Neue NATO-Strategie: Blaupause für einen Kalten Weltkrieg
Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen über die Gefahren eines reformierten Nordatlantikpakts, unfreiwillig schlüssige Metaphern von Außenminister Maas - und warum Deutschland aus dem Bündnis austreten sollte
Die NATO erhebt weiter den Anspruch nach globaler Kriegsführungsfähigkeit und verpasst sich dafür ein neues strategisches Konzept. (NATO-Markenkern Großmachtkonkurrenz) Nach der "Hirntod"-Diagnose von Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron vor einem Jahr hat eine Expertengruppe unter Leitung des früheren deutschen Verteidigungs- und Innenministers Thomas de Maizière (CDU) sowie des früheren US-Diplomaten Wess Mitchell in den vergangenen Monaten Handlungsempfehlungen erarbeitet, mit denen das westliche Kriegsbündnis fit gemacht werden soll.
138 Vorschläge listet ein jetzt veröffentlichtes Papier mit dem Titel "NATO 2030: United for a New Era" (NATO 2030: Einig in eine neue Ära) auf. Neu ist vor allem, dass neben Russland zum ersten Mal China als Hauptfeind ins Visier genommen wird.
Während NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg von einem "Update" für den Militärpakt spricht, schwärmt Bundesaußenminister Heiko Maas von einer "Frischzellenkur", offensichtlich im Unwissen, dass in der Medizin eine solche Heilpraktiker-Therapie als unwirksam und gefährlich gilt – und verboten werden soll.
Tot ist die NATO noch lange nicht. Frei nach Frank Zappa ("Jazz is not dead, it just smells funny") kann man sagen, "sie riecht nur komisch". Wie ein Untoter ist der Militärpakt auf der steten Suche nach einer fortdauernden Existenzbegründung und nach einer Ausweitung seiner Zuständigkeiten.
Jetzt China und den Indo-Pazifik als Einsatzgebiet ins Auge zu nehmen, hat nicht mehr viel mit der offiziellen Gründung 1949 als nordatlantisches Bündnisverteidigungssystem zu tun, es sei denn, man ist bar minimaler geographischer Kenntnisse, was sicherlich niemand unterstellen möchte. Hier zeigt sich nunmehr offen das Konzept einer NATO als globales Kriegsführungsbündnis zur Durchsetzung der kapitalistischen Interessen von US-Konzernen.
Im Gegensatz zum Warschauer Vertrag hat sich die NATO in den 1990er Jahren nicht aufgelöst, sondern kontinuierlich nach Osten ausgedehnt auf mittlerweile 30 Mitglieder. Mit dem Krieg gegen Jugoslawien 1999 ist sie offen dazu übergegangen, das Völkerrecht zu brechen. Seit bald 20 Jahren befindet sie sich im US-geführten "Krieg gegen den Terror".
Wenn man beim Wording von Heiko Maas bleiben will, ist der grenzenlose Feldzug tatsächlich eine "Frischzellenkur" für islamistische Terrorgruppen, er hat ihre Ausbreitung global befördert und islamistischen Mörderbanden steten Zulauf beschert. Der Krieg gegen die Taliban in Afghanistan ist für die NATO-Staaten lange schon verloren. In Syrien setzt das NATO-Mitglied Türkei auf die Bewaffnung und Unterstützung islamistischer Terrormilizen, darunter die Al-Qaida, für den Regime-Change.
Nato hofft auf Biden und nimmt China ins Visier
Mit der "NATO 2030" soll die NATO neu begründet werden und dabei ein Stück weit wieder die alte werden. Alle Hoffnung der NATO-Transatlantiker liegt dabei beim neu gewählten US-Präsidenten Joe Biden. Nach seiner Vereidigung am 20. Januar 2021 soll Washingtons Oberkommandierender zum Gipfel nach Brüssel eingeladen werden. Die von US-Präsident Donald Trump vertieften Risse in den transatlantischen Beziehungen sollen rasch gekittet werden.
Es gilt, die NATO ganz im Sinne Washingtons auszurichten auf die weitere "Konfrontation gegen Russland und die systemische Rivalität mit China". Und Biden hat bereits angekündigt bezüglich China die Aggressionspolitik Donald Trumps fortsetzen zu wollen.
Russland sei eine "ernste Gefahr" für die gesamte NATO, heißt es im Report, China sei dabei, eine "durchsetzungsstarke Weltmacht" zu werden. Zwar stelle die Volksrepublik "keine unmittelbare militärische Bedrohung für den euro-atlantischen Raum in der Größenordnung Russlands" dar, doch weite sie ihre "militärische Reichweite auf den Atlantik, das Mittelmeer und die Arktis aus, vertieft die Verteidigungsbeziehungen zu Russland und entwickelt
Langstreckenraketen und -flugzeuge, Flugzeugträger und Atom-U-Boote mit globaler Reichweite, umfangreichen weltraumgestützten Fähigkeiten und einem größeren Atomwaffenarsenal". Die Allianz müsse sich auf die "neuen Bedrohungen" einstellen.
Die Realität sieht freilich so aus: Das NATO-Mitglied USA allein verfügt über 5800 nukleare Sprengköpfe, China über 320. Die Volksrepublik liegt damit in etwa auf dem Niveau der NATO-Mitglieder Frankreich (290) und Großbritannien (215). Die USA haben ein globales Netz von 1000 Militärstützpunkten, China mit Djibouti einen einzigen außerhalb des eigenen Landes.
Dass die NATO kein politischer Debattierclub ist, sondern ein militärischer Pakt mit Anspruch auf globale Interventionsfähigkeit kommt in den formulierten Anforderungen deutlich zum Ausdruck. Gefordert sind für die "NATO 2030" die "Stärkung der Abschreckung und der Verteidigung, einschließlich der nuklearen Abschreckung im Rahmen der allgemeinen Haltung des Bündnisses, die Projektion von Stabilität sowie der Widerstandsfähigkeit in allen Bereichen".
Konkret heißt das, weitere Milliarden für noch mehr Aufrüstung und ein Festhalten am Besitz von Atomwaffen sowie der nuklearen Teilhabe in der NATO. Die Notwendigkeit "nuklearer Abschreckung" solle gegenüber der Bevölkerung stärker kommuniziert werden, heißt es ganz offensichtlich in Reaktion auf die lauter werdenden Forderungen nach Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland.
Lange schon ist die NATO dabei, sich zu entgrenzen. Systematisch betreibt der Militärpakt durch die Aufnahme immer neuer Mitglieder die Einkreisung Russlands. Die "Partnerschaften" mit der Ukraine und Georgien sollen erweitert und gestärkt werden.
Strategische Autonomie der Europäer wird hintenangestellt
Unverhohlen schweift der NATO-Blick vom Nordatlantik in die weite Ferne des Indopazifikraums, wo China Grenzen gesetzt werden sollen. Dazu sollen die "indo-pazifischen Partner" … Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea – eingebunden werden. Auch andere Staaten in der Region sollen einbezogen werden, namentlich genannt wird Chinas regionaler Widersacher Indien:
Die NATO sollte interne Gespräche über eine mögliche künftige Partnerschaft mit Indien als der größten Demokratie der Welt und als einem Land, das grundlegende Interessen und Werte mit dem Bündnis teilt, aufnehmen, wobei die Bereitschaft Indiens zur Aufnahme eines solchen Dialogs vorausgesetzt wird. Es sollte eine ähnliche interne Diskussion über die künftigen Beziehungen der NATO zu den Staaten Zentralasiens einleiten, von denen einige bereits NATO-Partner sind.
Aus dem Nato-Strategiepapier
"Parallel" zur militärischen Frontstellung "sollte die NATO offen für die Möglichkeit eines konstruktiven Dialogs mit China sein, wenn es ihren Interessen dient". Das neue NATO-Konzept ist das Konzept eines Kalten Weltkriegs gegen Russland und China. Das Risiko einer militärischen Konfrontation wird erhöht, eine steigende Kriegsgefahr einkalkuliert.
Wenn die NATO "einig in eine neue Ära" zieht, dann ganz klar unter US-amerikanischer Führung. Das 67 Seiten umfassende "Reformpapier" zielt auf die weitere Stärkung der US-Dominanz ab und ordnet dieser die Vorschläge nach einer strategischen Autonomie der Europäer unter. Nicht anders sind die Überlegungen zu sehen, das Einstimmigkeitsprinzip in der NATO aufzuheben. Letztlich bedeutet das ja nichts anderes, als dass die großen Mitgliedsstaaten der NATO (und der EU) sich noch weniger um die Meinung der kleineren scheren müssen. NATO-Kriegseinsätze würden damit wesentlich erleichtert.
Vorschläge, die Militärbudgets zu kürzen, sucht man in den "Reformvorschlägen" vergeblich. Während die globalen Folgen und die nationalen Kosten der Corona-Pandemie noch lange nicht absehbar sind, halten die NATO-Apologeten unverdrossen am Aufrüstungsprogramm fest.
US-Administration, Bundesregierung und NATO zeigen dabei vornehmlich nach China. Tatsächlich hat die Volksrepublik ihre Militärausgaben im vergangenen Jahr dem schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI zufolge auf umgerechnet 266 Milliarden US-Dollar gesteigert. Das entspricht 190 US-Dollar pro Kopf der Bevölkerung. Dem steht allerdings die Hochrüstungspolitik der NATO-Staaten entgegen. Die USA hatten 2019 mit 732 Milliarden US-Dollar die höchsten Militärausgaben der Welt – das entspricht mehr als 2.200 US-Dollar pro Kopf der US-Bevölkerung.
Die NATO-Mitgliedsstaaten zusammen haben im vergangenen Jahr mehr als eine Billion US-Dollar für Rüstung und Militär ausgegeben. Das ist vier Mal so viel wie China. Dazu kommt, dass Deutschland in wenigen Jahren noch vor Russland die ausgabenstärkste Militärmacht in Europa werden wird. Während Deutschland es mit Russland aufnehmen soll, orientieren sich die USA auf China. Die Klammer dieser brandgefährlichen Konfrontationspolitik ist die NATO. Hier sollen auch die Interessen der Mitglieder abgeglichen und gegen Moskau sowie Peking gerichtet werden.
Forderung nach NATO-Austritt als "DNA linker Friedenspolitik"
DIE LINKE lehnt eine Erweiterung und Aufrüstung der NATO ab. Wenn die Corona-Krise eines lehrt, dann doch, dass es "einig in eine neue Ära" nur über globale Verständigung und Kooperation gehen kann. Die NATO als Relikt des Kalten Krieges hat sich überlebt. Sie gehört endlich abgeschafft, nicht weiter aufgehübscht und ausgeweitet zur globalen Durchsetzung imperialistischer Interessen.
Der Austritt Deutschlands aus den militärischen Strukturen der , wie ihn DIE LINKE fordert, ist zwingend, will man den Abzug der US-Atomwaffen durchsetzen und eine weitere Beteiligung an den NATO-Kriegen um Rohstoffe, Märkte und geopolitischen Einfluss für die Zukunft ausschließen. In einer Zeit der Aufrüstung der NATO und ihrer Ausrichtung auf einen Kalten Weltkrieg gegen Russland und China, gehören die Forderungen nach einer Auflösung des Militärpakts und dem Austritt aus den militärischen Strukturen zur DNA linker Friedenspolitik.
Wer im Hinblick auf mögliche Regierungsbeteiligungen linke Kernpositionen zur NATO in Frage stellt, beteiligt sich in fataler Weise daran, dem Kriegsführungsbündnis neue Legitimation zuzuführen.
In Deutschland zeichnet sich eine schwarz-grüne Koalition bereits jetzt ab. Grüne Spitzenpolitikerinnen stellen ihre Bereitschaft zu einer Beteiligung an Krieg und Aufrüstung offen zur Schau, um so ihre bedingungslose Regierungsbereitschaft zu demonstrieren.
Das Signal ist deutlich: An uns wird ein NATO-Krieg nicht scheitern – im Gegenteil. Angesichts dieses neuen Militarisierungsschubs durch die Grünen muss DIE LINKE im Hinblick auf die NATO sagen was ist. An der Seite der Friedensbewegung ist es die Aufgabe der Zeit für DIE LINKE, sich dem globalen Kriegsführungsbündnis NATO entgegenzustellen.
Sevim Dagdelen ist abrüstungspolitische Sprecherin und Obfrau der Fraktion DIE LINKE im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages.