No Mercy, please

Gladiatorenprinzip und europäische Sensibilität auf dem Weg zum Gipfel, ohne Augenlicht: "Blindsight"

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Die Ersteigung eines 7045ers ist ein Unterfangen, ein Abenteuer und ein Wagnis. Selbst wenn es sich um eine vergleichsweise sanfte Nebenerhebung, dem Lhakpa Ri direkt neben dem zerklüfteteren Mount Everest handelt. Was aber treibt in aller Welt die blinde Leiterin einer tibetischen Blindenschule, die 37jährige Deutsche Sabriye Tenberken mit ihren jugendlichen Zöglingen unter Leitung des gleichfalls blinden US-Leistungssportlers Erik Weihenmayer und seines „sehenden“ Teams dazu an, einen Gipfel mit jungen Menschen zwischen 15 und 19 Jahren ohne die Gabe des Sehens, fast nur aus innerer Kraft und einer Mischung aus Spürnase und Tastgefühl, zu besteigen?

Foto: TAO Cinemathek

Paradox: Sichtbares und Unsichtbares

Lucy Walkers Film „Blindsight“ (Großbritannien 2006), der zur Zeit in den Programmkinos läuft, ist ein sympathisch frischer und offener Film, auch über das Paradoxon von Sichtbarem und Unsichtbarem, Kino, das ohne Verkrampfung, ohne falsche dokumentarische Betulichkeit und vorgebliche soziale Betroffenheit ein Thema eine Zeit lang verfolgt und dann einen Themenwechsel durchführt, aber ohne die üblichen Natur- und Actionklischees von Berg- und Beziehungsdramen auskommt.

Dies ist sicherlich auch dem Kamerateam von Michael Brown und dem Schnitt von Sebastian Duthy zu verdanken. Dabei hätten die Fakten und die Geographie durchaus das Gegenteil begünstigen können: Mitleid mit blinden Kindern im Himalaya, die von rußigem Yak-Dung als Heizmittel in einfachen Häusern oder von Fettspritzern beim Braten erblindet sind. Mitleid mit Jugendlichen, die ihr Schicksal mit ihren Familien, Geschwistern und Eltern teilen. Mitleid mit Menschen, die den frühen Tod ihrer Mütter betrauern oder die, wie Tashi, mit falscher Identität belegt und wie Sklaven verkauft worden sind. Personen, die wegen ihren augenfälligen Handicaps auf offener Straße in Lhasa von Mitbürgern auf wüsteste Art beschimpft und angegangen werden, als ob ein dämonisches Karma sie verflucht hätte: „Platz da. Ihr verdient es, die Leiche eures Vaters zu essen…“

Superfitness und Tibetologie

Aber um Mitleid, geht es Sabriye Tenberken, aus Deutschland, und Erik Weihenmayer, aus den USA stammend, bei ihrer Begegnung unterm Dach der Welt keineswegs. Irgendwie haben sich hier die Supersportler und Gladiatoren ihrer jeweiligen Disziplin getroffen. Die eingestreuten und unterschiedlich bebilderten Biographien von Sabriye und Erik machen es deutlich: Verglichen mit ihren blinden tibetischen Schülern haben Sabriye und Erik zwar ein ähnliches Schicksal erlitten.

Foto: TAO Cinemathek

Allerdings beide in sozial privilegierten Situationen: Den Verlust ihrer Sehkraft, beide mit rund 12 Jahren und im Gegenzug ein starkes Engagement ihrer Eltern; bei Erik durch den Vater Ed Weihenmayer, der noch dazu mit seinem Sohn den plötzlichen Tod seiner Frau verkraften musste, und bei Sabriye Tenberken das Engagement von Cornelia und Karl-Günter Tenberken, die ihre Tochter auf eine Blindenschule in Marburg schickten. Sabriye:

Es ging darum, Techniken auszuprobieren und herauszufinden, ob neue Aussichten und Chancen durch ihre Anwendung eröffnet wurden oder nicht.

Während Erik eher spezialistisch und show-geschäftstüchtig zu einem Superfitness-Sportler ausgebildet wurde, der seit 20 Jahren aktiv ist und dessen Blindheit heute wie eine an den Rand gedrängte und doch vermarktbare Zufallsgabe wirkt, hat Sabriye ihre Blindheit in einer paradoxen Weise als Stärke angenommen und als eine alternative Lebensform und Quelle von neuem Selbstbewusstsein und verblüffenden Fähigkeiten, auch für andere, genutzt: Dies fing damit an, dass sie an der Bonner Universität Tibetologie studierte und eine Blindenschrift für das Tibetische entwickelte, die heute verbindlich ist und durch die Sabriye in Lhasa eine Schlüsselrolle als Lehrerin für tibetische Kinder und Jugendliche in enger Zusammenarbeit mit ihrem sehenden Lebensgefährten und kongenialen Manager Paul Kronenberg aus den Niederlanden übernehmen konnte.

Europäische Blüten in Tibet

Auf diese Weise werden die Jugendlichen nun in drei Sprachen alphabetisiert, geschult und berufsfähig ausgebildet. Ein Projekt, das vielfach gelobt, vorgestellt und prämiert wurde und doch immer wieder finanzieller Unterstützung bedarf. Das Gladiatorenprinzip, das Erik Weihenmayer zu maximalen heroischen Angleichung an den Leistungssport der Normalos antrieb, förderte bei Sabriye subtilere, solidarische und künstlerische, um nicht zu sagen europäische Blüten: ein intensiver Drang, sich und anderen zu einer authentischen Stärke und Sensibilität zu verhelfen, die jede Form aufgezwungener Schwäche und herabsetzender Anteilnahme, aber auch vorgetäuschter Stärke offensiv und mit Recht zurückweist.

Insofern sind die Bilder am Anfang und gegen Ende des Films kontrapunktisch: Dokumentarfilm zwischen werbeförmiger Selbstinszenierung und authentisch zerfransender Reportage. Zunächst, Mai 2001: Ein Ton, kein Bild, ein Stück Ausgeliefertheit, Erik Weihenmayer wird mit einem Steg über eine Gletscherspalte geführt. Im dunklen Kinosaal hört man nur die Anstrengung, das Atmen, das Hin und Her der Körper und der Stimmen, die Empfehlungen und Anweisungen austauschen, dann plötzlich eingeschnitten: das schwindelerregende Bild der Schneeschuhe aus der 1. Person, auf der ausgelegten Leiter, so wie es wäre, wenn Erik den Abgrund auch sehen und nicht nur erspüren könnte.

Der Gladiator

Als visueller Absacker folgt eine beruhigende Aufnahme von Außen, wie Erik unter der Hilfe der Kollegen, gesichert an Seilen, durch den Steg die Spalte überbrückt. Danach der Triumph auf dem 8.848er Gipfel, ein Jubel unter UV-Brillen und Atemmasken vor dem Hintergrund des bekannten und doch immer wieder überwältigenden Gebirgspanoramas, dem Dach der Welt.

Eriks spezielle Geschichte sowie die Pionier- und Massen-Besteigungen des Mount Everest rücken auf den Nebenzweig einer anderen Route, die sich die neue Mannschaft im Jahre 2004 vornimmt. Diese verfolgt bis zum Advanced Base Camp zunächst denselben Weg wie viele Bergsteiger vor ihnen. Ein „starker erster Brief“ von Sabriye führt zu einem Besuch Eriks in Tibet und zu dem gemeinsamen Vorhaben, mit sechs blinden jungen Menschen auf einen Berg zu steigen. Das ganze Unternehmen soll Freude und Spaß bereiten und den Mut und die Solidarität anstacheln, auch die Hürden des Alltags ganz in ähnlicher Weise zu nehmen. Doch das Team der Sportler und der jungen Blinden ist noch lange nicht zusammengewachsen.

Gletscherspalten und Mannschaften

Es geht darum, den hohen sportlichen Leistungsstandard und den spezialistischen Ehrgeiz der Profis mit den völlig anderen Leistungsansätzen und der breiteren Motivation der blinden Amateure und Anfänger abzugleichen. Im amerikanischen Teil des Teams bringt dies Jeff Evans, der (nichtblinde) Mannschaftsdoktor, klar zum Ausdruck, wenn er von der Notwendigkeit spricht, den Sportsgeist und die seriöse medizinische Betreuung im Normal- und Notfall miteinander zu vereinbaren. Wo hört der Normalfall auf, wo beginnt der Notfall?

Es sieht ganz danach aus, als ob sich die eigentlichen Gletscherspalten und Klippen im Leistungsgefälle der Mannschaft auftun - und zwar von Anfang an. Dies belegt schon das erste Training im kargen Hochland. Aufkeimendes Gemeinschaftsgefühl der Anfänger kollidiert mit der lapidaren Feststellung der Profis, dass die Kids noch kein Bergsteigertraining hatten, also „absolute beginners“ sind. Aber, lässt sich diese Beobachtung nicht auch umkehren?

Foto: TAO Cinemathek

Sind nicht die Bergsteiger ebenso absolute Anfänger, wenn sie zum ersten Mal mit behinderten Amateuren wie mit Crash-Test-Dummies im Behinderten-Boot-Camp an einem solchen Berg proben und arbeiten? Und wie verschieden sind das blinde Ertasten und das sehende Erfassen von Felsen in Wirklichkeit, wenn doch erst im realen Griff der Halt für Mann und Frau und Seil erwiesen wird? Müssen nicht Blinde und Sehende am Berg Vertrauen für sich selbst, für ihre Umgebung und für einander gewinnen, und sich dabei immer wieder neu auf unwägbare Situationen und die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen einstellen?

Zwischen Leistungsshow und globaler Verantwortung

Der äußere Erfolg und der innere Zusammenhalt des gesamten Teams hängt davon ab, wie weit oder wie eng man Leistungserwartungen, Stärke und Fürsorge definiert und ob sie mit weiteren Kompetenzen nur für eine Extrem-Umwelt oder auch einen ganz gewöhnlichen sozialen Alltag vernetzt sind. Ist die Bergsteigergruppe in starke, aber emotional immobile Betreuer und in behinderte und förmlich bewachte Betreute einzuteilen, sind letztere damit nicht bereits bedauerlicherweise zur Abtrennung und zur Selektion nach unterschiedlichen Leistungskriterien verurteilt?

Oder besteht die wahre Stärke der Professionellen darin, keine Kinderverwahrer, sondern aufmerksame Begleiter zu sein, die sich um die langsam aufgerichteten Anfänger kümmern, ihnen Fürsorge geben, aber auch Lern- und Erfahrungsräume zuspielen, damit die gesamte Gruppe als gestärktes Team äußerlich und innerlich so hoch wie möglich wandert und klettert? Sind sie „Botschafter“ (Erik Weihenmayer) einer von außen eingelegten Vermarktungs-Symbolik oder ihres Eigensinns als Individuen?

Von Station bis Station, noch im Geröll vor der gar nicht mehr so ewig wirkenden Rest-Eis-und-Schnee-Kulisse, spitzt sich die Diskussion zwischen professionellem Leistungsdruck und sozialem Teamgeist, zwischen bürokratischer US-amerikanischer Gipfelstürmerei und europäischem On-the-Road-Bleiben immer weiter zu, zumal, wenn die blinden Jugendlichen an Lustlosigkeit, Angstzuständen, körperlicher Ermüdung oder typischen Höhensymptomen wie Kopfschmerzen, Herz- und Lungenbeschwerden leiden.

Die Fantasie nimmt jede Höhe

Als Gegenbewegung haben Lucy Walker und Sebastian Duthy frühzeitig skizzenhafte Porträts und umrisshafte Geschichten der jungen und der erwachsenen Protagonisten als Episoden und Rückblenden in den Film eingebaut, in denen die durchaus abenteuerliche Biographie der Bergsteiger mit ihren Lebens- und Lernfortschritten mitten im Alltag eingefangen wird.

Foto: TAO Cinemathek

Die Rückblenden bieten psychologische Höhenmesser und Navigationsinstrumente für die Zusammensetzung, Befindlichkeit und Dynamik des Teams, aber auch für den umstrittenen Stellenwert des Bergsteiger-Unternehmens im Kontext des eigenen Lebens. Die 18jährige blinde Tibeterin Kyila steht bereits mitten im Leben , sie betreut ihren blinden Vater und ihre blinden Zwillingsbrüder, sie hat das Zeug dazu, später einmal in der tibetischen Blindenschule eine Leitungsfunktion zu übernehmen. In ihrem Buch „Das siebte Jahr. Von Tibet nach Indien“ (Kiepenheuer & Witsch), schreibt Sabriye:

Kyila ist zusammen mit ihrem Mitschüler Wangdü für ein Jahr nach Europa gegangen und studiert jetzt in Totnes, im Süden Englands, Englisch. Sie bereitet sich gerade auf ihr Cambridge Certificate vor, einen der anspruchsvollsten Englischtests für Nichtmuttersprachler, will aber dann zurück nach Tibet kommen, um zusammen mit Yudon, Gyendsen und Norbu unsere Arbeit zu übernehmen und weiterzuführen.

Denn Sabriye und Paul sind im Begriff, in Südindien eine zweite Basis für ihr Projekt weltweiter Blindenförderung zu errichten. Der 19jährige Tashi hat anfänglich auf der Straße gebettelt, er ist noch auf der Suche nach sich selbst, will aber im Laufe der motivierenden Schulung und Ausbildung, wie sein Freund Tenzin, Masseur werden. Tashis Herkunft war völlig unklar, der anfängliche Außenseiter entpuppt sich als Han-Chinese, der im Alter von zehn Jahren von seinem Vater an ein Ehepaar in Lhasa verkauft wurde.

Tashi reiste in Begleitung von Paul Kronenberg und Sabriye Tenberken bis nach Luding, Sechuan, wo der endlich wiedergefundene Vater seine Machenschaften halbherzig abstritt und alles auf den angeblich damals entwischten Sohn schob: eine herbe Enttäuschung für Tashi, der geglaubt hatte, eine Heimkehr mit großem Willkommen zu erleben.

Was sind gegen diese Arbeit an der Selbstüberwindung der eigenen inneren Widerstände und äußeren sozialen Hürden am Ende noch 400 Meter, welche die durch Frühabsteiger dezimierte Gruppe vom Gipfel des Lhakpa Ri trennt? Der Stressfahrplan der Leistungs-Show-Profis findet ein Ende in der Versöhnung Erik Weihenmayers mit Sabriye Tenberkens Prinzip der fantasievollen und globalen Verantwortung für ihre blinden Schützlinge.

In der Begegnung mit dem „Eispalast“, einer Gletscherzone, in der die jungen Leute endlich Zeit und Muße erhalten, wahrzunehmen, zu spüren, zu fühlen, zu hören und zu gestalten. Eis klirrt, knackt und kracht, wenn die Jugendlichen in eine Höhlenwand ein Fenster schlagen oder auf einem Eiselefanten reiten. Die Fantasie der Blinden nimmt jede Höhe. Und der Zuschauer wird davon einen ganzen Film lang angesteckt. Sir Edmund Hillary (mit Tenzing Norgay der lebenslang bescheidene Erstbesteiger des Mount Everest), der jüngst in Auckland verstarb, hätte seine Freude gehabt. Denn die Fantasie geht auch mit den letzten Supergipfeln unseres Planeten freundlicher um als jeder Massentourismus und Snow-Board-Exzess.