Neue Frühjahrsprognosen oder: Der Aufschwung als Osterzopf

Die Vorhersagen der wirtschaftlichen Entwicklung gleichen immer mehr dem Blick in eine Glaskugel

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"Gemeinschaftsdiagnose" nennt sich das vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebene Opus Magnum, in dem die Deutschen zweimal jährlich nachlesen dürfen, wie die ökonomische Zukunft aussehen könnte. Schon der Begriff suggeriert: Wer von den hier veröffentlichen Einschätzungen abweicht, gehört irgendwie nicht dazu.

Deutschland im Aufschwung

Doch de facto spricht in der Diagnose nicht die Gemeinschaft, und sie spricht auch nicht für die Gemeinschaft. Sehr wohl aber für das ifo Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München, das Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, das Institut für Wirtschaftsforschung Halle und das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung, die ihrerseits mit weiteren nationalen und internationalen Einrichtungen kooperieren. Der geballte ökonomische Sachverstand sieht Deutschland im Frühjahr 2011 mitten in einem "kräftigen Aufschwung". Und es wird noch besser - oder bleibt wenigstens auf ansprechendem Niveau:

Die Institute erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 2,8 % und im kommenden um 2,0 % zunimmt. Für die Jahre 2011 und 2012 wird eine Arbeitslosenquote von 6,9 % bzw. 6,5 % erwartet. Die Auftriebskräfte werden sich allmählich zur Binnennachfrage verschieben. Die Löhne werden im Zuge des Aufschwungs steigen (…).

ifo Institut bei der Vorstellung der Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2011

Eine Diagnose im eigentlichen Sinne wird hier also nicht präsentiert. Es geht vielmehr um die Vorhersage der näheren Zukunft und allerlei Heils-, sprich: Gewinnversprechen, solange sich die staatlichen Organe, Tarifpartner, Arbeitnehmer und Arbeitgeber an bestimmte Spielregeln halten. Etwa an die Priorität des Außenhandels, der allein die Stabilität der deutschen Wirtschaft garantiert. Oder an den arbeitgeberfreundlichen Grundsatz, dass Lohnerhöhungen allenfalls in bescheidenem Umfang und mit viel Augenmaß erfolgen dürfen. Das neoliberale Mantra "Jeder Arbeitsplatz ist ein guter Arbeitsplatz" darf dabei natürlich auch nicht fehlen.

In der ersten Jahreshälfte 2010 will die "Gemeinschaftsdiagnose" auf dem deutschen Arbeitsmarkt einen "regelrechten Boom" beobachtet haben.

Im Jahresverlauf stieg die Erwerbstätigkeit um knapp 420.000, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sogar um 550.000 Personen. Bemerkenswert ist, dass etwa 60 % des Beschäftigungsaufbaus in Form von Vollzeitstellen stattfand.

Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2011

Die Gewerkschaft ver.di findet es sehr viel bemerkenswerter, "dass der Beschäftigungsabbau fast zur Hälfte bei der Leiharbeit stattfand, und dass gut ein Drittel Teilzeitstellen sind".

Ein neues Konsortium

Aber verd.i gehört schließlich auch nicht zu den Gemeinschaftsdiagnostikern. Eher schon in den Kreis des neu gegründeten "Makro-Konsortiums", zu dem sich das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, das Observatoire Français des Conjonctures Économiques und das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung zusammengeschlossen haben.

Deren erste Konjunkturprognose unterscheidet sich wesentlich von den Vorhersagen der neoklassischen Institute, auch wenn viele Zahlen nahe beieinanderliegen. Das Makro-Konsortium fokussiert sich sehr viel stärker auf die Bedrohung des Aufschwungs, die Qualität der neu geschaffenen Beschäftigungsverhältnisse und selbstredend auf die Binnennachfrage, die in Wirtschaftskreisen traditionell als quantité négligeable behandelt wird.

Der Grund liegt auf der Hand, denn eine Belebung des privaten Konsums würde eine deutliche Lohnsteigerung voraussetzen. Für 2011 gehen beide Untersuchungen von einer Erhöhung der Tariflöhne um rund 2 Prozentpunkte aus. Da die Verbraucherpreise ebenfalls um 2 (Konsortium) oder sogar um 2,4 (Gemeinschaftsdiagnose) Prozent steigen sollen, bliebe für die Konsumenten am Ende nur ein Nullsummenspiel.

Auch zum Thema Staatsverschuldung in Deutschland vertritt das Makro-Konsortium abweichende Ansichten:

Selbst wenn die Bundesregierung deutlich von einer vollständigen Umsetzung des Zukunftspakets absähe, könnten die Vorgaben der Schuldenbremse bis zum Ende der Legislaturperiode trotzdem eingehalten werden.

Makro-Institut: Der Euroraum im Umbruch

Mögliche Spielräume sollten nach Ansicht der Wissenschaftler allerdings nicht für Ausgabensteigerungen oder gar für Steuersenkungen verwendet werden. Stattdessen plädiert das Makro-Institut für die Einrichtung eines "Kontrollkontos", das "als Puffer für konjunkturell schwächere Phasen" genutzt werden könnte.

Die Gegenseite beurteilt die Frage der Steuersenkungen übrigens ähnlich, womit das große Wahlkampfthema der FPD wohl endgültig auf dem Abstellgleis gelandet sein dürfte. Aber die neue Parteiführung will es ja wohl auch nicht mehr haben.

Von umfangreichen Steuersenkungen ist gegenwärtig abzuraten, sofern ihnen keine entsprechenden Ausgabenkürzungen gegenüberstehen. Dem Gewinn an Effizienz stünde nämlich eine geringere Robustheit gegenüber, wenn Steuersenkungen dazu führen sollten, dass die Schuldenquote nicht konsequent wieder zurückgeführt wird.

Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2011

Alternativszenarien

Der Entwurf des Konsortiums transportiert die ideologische Grundeinstellung der Autoren ebenso zielsicher wie sein Pendant und wirkt doch ein Stück problembewusster. Dieser Befund mag auch mit dem Umstand zusammenhängen, dass die ökonomischen Propheten aus Düsseldorf, Paris und Wien aus den Unwägbarkeiten ihres waghalsigen Vorhabens keinen Hehl machen.

Die Untersuchung enthält gleich fünf "Alternativszenarien", die unschwer als potenzielle Fehlerquellen der Kernprognose auszumachen sind. In Variante 1 liegt der Erdölpreis zwischen 2011 und 2015 um 50 US-Dollar je Barrel höher als im Basisszenario. Variante 2 senkt im Euroraum die Staatsausgaben für Konsum und Investitionen um 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Nr.3 erhöht die Steuern um 1 Prozent des BIP. Im vierten Fall hält die Europäische Zentralbank den Leitzins bis 2015 bei 1,5 %. Gleichzeitig wird der Anleihezins bei 3 % stabilisiert, indem man Eurobonds zu einem Festzins emittiert. Schließlich entwirft das Makro-Konsortium die Vision eines "Reallohnanstiegs in Deutschland", wodurch die Lohnsumme bis 2015 immerhin 2 Prozent höher liegen würde als im Basisszenario.

Unter dieser Bedingung würden die Binnennachfrage in Deutschland stark stimuliert und die Exportnachfrage gedämpft werden. Der private Konsum und die Importe würden viel stärker expandieren als in der Basislösung, die Exporte deutlich schwächer. Insgesamt wäre die Gesamtnachfrage (BIP) bis 2015 um kumulativ 1,1 %-Punkte höher. Als Folge verlagert sich die Produktion vom Sachgüterbereich, in dem die Arbeitsproduktivität am höchsten ist, zu den Dienstleistungen, wo die Arbeitsproduktivität wesentlich geringer ist. Bei etwas höherer Gesamtproduktion nimmt daher die Beschäftigung merklich stärker zu als in der Basislösung; die Arbeitslosenquote fällt daher viel geringer aus. Unter diesen Bedingungen würde sich auch die Lage der Staatsfinanzen zusätzlich verbessern.

Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2011

Ein Blick auf die Ergebnisse (Seite 23) zeigt astronomische Unterschiede zwischen den fünf Varianten, die bis in den hohen zweistelligen Prozentbereich gehen. Völlig unrealistisch erscheint zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nur das letzte Szenario.

Prognosefehler

Das Makro-Konsortium hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber der Gemeinschaftsdiagnose. Da sich die drei Institute zum ersten Mal an einer Prognose versuchen, kann ihnen niemand Fehler in den vorangegangenen vorhalten. Das wird sich aller Voraussicht nach noch ändern.

Die Kollegen mussten schon diesmal einen Prognosefehler von stolzen 2,1 Prozent im Frühjahrsgutachten 2010 einräumen. Seinerzeit prophezeiten die Institute einen Zuwachs des realen Bruttoinlandsprodukts um 1,5 Prozent. Tatsächlich waren es 3,6 Prozent. Wie es dazu kommen konnte, muss natürlich erklärt werden, aber zu diesem Zweck reichen den Ökonomen 23 Zeilen in ihrem 70-seitigen Gutachten: Das Wetter war schuld. Jedenfalls zu einem nicht geringen Teil.

Tatsächlich aber sind Fehler die Regel und Treffer die Ausnahme. Es gab bei vergleichbaren Unternehmungen dieser und anderer Institute schon oft verspäteten Korrekturbedarf (Fehlinvestition Konjunkturprognose?). Kein Wunder eigentlich, da nationale und internationale Entwicklungen immer stärker voneinander abhängen und aufeinander reagieren, so dass globale Faktoren, die nur bedingt vorhersehbar sind, oft den Ausschlag in die eine oder andere Richtung geben.

Warum also ist Klaus Zimmermann, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, der schon 2008 eine Prognose-Pause forderte, mit seinem Vorschlag nicht längst auf offene Ohren gestoßen?

Reden in Überschriften oder: Brüderles Osterzopf

Weil die Erstellung von Prognosen für die Institute, die von der Politik beauftragt werden, ein Millionengeschäft ist, und die Politik selbst so gern mit Prognosen hausieren geht. Vorausgesetzt, die Inhalte passen ins ideologische Konzept. Wer ganz sicher gehen will, bezahlt die Prognose und freut sich dann über völlig überraschende Ergebnisse. So wie Rainer Brüderle, Deutschlands tapfer ausharrender Bundesminister für Wirtschaft und Technologie. Der FDP-Mann kommentierte die von seinem eigenen Ministerium per "Dienstleistungsauftrag" finanzierte Gemeinschaftsdiagnose wie folgt:

Die klare Botschaft der Frühjahrsdiagnose lautet: der dynamische Wirtschaftsaufschwung geht weiter! Die Wachstumslücke, die die Krise gerissen hat, wird nach der Prognose der Institute bereits in diesem Jahr geschlossen. Deutschland hat die Sieben-Meilen-Stiefel angezogen. Vor allem ist der Aufschwung mittlerweile im Inland fest verankert. Am Arbeitsmarkt werden im laufenden und im kommenden Jahr neue Beschäftigungsrekorde aufgestellt. Die Arbeitslosigkeit fällt bereits im Jahresdurchschnitt 2011 weit unter die Drei-Millionen-Marke.

Rainer Brüderle

Atemlos eilt Brüderle von Erfolgsmeldung zu Erfolgsmeldung, und um rein gar nichts dem Zufall zu überlassen, gibt es ja noch die hauseigene Frühjahrsprojektion der schwarz-gelben Bundesregierung, die sich durchaus auch einmal für die Binnennachfrage begeistert.

Doch wer sich die Rede des Bundesministers bei der Pressekonferenz zur Vorstellung Projektion noch einmal im Schriftbild zu Gemüte führt, mag nicht glauben, dass es Brüderle auf ökonomische Feinheiten abgesehen hat.

Die Vorhersage dient ihm nur als Ausgangspunkt für einen seltsamen Beschwörungsritus, dessen Einzelteile auf jedem Wahlplakat Verwendung finden könnten. Zumal sie so kurz sind. Hier eine kleine Auswahl - nicht in chronologischer Reihenfolge:

  • Frühlingszeit ist Aufschwungszeit.
  • Der Aufschwung ist gefestigt.
  • Schwarz-gelbe Wirtschaftspolitik ist erfolgreich.
  • Die Aussichten für 2012 bleiben gut.
  • Der Arbeitsmarkt ist weiter auf Rekordjagd.
  • Vollbeschäftigung steht nicht mehr nur in den Geschichtsbüchern.
  • Die Aufwärtsspirale ist voll im Gang.
  • Wir sind in einer Aufwärtsspirale.
  • Leistung lohnt sich wieder.
  • Die Menschen haben wieder mehr Geld in der Tasche.
  • Der Aufschwung kommt an.
  • Wenn es besser läuft, korrigieren wir gern nach oben.
  • Deutschland hat eine starke Substanz.
  • Deutschland hat Kraft und Ausdauer.
  • Wir sind ein Stabilitätsanker.
  • Es wird weiter produziert.
  • Es wird weiter investiert.
  • Es wird weiter eingestellt.

Erstaunlich, dass Brüderle überhaupt noch die Muße für einen selten poetischen Gedanken hatte:

Ein Bild passt sehr gut: Der Aufschwung ist wie ein guter Osterzopf. Je länger er geht, desto breiter wird er.

Rainer Brüderle