eigenproduktionen häufig so, als ob man versucht hätte, nicht mehr einer künstlerischen Leitlinie zu folgen, sondern stattdessen etwas zu liefern, von dem geglaubt wird, dass es eine möglichst große Masse an Zuschauern anspricht.

Dieses in Hollywood sehr (und im deutschen Fernsehen noch sehr viel stärker) verbreitete Phänomen fehlte in vielen Netflix-Produktionen anfangs ebenso wie in Mad Men oder bei den Sopranos. Da schien sich noch keine Firmenkultur des Hereinredens etabliert zu haben - und man ließ Autoren, Regisseure und Designer ihre Ideen verwirklichen. Das, was dabei herauskam, war häufig so faszinierend, dass Zuschauer bereit waren, Geld dafür zu zahlen. Dieses Geld steckte man dann nicht nur in neue Ideen, sondern in eine Bürokratie, die dafür sorgen soll, dass noch mehr Geld verdient wird.

Regeln, die die Kreativität einschränken

Das machen solche Bürokratien häufig dadurch, dass sie Regeln vorgeben. Drehbuchautoren müssen dann bestimmte Inhalte vermeiden. Oder sie müssen andere hineinnehmen, weil man diese anderen Inhalte für zeitgeistig und deshalb für ökonomisch vielversprechend hält (vgl. Pseudo-wissenschaftliches Gibberish und der Zeitgeist). Das schränkt die Kreativität ein und sorgt potenziell dafür, dass Werke weniger interessant werden. Ganz große Meister schaffen es zwar, die sehr phantasievolle Umgehung solcher Regeln zu einem besonderen ästhetischen Genuss zu machen - aber sie sind die Ausnahmen und nicht die Regel (vgl. Kino als Sabotage und Jungfrau in Not).

Besonders deutlich zeigt sich so ein wahrscheinliches Hineinpfuschen in der fünften Staffel der ursprünglich exzellenten Science-Fiction-Serie Black Mirror, in der man sich nicht scheute, Miley Cyrus unterzubringen, die Britney Spears der Zehnerjahre (vgl. Ungepflegte Langeweile). Auch die dritten Staffel der Serie Stranger Things (vgl. Wohlfühl-Trigger-Warnung statt Spoiler-Warnung) enttäuschte viele Fans der ersten beiden, obwohl sie wegen ihres Starts am 4. Juli keinen Einfluss mehr auf den Quartalsbericht nehmen konnte.

Ob Netflix-Chef Hastings daran etwas ändern oder die Eingriffe sogar noch verstärken wird, ist offen. Bislang meinte er lediglich, Netflix werde noch mehr eigene Serien produzieren und dafür lizenzierte wie Friends oder The Office nicht mehr anbieten. Letzteres macht er wahrscheinlich nicht ganz freiwillig, weil die Medienkonzerne Disney, Warner und NBCUniversal solche Serien künftig in eigenen Streaming-Angeboten vermarkten möchten.

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