Nur neun Menschen entscheiden die atomare Vernichtung – oder Maschinen

Roter Knopf für A-Waffen

Frühwarnsysteme ersetzen den menschlichen Verstand. Politiker setzen auf Abschreckung. Warum die Menschheit in die Katastrophe zu taumeln droht.

Über den Einsatz von Atomwaffen entscheiden weltweit faktisch nur wenige Einzelne. Oder an ihrer Stelle Frühwarnsysteme, also Maschinen, die sich irren können.

Umso beängstigender ist es, was Sipri, das Stockholmer Friedensforschungsinstitut, unlängst meldete: "Wir haben seit dem Kalten Krieg nicht mehr gesehen, dass Atomwaffen eine so wichtige Rolle in den internationalen Beziehungen spielen." Der Ruf nach einer europäischen oder gar deutschen Atomstreitmacht wird lauter.

Und so auch die Politiker: Abschreckung, so Pistorius, sei unsere "Lebensversicherung"; Baerbock sieht darin eine berechtigte Verteidigung und glaubt, dass uns Raketen schützen; der Kanzler selbst hat neuen Stationierungen zugestimmt; die SPD-Parteispitze stellt sich nachträglich hinter dieses Vorhaben.

"Der Präsident kann Gott spielen …"

Wer aber entscheidet über den Einsatz solcher Waffen? Wer also kann einen Atomkrieg auslösen? Gibt es da eine angemessene Kontrolle? Die Antwort ist niederschmetternd: Es gibt keine. Die Möglichkeit, im Zweifelsfall die größte denkbare Katastrophe herbeizuführen, liegt – zählt man die Entscheider sämtlicher Atommächte zusammen – formal in den Händen von weltweit nur neun Personen, den jeweiligen Regierungschefs der Atomstaaten.

Locker würden sie in ein mittelgroßes Wohnzimmer passen. Was den amerikanischen Präsidenten angeht, so urteilt der Historiker und Amerikanist Bernd Greiner:

Ausgerechnet bei der Entscheidung über Leben und Tod von Millionen gibt es keine prüfende Absicherung. Von nuklearem Absolutismus zu sprechen, ist eine Untertreibung. Ein Präsident kann Gott spielen.

Merkwürdigerweise beunruhigt das so gut wie niemanden. Freilich, weil es niemand weiß. Da bleibt es ebenso unbemerkt, dass es noch viel schlimmer ist: Schaut man genauer hin, ist es bisher nicht einmal diese Miniminderheit, die im Krisenfall über uns zu Gericht sitzt.

Es sind überhaupt keine Menschen mehr, die unser Leben in der Hand haben. Faktisch sind es im Zweifelsfall tote Maschinen, Rechner, denen es egal ist, ob wir leben oder tot sind.

Anhängsel des Abschreckungssystems

Der Grund dafür ist der Faktor Zeit. Sowohl die atomare Technologie als auch ihre Nutzung im Rahmen der Abschreckung sprengen alle menschlichen Zeitmaße. Während der Mensch zwischen Wachen und Schlafen einem biologischen Rhythmus folgt, er Phasen der Ermüdung, der Unaufmerksamkeit oder der inneren und äußeren Konflikte erlebt, fordert die Abschreckungskonstellation, dass er dem Takt von Minuten folgt und ununterbrochen hellwach präsent ist.

Unsere Waffentechnologie und der Wahn, sie für eine illusionäre Sicherheitspolitik zu nutzen, hat uns zu Anhängseln des Abschreckungssystems gemacht. Menschen, die müde sind, sich unpässlich fühlen oder die schlicht auf der Toilette sitzen, sind Störfaktoren, wo diese Technologie diktiert.

Schauen wir uns die Grundkonstellation an: Es soll Sicherheit bringen, wenn wir Waffen aufeinander richten, die mit bis zu zwanzigfacher Schallgeschwindigkeit daher rasen. Selbst im interkontinentalen Schlagabtausch bleibt da nur eine Entscheidungsfrist von wenigen Minuten.

Von sechs bis zwölf Minuten ist die Rede. Weniger dürften es ein, sobald die neuen Raketen in Deutschland stationiert sind. Denn der Feind steht ganz in der Nähe, nämlich u. a. in Kaliningrad oder Belarus.

So als wären Geschwindigkeit und Nähe nicht schon gefährlich genug, gilt grundsätzlich das Prinzip launch on warning (Start während der Frühwarnung). Zurückgeschlagen wird nicht nach gründlicher Prüfung und Überlegung, sondern schon während die Raketen im Anflug sind, also noch bevor sie das anvisierte Ziel erreicht haben. Es gilt: Je plötzlicher Schlag und Gegenschlag erfolgen, desto eher kann im Atomkrieg gesiegt werden, sagen wir: wenn überhaupt.

Über den Einsatz atomar bestücktet Raketen, auch diejenigen in Deutschland, würde der amerikanische Präsident entscheiden. Er alleine ist dazu befugt. Beraten kann er sich lassen, doch entscheiden muss er selbst.

Man stelle sich Biden oder Trump vor. Zur Unzeit läuft eine Meldung ein, aber der Präsident schläft gerade, denn es ist Nacht. Es reicht nicht, sich den Bademantel überzustreifen, die Brille zu suchen, seine Frau zu beruhigen und schon ist die Zeit abgelaufen.

Und jetzt wird es dramatisch. Die Meldung lautet, die Frühwarnsysteme hätten einen feindlichen Angriff erkannt. Beruht die Meldung auf Tatsachen oder eher nicht? Welcher Präsident könnte das entscheiden? Experten, die es könnten, würden Stunden dafür benötigen. Niemand also weiß es mit Gewissheit, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt, bei dem die eigenen Raketen für den Gegenschlag schon abschussbereit und startklar sind.

Zeitlich überhaupt nicht infrage kommt ein Anruf beim deutschen Bundeskanzler, falls es ein auf Deutschland zielender Angriff zu sein scheint. Der Kanzler hat diesen Teil der Souveränität schon vorsorglich abgegeben. In Deutschland würden wir sterben, nicht weil unsere Regierung so entschieden hat, sondern weil sich die USA im Krieg befinden.

Vielleicht im Krieg befinden, muss gesagt werden. Denn obwohl US-Atomraketen gerade starten, ist nur sicher, dass es schlimm werden wird. Unsicher ist es, ob jemand diesen Krieg bewusst begonnen hat. Egal: Wir sind mittendrin.

Technologie macht sich selbstständig

Bis zu diesem Zeitpunkt hat sich der US-Präsident also den Schlaf aus den Augen gewischt und gewissermaßen zum Abschied seine Frau umarmt. Dann würde er sich in Sicherheit bringen, wahrscheinlich in eine Bunkeranlage.

Und obwohl bis dahin nichts politisch und bewusst entschieden worden ist, wird nun das größte Inferno folgen, das die Weltgeschichte bis dato gesehen hat. Die Abschreckung und ihre Technologie haben sich selbstständig gemacht. Die Angelegenheit hat sich auch ohne menschlichen Eingriff von selbst geregelt.

Wie das geht? Man denke an die Flugzeugabstürze der beiden Boeings 737 Max 8 am 29. Oktober 2018 und am 10. März 2019. Die Rechner waren falsch programmiert und die Piloten waren nicht in der Lage, die falschen Entscheidungen der Maschinen zu korrigieren. Der Kladderadatsch fand ganz automatisch statt.

346 Menschen starben nicht trotz der Hochtechnologie in diesen Flugzeugen, sondern wegen dieser. Es klemmte schlicht beim Zusammenspiel des Menschen mit der Technik. Und dabei steht diese Kooperation im Flugverkehr bei Weitem nicht auf so wackeligen Füßen wie bei der atomaren Abschreckung.

Dort zeigt schon das Arrangement selbst, dass es zu Situationen kommen muss, die entweder den Menschen, die Technik oder beide überfordern. Es ist wie angelegt auf sein Scheitern, wenn es auch nur an einem einzigen Punkt nicht perfekt funktioniert. Und das Tag und Nacht, Monat um Monat, Jahr um Jahr.

"Verteidigung" als Selbstmordoption

Was aber wäre die Datengrundlage für den Absturz des gesamten Globus ins Chaos oder gar in den Untergang? "Weder Menschen noch Maschinen können bei Alarmmeldungen in Frühwarnsystemen in so kurzer Zeit fehlerfrei entscheiden, da die Datengrundlage unsicher, vage und unvollständig und Überprüfung durch Menschen in der kurzen verfügbaren Zeit nicht möglich ist", so die Informatiker Karl Hans Bläsius und Jörg Siekmann.

Beide sind auch ausgewiesene KI-Spezialisten und warnen davor, sich darauf zu verlassen, dass künstliche Intelligenz uns retten könnte. Die bodenlose Dummheit, Verteidigung mit einer Selbstmordoption zu verwechseln, kann nicht durch Technik, sondern muss politisch gelöst werden. Schlicht geht es darum, den Atomkrieg aus Versehen zu vermeiden. Im Sommer 2022 hatte die Gesellschaft für Informatik in einem offenen Brief an die Bundesregierung davor gewarnt.

Unklar bliebe also – um zur misslichen Lage des US-Präsidenten zurückzukehren –, ob der feindliche Angriff echt ist oder ob es sich um Fehlinformationen handelt. Wir alle, auch der Präsident, müssen hoffen, dass das noch jemand rechtzeitig entdeckt und – wie auch immer – die Sache noch einmal abgeblasen werden kann.

Jedenfalls bevor eine nicht mehr zu bremsende Eskalation begonnen hat. Im Herbst 1983 war dies bekanntlich ein sowjetischer Offizier, der auf unterer Ebene den anlaufenden Atomkrieg noch einmal abblocken konnte. Ein unsägliches Glück für diesen Globus.

Leider gibt es ein Problem: Die Gefahren der atomaren Abschreckung sind in Vergessenheit geraten. Die Menschen wissen nicht mehr, was ihnen droht. Die Medien schweigen und die Politiker folgen Vorurteilen, die sich seit dem Ende des Kalten Krieges eingebürgert haben: Es sei bewiesen, dass atomare Abschreckung funktioniert.

Im Übrigen habe niemand vor, Atomwaffen ernsthaft einzusetzen. Sicherheit sei umso sicherer, je mehr man einander damit in Schach hält.

Vergessen ist der Satz des Journalisten Leon Wieseltier: Nukleare Abschreckung ist "wahrscheinlich das einzige politische Konzept, das vollkommen versagt, wenn es nur zu 99,9 Prozent erfolgreich ist." Ein fast totaler Erfolg, der faktisch ein Misserfolg ist, wird uns, wenn es so weitergeht, nicht erspart bleiben.