Nordsyrien: Die Zukunft der Kurden nach dem Fall von Rakka
- Nordsyrien: Die Zukunft der Kurden nach dem Fall von Rakka
- Kurden sind politisch keine homogene Gruppe
- Türkische Pläne
- Die US-Ambitionen in Syrien und Irak
- Was hat Russland im Sinn?
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Welche Ziele verfolgen die USA, Russland und die anderen Mächte in der Region? Welche Schachzüge plant die Türkei?
Die Truppen der "Demokratischen Föderation Nordsyrien", auch unter dem kurdischen Namen Rojava (Westen) bekannt, stehen kurz vor der Eroberung der selbsternannten IS-Hauptstadt Rakka (oder auch: Raqqa). Gemeinsam mit der Anti-IS-Koalition und ausgerüstet mit amerikanischen Waffen, stehen die Chancen gut, dass die Operation erfolgreich verlaufen wird.
Die Türkei ist vorerst aus dem Spiel, auch wenn Erdogan versucht, sich immer wieder dazwischen zu schieben. Schon wird darüber nachgedacht, wie es in der Region nach der Befreiung von Rakka weitergehen soll. Werden die Truppen der Föderation Nordsyriens weitermarschieren? Wird die syrische Zentralregierung in Rakka das Zepter übernehmen oder die Föderation? Welche Ziele verfolgen die USA und die anderen Großmächte in der Region? Welche Schachzüge plant die Türkei, um wieder mitspielen zu dürfen? Es sind viele Fragen, auf die es aufgrund der unübersichtlichen Allianzen und ständig wechselnden Fronten nur temporäre Antworten geben kann.
Die aktuelle Situation rund um Rakka
Wegen eines Sandsturmes und einsetzender starker Regenfälle kamen die Truppenbewegungen der SDF (Syrian Democratic Forces) in den letzten Wochen vorübergehend ins Stocken. Seit einigen Tagen jedoch rücken die Truppen weiter vor. Im Moment befinden sie sich im Westen, Norden und Osten bereits 3-5 km vor der Stadt und im Süden liegt der Euphrat über den alle Brücken bereits seit langem zerstört sind. Ein Video zeigt, dass man die Stadt schon mit bloßem Auge sehen kann.
Aus der Stadt Rakka wird berichtet, dass der IS am 19. Mai Kanäle blockierte, durch die aus dem Euphrat zur Bewässerung entnommenes Wasser sowie die Abwässer der Stadt für gewöhnlich wieder abfließen. Dadurch wurden ganze Stadtviertel geflutet, mehrere Menschen ertranken, vor allem Kleinkinder. Betroffen waren besonders die Stadtviertel Dera'eya, Romaniye, Mafraq al-Jazara. Damit will der IS die SDF daran hindern, mit ihren Fahrzeugen in die Stadt vorzudringen.
Eine weitere Gefahr geht von den vom IS gelegten Minen aus, die durch das Wasser verdeckt werden. Kommandanten der SDF befürchten, dass der IS plane, die Wasserflächen unter Strom zu setzen, um das Vordringen der SDF zu verhindern.
Wegen der starken Regenfälle wird der Wasserpegel nicht so schnell sinken. Zusätzlich lässt die Türkei seit zwei Monaten wieder mehr Wasser aus ihren Stauseen im Euphrat fließen. Der dadurch erhöhte Wasserpegel des Euphrat drückt das Wasser zusätzlich in die umliegenden Bewässerungskanäle. Damit werden die Felder der Bauern geflutet und zerstört (vgl. Türkei: Wasser als Waffe).
Am 23. Mai berichteten die SDF, dass ihnen bei der Befreiung des Dorfes Bir Hamad große Mengen an Waffen in die Hände fielen, darunter auch Waffen türkischer Herkunft. G3-Gewehre sowie zwei unbenutzte Panzerabwehrwaffen vom Typ LAW waren darunter. Seit dem 11. April drangen die SDF kontinuierlich Richtung Rakka vor und befreiten ein Dorf nach dem anderen. Die Bevölkerung feiert die Befreiung. Frauen werfen ihre Verschleierung ab, viele schließen sich spontan den SDF an. ANF berichtete Mitte Mai, dass sich 248 junge Menschen aus Rakka den SDF angeschlossen hätten und nun ausgebildet werden.
Unterstützt werden sie von der Anti-IS-Koalition, die die Eroberungen durch Luftangriffe und seit kurzem auch durch Waffenlieferungen und Support der USA begleitet. Am 24. Mai berichteten die SDF, dass mehr als 100 US-LKWs mit Waffen (Granatwerfer, Panzerabwehrwaffen, Gewehre und Geländewagen vom Typ Hummer) die SDF-Truppen in der Stadt Hasaka erreicht hätten. Dies ist die zweite US-Waffenlieferung innerhalb von zwei Monaten, die US-Präsident Trump angeordnet hatte.
Allerdings gilt die Unterstützung nur dem direkten Kampf gegen den IS. Dies hat Trump mehrfach unmissverständlich geäußert. Strategisches Ziel der USA ist ein Sieg über den IS. Dafür brauchen sie die Kurden, bzw. die SDF. Was danach passiert, wird in einer anderen Liga - ohne die Kurden - verhandelt. Da geht es um Assad, um Iran, die Türkei und den Irak, also um geopolitische Interessen. Die Kurdenfrage, bzw. ein föderatives, demokratisches Modell für Gesamt-Syrien steht nicht auf der Agenda.
Aber es gibt mittlerweile auch auf politischer Ebene mit der PYD einen regen Austausch. Brett McGurk hatte am 17. Mai 2017 ein Treffen mit Regierungsvertretern des Volksrates der demokratischen Föderation Nordsyriens. Dies fand in den deutschen Medien kaum Beachtung. Die Delegation aus hochrangigen Vertretern des US-Außenministeriums traf sich in Ayn Isa mit Vertretern der neu gegründeten demokratischen Rakka-Zivilversammlung und sagte ihr Unterstützung zu.
Einen Tag später traf die Delegation des State Departments ranghohe Kommandanten und Kommandantinnen der SDF und YPG, um die bevorstehende Rakka-Operation und die Ausrüstung mit schweren Waffen zu besprechen. Dies wurde als deutliches Signal an die Türkei gewertet, dass die USA weiterhin mit den SDF und auch der kurdischen YPG/YPJ zusammenarbeiten werden.
Ob das seit drei Jahren in Nordsyrien praktizierte Modell eine Option für die gesamte Region wäre, wird von den eigentlichen Strippenziehern nicht diskutiert. Despoten scheinen besser kontrollierbar zu sein. Deshalb wollen sich die USA und auch Deutschland die Tür zur Türkei offenhalten. Das funktioniert bei Erdogan in der Kurdenfrage sehr gut, wenn man ihm wie Trump im 20-Minuten-Gespräch versichert, man unterstütze ihn auch im Kampf gegen die PKK.
Aber was heißt das konkret? Sollen die USA nun die syrische PYD ebenfalls als Terrororganisation einstufen, weil sie ideologisch den Ideen von Abdullah Öcalan für eine demokratische Gesellschaft nahe steht und Erdogan die PYD als Schwesterorganisation der PKK betrachtet?
Die PYD ist keine Schwesterorganisation der PKK und keine Terrororganisation
Die türkische Regierung versucht über ihre Leitmedien, ähnlich wie die Bundesregierung, die Botschaft, die PYD sei eine Terrororganisation, in die Gehirne ihrer Bevölkerungen einzuhämmern. Gemeinsam wird daran gearbeitet, ein Bild der "bösen Kurden" einerseits - das sind die Mitglieder und Sympathisanten der PYD in Syrien und der PKK in der Türkei - und der "guten Kurden" andererseits - das ist die irakische Partei Barzanis, die KDP - zu zeichnen. Nach dieser Logik können die syrischen Kämpferinnen und Kämpfer der SDF, insbesondere die der kurdischen YPG/YPJ und die Kämpferinnen und Kämpfer der türkischen HPG von der PKK, wie auch die verbündeten ezidischen YPS nur "böse und terroristisch" sein, während die irakischen Peschmerga von Barzani und ihr im Shengal für Unruhe sorgendes Pendant, die "Rojava-Peschmerga", nur die "guten" Kämpfer sein können.
Diese werden sowohl von der Türkei als auch von Deutschland mit Waffen und Logistik unterstützt. Wie in der Türkei schon seit langem, werden die Sympathisanten der YPG/YPJ seit einigen Wochen auch in Deutschland kriminalisiert. Innenminister de Maiziere verfügte neulich ein Verbot der Symbole der syrischen Kurden - von den Truppen angefangen bis zu der kurdischen Studentenorganisation YXK. Inzwischen sind erste Verfahren wegen eines Verstoßes gegen das Verbot, diese Fahnen auf Demos in Deutschland zu zeigen, anhängig.
Die USA haben einen differenzierteren Blick: Sie haben der türkischen Regierung zu verstehen gegeben, dass sie die SDF, und damit auch die YPG/YPJ als stärkste Kraft der SDF unterstützen. Die Amerikaner scheuen sich auch nicht, mit YPG/YPJ Kämpfern gemeinsam in der Öffentlichkeit aufzutreten und sich mit ihrem Wappen ablichten zu lassen. Gemeinsam mit der YPG/YPJ gab es bspw. kürzlich Patrouillen entlang der türkischen Grenze auf syrischem Territorium, nachdem es immer wieder Übergriffe seitens der türkischen Armee gegeben hat.