Nord- und Südkorea: Riskiert Kim Jong-un einen Krieg?
Die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel erreichen ein bedrohliches Niveau. Beide Seiten mit aggressiver Rhetorik. Droht ein neuer Krieg?
"Die Sicherheitslage auf der koreanischen Halbinsel verschlechtert sich zusehends", so die Einschätzung von Chung-in Moon, Sicherheitsberater des früheren Präsidenten Südkoreas Moon Jae-in. Der Austausch bellizistischer Kommentare zwischen Nord- und Südkorea ist derzeit deren gängige Währung.
Die verdrängte Eskalation
Die Weltöffentlichkeit nimmt von der angespannten Lage zwischen Seoul und Pjöngjang kaum Notiz, da das Augenmerk ganz auf die Kriege Im Gazastreifen und auf Russlands Aggression gegen die Ukraine gerichtet ist. Droht ein weiterer heißer Krieg?
Die beiden Regierungen des geteilten Koreas dämonisieren die jeweils andere Seite wörtlich als "Hauptfeind" und bringen ihr Militär in Stellung. Nordkorea arbeitet seit Jahren am zügigen Ausbau und der Modernisierung des Atomprogramms und hat 2023 so viele ballistische Raketen getestet wie nie zuvor.
Die nukleare Bedrohung
Südkorea baut seine konventionellen Streitkräfte aus und verstärkt zusammen mit den USA die Abschreckung gegen Nordkorea durch eine Intensivierung der gemeinsamen amerikanisch-südkoreanischen Manöver.
Zum Jahreswechsel 2023/24 sprach Diktator Kim Jong-un vor dem Zentralkomitee der Arbeiterpartei und warnte: "Das Wort 'Krieg' nähert sich uns bereits als realistische Entität, nicht als abstraktes Konzept."
Bei der Besichtigung einer Rüstungsfabrik fügte er hinzu, sein Regime werde "nicht einseitig beschließen, einen Krieg auf der koreanischen Halbinsel zu beginnen", aber wir haben auch nicht "die Absicht, einen Krieg mit dem Süden zu vermeiden", sollte Südkorea Waffengewalt gegen uns anwenden und unsere "Souveränität und Sicherheit bedrohen", so Pjöngjangs staatlich kontrollierte Nachrichtenagentur KCNA.
Die Warnung vor dem Krieg
Robert Carlin und Siegfried Hecker, zwei US-amerikanische Nordkorea- und Nuklearexperten, die früher für das Pentagon bzw. für die Forschungseinrichtung Los Alamos National Laboratory gearbeitet haben, bezeichnen die Situation als äußerst zugespitzt:
Die Lage auf der koreanischen Halbinsel ist gefährlicher als sie seit Anfang Juni 1950, [dem Beginn des Koreakrieges], je war. Das mag übertrieben dramatisch klingen, aber wir glauben, dass Kim Jong Un wie sein Großvater im Jahr 1950 die strategische Entscheidung getroffen hat, in den Krieg zu ziehen.
Provokationen und Spekulationen
Sind diese Einschätzungen realistisch oder werden die Kriegsszenarien zu bedrohlich, zu reißerisch dargestellt? Der Behauptung, Kim provoziere einen möglichen Krieg, kann man das Argument entgegenhalten, dass der nordkoreanische Herrscher keine selbstmörderischen Absichten hat.
Natürlich weiß Kim Jong-un, dass ein solcher Krieg vermutlich das Ende des nordkoreanischen Regimes bedeuten würde. Doch die Lage ist zweifellos angespannt und Experten spekulieren darüber, ob mit einem Krieg zu rechnen ist oder ob die Region lediglich mehr von dem erlebt, was in den letzten Jahrzehnten üblich war: nordkoreanische Provokationen und Drohungen.
Der südkoreanische Präsident Yoon Suk-yeol, der seit Mai 2022 im Amt ist, hat auf den rasanten Ausbau des Raketen- und Atomprogramms und die ständigen kriegerischen Provokationen aus dem Norden ganz anders reagiert als sein Vorgänger Moon Jae-in, der auf Entspannung drängte und versuchte, mit Nordkorea ins Gespräch zu kommen.
Die Konfrontation mit Südkorea
Südkorea setzt jetzt mit der Politik "wie du mir so ich dir" auf die Stärkung der eigenen Streitkräfte.
Jeder möglichen militärischen Aktion des Nordens soll mit Entschlossenheit und erhöhter Kampfkraft begegnet werden: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Selbst die atomare Aufrüstung Südkoreas ist kein Tabuthema mehr, obwohl dies in den USA ein No-Go ist und die enge Verteidigungsallianz zwischen den USA und Südkorea infrage stellen würde.
Nordkoreas Drei-Achsen-System
In der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2023 setzt Südkorea dem Norden ein "Drei-Achsen-System" entgegen, sollte Nordkorea tatsächlich den Süden angreifen: Die erste Stufe, genannt "Kill Chain", besteht darin, präventiv die nordkoreanischen Nuklearwaffen und Raketen zu zerstören.
Die zweite Stufe, "Koreas Luft- und Raketenverteidigung", ist darauf ausgerichtet, nordkoreanische Raketen zu entdecken und abzufangen. Die dritte Stufe, "Koreas massive Bestrafung und Vergeltung", soll mit überlegenen konventionellen Streitkräften auf nordkoreanische Angriffe mit Massenvernichtungsmitteln reagieren. Die geharnischten, üblichen nordkoreanischen Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Verbal wird ständig eskaliert.
Der politische Paradigmenwechsel
Interessanterweise nahm Kim Jong-un in seiner Rede Ende Dezember 2023 auch einen tiefgreifenden politischen Schwenk vor, in dem er das politische Konzept einer friedlichen Wiedervereinigung Koreas infrage stellte.
Mehr als ein halbes Jahrhundert hätten die Ideen und die Politik der Demokratischen Volksrepublik Koreas (DPRK) zur nationalen Wiedervereinigung "keine Früchte in den Nord-Südbeziehungen getragen".
Es sei lediglich ein Teufelskreis und ein Wechselspiel von Kontakt und Einfrieren der Beziehungen, von Dialog und Konfrontation geblieben. Damit hat Kim Jong-un das fundamentale, über Jahrzehnte propagierte Ziel einer friedlichen Wiedervereinigung Koreas aufgegeben.
Dieser Politikwechsel ist langfristig sicherlich mehr als das übliche Spiel Nordkoreas, bei Wahlen, wie den im April anstehenden Parlamentswahlen in Südkorea, Aufmerksamkeit zu erzeugen oder gar störenden Einfluss zu nehmen.
Es ist ein Paradigmenwechsel. Im Jahr 1972 formulierte Kim Il Sung, der wie ein Heiliger verehrte Gründungsvater Nordkoreas und Großvater des jetzigen Herrschers, drei Prinzipien der Wiedervereinigung: Unabhängigkeit ohne Einmischung durch fremde Mächte, die Große Nationale Einheit zur Überwindung der ideologischen Differenzen und die friedliche Wiedervereinigung. Dieses Konzept jetzt aufzugeben und vor einem Krieg mit Südkorea nicht zurückzuschrecken, ist eine angsteinflößende politische Volte.
Kim bezeichnete Südkorea "als eine halbseitige Fehlbildung und einen kolonial untergeordneten Staat", dessen Gesellschaft "von der Yankee-Kultur befleckt" sei.
Die innerkoreanischen Beziehungen haben schon einige Krisen erlebt, wie auch die internationale Gemeinschaft, die mit Sorge den Ausbau des Atomprogramms in Nordkorea beobachtet: beispielsweise als Nordkorea 2003 seine Mitgliedschaft im Atomwaffenvertrag kündigte, als 2009 Nordkorea die sogenannten Sechsparteiengespräche zur Denuklearisierung platzen ließ oder auch als Präsident Donald Trump 2017 Nordkorea die totale Vernichtung durch "fire and fury" (Feuer und Zorn) androhte, um später dann doch zwei erfolglose Gipfeltreffen mit Kim zu arrangieren.
Die Herausforderung der Unsicherheit
Ist heute also alles wie gehabt: unflätige Beschimpfungen und Drohungen und keine Lösung in Sicht? Zwei Entwicklungen könnten doch zu einer neuen Lagebeurteilung führen: Erstens sind die Südkoreaner zunehmend verunsichert, ob die USA Südkorea wie versprochen im Ernstfall tatsächlich verteidigen werden. Denn Nordkorea baut weiterhin sein Arsenal weitreichender ballistischer Raketen aus, die inzwischen die USA erreichen können.
Die wachsende Gefahr
Würde die US-Regierung das Risiko möglicher nuklearer Schläge auf amerikanische Städte eingehen, um Südkorea zu verteidigen, wenn Kim Jong-uns Truppen Seoul angreifen? Deshalb auch die vorsichtige Diskussion in Südkorea über eine eigene Atomrüstung. Die USA erneuerten und erweiterten im letzten Jahr ihre Zusagen für Südkoreas Verteidigung, denn sie möchten auf jeden Fall einen nuklearen Dominoeffekt in Asien vermeiden. Dennoch: ein Rest an Unsicherheit bleibt.
Zweitens ist das Risiko eines unbeabsichtigten Krieges gestiegen. Im Jahr 2018 schlossen Nord- und Südkorea ein umfassendes Militärabkommen (Comprehensive Military Agreement) ab, das unter anderem territoriale Puffer festlegte, in denen auf feindliche und provozierende militärische Aktivitäten verzichtet wurde.
Die Aufhebung des Militärabkommens
Dies betraf sowohl die Landgrenze als auch die umstrittene Seegrenze und den Luftraum. Nachdem beide Seiten dieses Abkommen verletzt haben, ist es jetzt auch formal außer Kraft. Nicht zuletzt veranlasst durch die russische Invasion der Ukraine, haben sowohl Süd- als auch Nordkorea kräftig in ihre militärische Aufklärung, vor allem in Überwachungstechnologien investiert.
Es geht um eine möglichst präzise Überwachung gegnerischer Aktivitäten, bei der zunehmend die Nutzung von Drohnen und Spionagesatelliten eine entscheidende Rolle spielt. Bei diesen Spähaktionen stören Pufferzonen. Aber mit der Aufhebung steigt das Risiko eines unbeabsichtigten militärischen Zusammenstoßes.
Besonders die Seegrenze in der Gelben See (oder Westsee) ist schon mehrfach Anlass für militärische Auseinandersetzungen gewesen. Der Verlauf der Seegrenze wird vom Norden auf andere Art interpretiert als vom Süden und die sogenannte Northern Limit Line ist als maritime Grenze umstritten.
Die Notwendigkeit des Dialogs
Regelmäßige Konflikte wegen Fischereirechten, aber auch die Versenkung einer südkoranischen Fregatte im Jahr 2010, bei dem 46 Seeleute ums Leben kamen, lassen neue Krisen und Konflikte befürchten. Denn die Beseitigung dieser Pufferzonen birgt erhebliche Risiken für Fehlkalkulationen.
Um einen weiteren heißen Krieg zu vermeiden, ist es dringend erforderlich, wieder in einen Dialog einzutreten. Doch Dialoge sind derzeit offensichtlich schwierig, wenn nicht unmöglich, wie sowohl der Ukrainekrieg als auch der Gazakrieg zeigen.
Prof. Dr. Herbert Wulf (i.R.) ist Friedens- und Konfliktforscher und war mehrfach im Auftrag der Vereinten Nationen in Nordkorea.
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