Neue Drohkulisse: Plant Nordkoreas Kim einen Überraschungsangriff auf den Süden?

Seite 2: Siehe Hamas, siehe Putin: Vor Wunschdenken in Acht nehmen

Kim könnte auch die Wahlen in Südkorea im Auge haben, wo die für ein Engagement eintretende Oppositionspartei hofft, ihre parlamentarische Mehrheit bei den Wahlen im April ausbauen zu können, sowie die Wahlen in den Vereinigten Staaten, wo Donald Trump in den Umfragen mit Joe Biden gleichauf bzw. besser dasteht.

Trump rühmt sich seit Langem mit den 27 sogenannten "Liebesbriefen", diplomatische Noten, die er mit dem nordkoreanischen Führer ausgetauscht hat. Vielleicht, so die Strategie von Kim, könnte diese Liebe weitergehen, wenn Trump wiedergewählt wird.

Wir sollten uns vor Wunschdenken in Acht nehmen. Die meisten Analysten haben die kriegerische Rhetorik und die militärischen Vorbereitungen Wladimir Putins Ende 2021 als bloßes Bemühen um westliche Aufmerksamkeit und eine bessere Verhandlungsposition am Verhandlungstisch missverstanden.

Herkömmliche Vorstellungen über die Abschreckung durch überlegene Kräfte – Israel, die Nato, Südkorea – gelten in einer Welt mit zunehmend unbeständigen Akteuren und zunehmend verletzten Grenzen möglicherweise nicht mehr.

Engere Beziehung Kims zu Putin

Kims engere Beziehung zu Putin könnte sich in Nordkoreas Kalkül als ausschlaggebend erweisen. Beijing (Peking) versucht traditionell, Pjöngjang zu zügeln, da ein übermäßig provokanter Nachbar nicht nur der chinesischen Wirtschaft schadet, sondern auch die militärische Präsenz der USA in der Region stärkt.

Moskau hingegen könnte angesichts der konfrontativeren Haltung Putins gegenüber dem Westen andere Botschaften aussenden. So wie sich der Krieg im Gazastreifen für den Kreml als Segen erwiesen hat, da er die Aufmerksamkeit und die militärische Ausrüstung vom europäischen Einsatzgebiet ablenkte, würde ein Konflikt auf der koreanischen Halbinsel die Ressourcen der USA und Europas noch stärker beanspruchen.

In den späten 1940er-Jahren war Stalin skeptisch, was die Vorteile eines Angriffs Nordkoreas auf Südkorea betraf. Der Großvater von Kim Jong-un, Kim Il-sung, überzeugte Stalin schließlich vom Gegenteil und gewann die sowjetische Unterstützung für den Angriff auf den Süden, der am 25. Juni 1950 stattfand.

Wladimir Putin hat inzwischen angedeutet, dass er Nordkorea "frühzeitig" besuchen wird, es wäre seine erste Reise dorthin seit 2000. Experten und politische Entscheidungsträger sollten das zur Kenntnis nehmen: Putins Besuch könnte das Gleichgewicht in Nordkoreas Überlegungen zu Krieg und Frieden in die eine oder andere Richtung lenken.

In der Zwischenzeit ist es für die Vereinigten Staaten und Südkorea noch nicht zu spät, Kim Jong-un einen Ausweg aus dem Konflikt zu bieten, den er noch nicht gestartet hat.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

John Feffer ist Direktor von Foreign Policy In Focus am Institute for Policy Studies in Washington D.C. Er schreibt regelmäßig für TomDispatch. Feffer ist Autor des Buchs "Right Across the World: The Global Networking of the Far-Right and the Left Response".