Norwegens Ölpolitik vor Gericht

Ölbohrinsel Goliat FPSO, hergestellt in Südkorea, operiert in der westlichen Barentssee. Bild: T3n60/CC BY-SA 4.0

Die Janusköpfigkeit des Landes, das sich gern als Klimavorreiter darstellt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Hat der norwegische Staat sein Grundgesetz verletzt, als er 2015 neue Gebiete in der Barentssee zur Ölsuche ausschrieb? Und hat er bei der Vorbereitung dafür Fehler gemacht? Ja, meinen vier norwegische Umweltorganisationen und haben den Staat verklagt bis in die oberste Instanz. Der Klimaprozess vor dem Obersten Gericht in Oslo, "Klimasøksmålet", ist nun nach sieben Verhandlungstagen beendet. Das Urteil steht noch aus. Das Verfahren zeigte deutlich die Janusköpfigkeit Norwegens, das sich gern als Klimavorreiter darstellt.

Der Paragraf 112 des norwegischen Grundgesetzes besagt, dass alle das Recht auf eine gesunde, produktionskräftige Umwelt und Artenvielfalt haben und dass die Naturressourcen nachhaltig verwaltet werden sollen mit Blick auf kommende Generationen. Hinter der Klage stehen die Organisationen Natur og Ungdom, Greenpeace Norwegen, Besteforeldrenes klimaaksjon (Klimaaktion der Großeltern) und Naturvernforbundet (Naturschutzbund).

Konkret richtete sich die Klage gegen die 23. Konzessionsrunde 2015/2016, bei der der norwegische Staat Lizenzen zur Ölsuche an 13 Unternehmen vergab. Zwar gingen die Prozesse in den beiden vorherigen Instanzen verloren, doch es gab Details in den Urteilsbegründungen, die die Umweltorganisationen ermutigten, weiterzumachen.

Dass das Oberste Gericht Norwegens (Høyesterett) die Sache überhaupt zu einer Verhandlung im Plenum zuließ, war schon ein Gewinn für sie. Kurz vor Beginn des Prozesses erhielten sie außerdem einen unerwarteten Joker für ihre Argumentation: Der staatseigene Fernsehsender NRK machte öffentlich, dass das Ministerium dem Parlament 2013 eine Berechnung vorenthalten hatte, nach der eine Ölförderung im Bereich Barentssee Südost wirtschaftlich weniger lohnend sein könnte, als bis dahin angenommen.

Zudem gab es E-Mails, in denen das Ministerium seine Öl-Behörde (Oljedirektoratet) davor warnte, das Gebiet Barentssee Südost (Barentshav sørøst) schlecht zu reden. Als die norwegischen Parlamentarier im Juni 2013 grundsätzlich über eine zukünftige Ölförderung in der südöstlichen Barentssee abstimmten, gingen sie davon aus, dass der Staat sich so weiter Steuereinnahmen sichern würde. Drei Lizenzen, die in der 23. Konzessionsrunde letztlich vergeben wurden, beziehen sich auf das Gebiet Barentssee Südost, andere liegen nördlich der schon vorher erschlossenen Gebiete in der Barentssee.

Elektroautos und Ölexporte

Die hohe Zahl von Elektroautos in Norwegen gilt manchen als Beweis dafür, dass Norwegen in der Umstellung auf fossilfreie Energieformen fortgeschritten ist. Öl ist aber nach wie vor das Haupt-Exportgut - und auch norwegische Ölprodukte erzeugen bei der Verbrennung CO2. Während deutsche Fridays-for-Future-Jugendliche gegen Kohlekraftwerke und Autobahnen durch Waldstücke protestieren, gehen norwegische Jugendliche gegen die fortgesetzte Ölsuche auf die Straße. Dass die Umweltorganisationen konkret gegen die 23. Konzessionsrunde klagen, wird folgendermaßen begründet: Es ist die erste Konzessionsrunde, die nach dem Klima-Abkommen von Paris 2015 zugeteilt wurde.

Die ausgeschriebenen Blöcke in der Barentssee liegen sehr weit abseits bisheriger Infrastruktur und einige davon auch nahe der schwer zu definierenden Eiskante mit besonders empfindlicher Natur. "Nein zu arktischem Öl" ist deshalb eine der Parolen in Zusammenhang mit diesem Prozess. Und selbst wenn dort lohnende Vorkommen gefunden würden, so würden die ersten Tropfen erst zu einer Zeit fließen, in der die Welt sich nach dem Abkommen von Paris eigentlich abwenden wollte vom Öl - nach 2030. Allein die Förderung von Öl und Gas in Norwegen erzeugt aktuell 14 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent jährlich.

Mit der 23. Konzessionsrunde verletze der Staat das im Paragraf 112 des Grundgesetzes garantierte Recht heute junger Menschen und kommender Generationen auf eine gesunde Umwelt. Die Klimaauswirkungen der Ölproduktion dort seien bei der Ausschreibung nicht berücksichtigt worden. Dazu gehöre auch die Verbrennung in anderen Ländern. Die Wirkung eines in Norwegen hergestellten Produktes sei in Norwegen zu bewerten - bei anderen Produkten sei das schließlich auch so.

Das Abkommen von Paris verlange außerdem von allen Ländern größtmögliche Anstrengungen. Norwegen komme dem nicht nach, wenn weiter Öl gesucht werde, obwohl es bereits mehr erschlossene Vorkommen gebe, als man innerhalb der Klimaziele verbrennen könne. Zum Abschluss appellierte Klägeranwältin Cathrine Hambro an die Richter, eine Entscheidung zu treffen, auf die auch ihre Enkelkinder stolz sein könnten.

Die Klage wurde 2016 eingereicht und hat auf dem Weg durch die Instanzen (Urteil Oslo Tingrett 2018, Urteil Borgarting Lagmannsrett 2019) an Bekanntheit gewonnen - wie auch das Klima-Thema insgesamt weltweit. Der Prozess finanziert sich durch Spenden. Zu diesen Spendern gehört auch Greta Thunberg, die 2019 den Preis der privaten norwegischen Stiftung Fritt Ord erhielt und das Geld dem Klimaprozess stiftete. Sie hätte 2019 auch den Umweltpreis des Nordischen Rates bekommen sollen. Diesen lehnte sie mit Hinweis auf die norwegische Ölförderung ab.

Passend zum Ende des Prozesses erschien in Norwegen ein Bericht der Prüfgesellschaft DNV GL: Mit den aktuellen Maßnahmen habe Norwegen keine Chance, die selbstgesetzten Klimaziele zu erreichen.

Die Argumentation des Regierungsverteidigers Fredrik Sejersted geht wie folgt: Der Paragraf 112 sei für diese Zwecke nicht geeignet. Er beinhalte kein materielles Recht und sei außerdem für konventionelle Umweltfragen gedacht, nicht für Klimafragen. Und selbst wenn er materielles Recht beinhalten würde, so beträfe dies nur Dinge, die innerhalb der Grenzen Norwegen geschehen, nicht die Verbrennung von Öl im Ausland.

Der Staat Norwegen handle zudem klimabewusst. Er beteilige sich am CO2-Quotensystem und unterstütze CCS-Projekte. Dass bei der Entscheidung zur Öffnung der südöstlichen Barentssee das Dokument mit der Wirtschaftlichkeitsberechnung nicht vorgelegen habe, sei ohne Bedeutung, denn diese sei ohnehin mit großen Unsicherheiten behaftet gewesen.

Der Unterschied zwischen der Barentssee und anderen norwegischen Ölfördergebieten wurde heruntergespielt: Der Golfstrom-Ausläufer halte das Gebiet eisfrei. Außerdem habe ein Verzicht Norwegens auf eine fortgesetzte Ölförderung vermutlich keine positiven Auswirkungen auf das Klima, denn dann würden andere das Öl liefern. Sejersted empfahl den Zuhörern die Serie "Okkupert" (Besetzt) - darin besetzt Russland mit Zustimmung der EU Norwegen, um die heruntergefahrene Öl- und Gasindustrie wieder anzukurbeln.

Die vorherige Instanz, Borgarting Lagmannsrett, hatte zumindest einen Teil von Sejersteds Argumentation verworfen, obwohl es den Staat letztlich freisprach: Paragraf 112 beziehe sich sehr wohl auch auf Klimaschäden. Und die Förderung von Öl sei von seiner Verbrennung nicht zu trennen - dies sei ja sein Zweck. Für die Klimawirkung sei es auch unerheblich, ob es in Norwegen oder im Ausland verbrannt werde.

Exkurs: Öl- und Gasförderung in der Barentssee

Worin unterscheidet sich die Öl- und Gasförderung in der Barentssee von Norwegens anderen Fördergebieten? 2007 wurde dort das Gasfeld Snøhvit (Schneewittchen) eröffnet. Das Gas wird über eine 160 Kilometer lange Pipeline zur Verarbeitung nach Melkøya vor Hammerfest geliefert. Betreiber ist die staatseigene Gesellschaft Equinor (früherer Name Statoil). Der Ertrag ist stabil und es gibt weitere Vorkommen, die über die Einrichtung erschlossen werden können.

Die Anlage auf Melkøya liegt allerdings gerade still nach einem Brand Ende September. Die erste und bisher einzige Ölbohrinsel in der Barentssee ist Goliat, die 2016 in Betrieb ging. Sie liegt etwa 85 Kilometer nordwestlich von Hammerfest. Der Start war mit zahlreichen Pannen behaftet.

Bisher ist der Ertrag geringer als erwartet. Das Öl wird mit Tankschiffen abtransportiert. Betreiber ist heute Vår Energi AS; Equinor ist zu 35 Prozent beteiligt. Bereits im Bau ist außerdem die schwimmende Produktionsanlage für das Feld, Johan Castberg, etwa 100 Kilometer nördlich von Snøhvit. Betreiber Equinor rechnet mit 400 bis 650 Millionen Fass Öl, verteilt auf drei Fundorte. An der Anlage wurde lange geplant, damit sie auch bei niedrigem Ölpreis wirtschaftlich ist. Nun hat sich der Start bereits verschoben und es wird teurer - teilweise aufgrund Baumängeln und eines Konstruktionsfehlers, teilweise aufgrund von Corona-Einschränkungen der Werft in Singapur. Der Start soll jetzt 2023 sein.

All diese Projekte sind älter als die 23. Konzessionsrunde und wären von einem Gerichtsentscheid zugunsten der Kläger nicht betroffen. Goliat und Snøhvit liegen vergleichsweise nah an der Küste. Johan Castberg liegt schon deutlich weiter nördlich. Mehrere Gebiete der 23. Konzessionsrunde liegen noch nördlicher oder sehr viel weiter östlich. Die Wege dorthin sind weit, was bei schlechtem Wetter zum Problem werden kann - sowohl für den regulären Betrieb als auch für den Einsatz bei Notfällen. Dazu kommen niedrigere Temperaturen, die Gefahr von Vereisung der Anlagen und im Winter eine längere Zeit der Dunkelheit. Je nördlicher, desto größer ist außerdem das Risiko von Meereis.

Erst vor kurzem gab es einen politischen Streit um die Eiskante in der Barentssee. Denn grundsätzlich sollen sich Norwegens Ölanlagen nur südlich davon ansiedeln, aber die Eiskante ist ja keine feste Grenze wie die Küstenlinie. Die Mehrheit des norwegischen Parlamentes stimmte dafür, im neuen Verwaltungsplan die Eiskante dort festzulegen, wo in der Referenzperiode von 1988 bis 2017 mit 15-prozentiger Wahrscheinlichkeit Meereis anzutreffen war.

Diese Lösung hatte den Charme, dass davon keine bereits vergebenen Suchlizenzen betroffen waren. Fachbehörden wie das norwegische Polarinstitut und das Meeresforschungsinstitut hatten für eine Grenze dort plädiert, wo die Wahrscheinlichkeit nur noch 0,5 Prozent betrug, also weiter südlich. Die Eiskante gilt als ein biologisch sehr aktiver und wichtiger Lebensraum, der bei einem Ölunfall massiv und langfristig geschädigt würde. Diese Linie hätte bereits vergebene Lizenzen betroffen.

Die Ölsuchgebiete in der südöstlichen Barentssee haben zudem eine spezielle Geschichte. Denn die Seegrenze zu Russland wurde erst 2010 unter Jens Stoltenberg endgültig ausgehandelt. Erst danach konnte man so weit östlich Untersuchungen vornehmen. Ein interessantes Detail während des Klimaprozesses war deshalb die Bemerkung des Regierungsverteidigers, mit der Öffnung von Barentssee Südost habe man auch norwegische Präsenz dort zeigen wollen.

Klimawandel in Norwegen

Die Folgen des Klimawandels sind in Norwegen durchaus sichtbar. Am deutlichsten sind sie auf Spitzbergen, wo in diesem Sommer der absolute Temperaturrekord geknackt wurde: Am 25. Juli wurden am Flugplatz von Longyearbyen 21,7 Grad registriert - auf 78 Grad Nord. Spitzbergen hat mit Gebäudeschäden durch weichenden Permafrost und vermehrter Lawinengefahr zu kämpfen.

2015 starben zwei Personen bei einer Lawine, die ihre Wohnhäuser traf. Früher bewohnbare Häuser werden nun abgerissen, es muss massiv in Sicherungsmaßnahmen investiert werden. Und während das Frühjahrseis in diesem Jahr sogar wieder bis Bjørnøya reichte, zog es sich im Spätsommer so weit zurück wie noch nie. Es ist auch aktuell noch weit von der Inselgruppe entfernt. Für die Eisbären dort heißt dies weiter hungern.

Festland-Norwegens Gletscher wurden mit Rekordschnee aus dem vergangenen Winter über den Sommer 2020 gerettet. Gletscherzungen, die tiefer reichen als die Schneegrenze, half das allerdings nicht. In den vergangenen Jahren waren die Gletscher stets geschrumpft, und die Schneegrenze steigt. Temperaturveränderungen und stärkere Niederschläge haben Auswirkungen auf die Landwirtschaft, die Lawinen- und Erdrutschgefahr sowie Hochwasserereignisse.

Neue Funde dringend nötig?

Kurz vor Beginn des Prozesses hatte die Ölbehörde ihren neuen Ressourcenrapport vorgelegt. Ohne neue Funde werde die Produktion ab 2030 auf dem norwegischen Sockel schnell fallen, so der Fachbereichsleiter Torgeir Stordal. Nach der offiziellen Angabe der Behörde sind 48 Prozent des norwegischen Vorkommens bereits ausgebeutet und verkauft. Etwa ein Viertel des geschätzten Gesamtvorkommens fällt allerdings unter "noch nicht nachgewiesen", es wird lediglich aufgrund der geologischen Daten vermutet.

Besonders viel davon entfällt auf die Barentssee, die noch nicht so gut erforscht ist. Probebohrungen brachten bisher nicht den ganz großen Durchbruch - Johan Castberg ist eher ein kleiner Fisch gegenüber dem neu in Betrieb genommenen Feld Johan Sverdrup in der Nordsee mit 2,7 Milliarden Fass, dazu aufgrund der vorhandenen Infrastruktur günstig auszubeuten. Norwegens Anteil an der weltweiten Ölförderung beträgt aktuell zwei Prozent.

Damit die Suche und der Ausbau der bereits bekannten Ressourcen trotz gesunkenen Ölpreises nicht stockt, hatte der norwegische Staat als Corona-Hilfe vorteilhafte Abschreibungsmöglichkeiten für die Ölindustrie beschlossen. Daraufhin nahm die norwegische Tochter der schwedischen Lundin Energy die Arbeit am Alta/Gohta-Feld wieder auf und vergrößerte sogar ihre Anteile, obwohl sie das Projekt nur wenige Monate vorher als unwirtschaftlich auf Eis gelegt hatte. Dazu gehören Bereiche, die in der 23. Konzessionsrunde verteilt wurden.

Die Ölindustrie hat Norwegen reich gemacht und dem Land ein bequemes Polster verschafft. Es gibt allerdings keine Garantie dafür, dass dies immer so weitergeht, sofern man nur genug Öl findet - Johan Sverdrup könnte das letzte große Ölfeld gewesen sein, das sich mit wenig Aufwand ausbeuten lässt. Der Prozess hat das Geschäft, das sonst so weit abseits von der Küste stattfindet, noch einmal deutlich ins Bewusstsein gerufen.

Nachdem der Klimaprozess in den beiden vorherigen Instanzen verloren ging, ist nicht zu erwarten, dass das Oberste Gericht völlig anders entscheidet. Doch es ist wäre nicht das erste Mal, dass Klimaschutzmassnahmen auf gerichtlichem Weg erzwungen werden: Vor einem Jahr gab das niederländische Oberste Gericht der Stiftung Urgenda in ihrer Klage gegen den niederländischen Staat recht.