Obamas ungesunder Handel

US-Präsident Obama am 23. März 2010 bei der Unterzeichnung des Patient Protection and Affordable Care Act. Bild: Weißes Haus

In knapp fünf Monaten beginnt die Versicherungspflicht für alle US-Amerikaner. Der Blick hinter die Kulissen zeigt, warum das nicht unbedingt eine gute Nachricht ist

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Die USA stehen vor dem größten Umbruch der vergangenen Jahrzehnte im Gesundheitssystem. Bis zum Jahresende werden entscheidende Schritte zur Umsetzung des Patient Protection and Affordable Care Act getan werden, dem Gesetz also, das landläufig als "Obamacare" bezeichnet wird. Ziel der Regelung ist es, allen US-Amerikanern Krankenversicherungsschutz zu gewähren. Vor allem die derzeit rund 30 Millionen Nicht-Versicherten sollen in dem neuen System wieder berücksichtigt werden.

"Obamacare" könnte der erste Schritt zu einer Bürgerversicherung in den USA sein. Allerdings ist der epochale Wandel heftig umstritten. Unklar ist, wie sich die Beiträge entwickeln und das neue System ausgestaltet wird. In den von der Republikanischen Partei regierten Bundesstaaten droht eine Blockade. Und schließlich hat sich die Obama-Regierung auf einen Handel mit der republikanischen Opposition eingelassen, der andere wichtige Bereiche der staatlichen Krankenversicherungen auszubluten droht. Kritik hagelt es daher von allen Seiten.

Schwachstelle ist die Finanzierung

Bislang ist unklar, ob und wie die staatliche Pflichtversicherung finanziell getragen werden kann. Von der republikanischen Opposition angestachelt berichten US-Medien zunehmend über zu erwartende Beitragsexplosionen. Doppelt oder dreifach so viel könnten einige Versicherer künftig zahlen, schrieb unlängst das Wall Street Journal.

Die Regierung konterte mit der Aufforderung, dass alle – auch noch so geringen – Beitragserhöhungen den verantwortlichen Behörden zur Überprüfung gemeldet werden sollen. Dass bei einem System, das zumindest in Ansätzen einem Solidarsystem gleicht, einige Beitragszahlen mehr leisten müssen, bestreitet die Regierung nicht. Es sei nicht auszuschließen, dass Männer, junge und gesunde Versicherungsnehmer künftig mehr bezahlten, so US-Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius. Dies sei unter Umständen eben der Preis für das Ende der Diskriminierung gegen Frauen, gesundheitlich Vorbelastete und ältere Patienten mit einem höheren Gesundheitsrisiko.

Wird Medicare zum Bauernopfer?

Gegenwind droht US-Präsident Barack Obama aber nicht nur von Vertretern der Republikanischen Partei. Gesundheitsaktivisten und Sozialpolitiker sehen mit großer Sorge, dass das Versicherungsprogramm Medicare von der Regierung zur Verhandlungsmasse gemacht wurde, um das neue, umstrittene "Obamacare"-System durchzudrücken. Das Medicare-Proramm wurde vor 48 Jahren noch von US-Präsident Lyndon B. Johnson ins Leben gerufen, um Senioren Versicherungsschutz zu garantieren. Später wurde es auf Versicherungsnehmer mit Behinderung ausgeweitet. Heute profitieren von dem Medicare-Schutz gut 50 Millionen US-Amerikaner, meist Pensionäre. Im Zuge der Verhandlungen mit der Opposition verpflichtete sich die Regierung, 716 Milliarden US-Dollar bei Medicare einzusparen, weitere Privatisierungen des Programms sind nicht ausgeschlossen. Beobachter befürchten daher, dass der Schutz für Unversicherte mit einer massiven Verschlechterung für Senioren erkauft wird.

Gerald Friedman von der University of Massachusetts Amherst plädiert daher für einen Ausbau des Medicare-Systems zu einer Bürgerversicherung. Der Wirtschaftswissenschaftler geht davon aus, dass durch den radikalen Ausbau des bislang auf Senioren und behinderte Versicherungsnehmer beschränkten Programms auf die Gesamtbevölkerung im ersten Jahr bis zu einer halben Billion US-Dollar eingespart werden könnte. Dies sei ein weitaus effektiverer Weg, um alle US-Bürger zu versichern, als der Aufbau eines Parallelprogramms, argumentiert Friedman.

Der Experte in Fragen des Gesundheitssystems verweist vor allem auf die hohen administrativen Kosten beim der Schaffung mehrerer Parallelstrukturen. In fünf bis zehn Jahren werde sich herauskristallisieren, dass der Affordable Care Act die Kosten nicht unter Kontrolle habe und nicht alle zu versichern helfe, prognostiziert Friedman: Von den dann angehäuften Problemen werde auch das Medicare-System betroffen sein.

"Obamacare" unsicher, Medicare in Gefahr

Ein krasseres Urteil noch fällt Clark Newhall von der Lobbyorganisation Health Justice. Die Obama-Regierung habe Medicare zur Verhandlungsmasse "zu Lasten armer, unversicherter und älterer Leute sowie jener gemacht, die sich keine private Krankenversicherung leisten können", sagte Newhall gegenüber dem alternativen Nachrichtenportal Truthout. Der Aktivist spricht sich angesichts der mittelfristig zu erwartenden Folgen für eine breite Debatte und öffentlichen Druck auf die Regierung aus: "Wir steuern geradewegs auf einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu und viel wird davon abhängen, inwieweit es gelingt, eine breite soziale Bewegung aufzubauen, die den Versicherungsschutz für alle (US-)Amerikaner einfordert", so Newhall, der ebenso wie Friedman ein Gesetzentwurf des Mitglieds im Abgeordnetenhaus, John Conyers, verteidigt. Das von 45 weiteren Abgeordneten unterstützte Medicare-for-All-Gesetz würde die Rolle des Staates gegenüber privaten Versicherungsträgern massiv stärken.

Während der Erfolg von "Obamacare" noch unklar ist, gibt es schon konkrete Anzeichen für einen Niedergang des Medicare-Systems. Nach Angaben der US-Hausärztevereinigung AAFP ist die Zahl der Mitglieder, die Medicare-Patienten akzeptieren, zwischen 2010 und 2012 um zwei Prozent auf 81 Prozent gefallen. Nach der Regierungsbehörde CMS, die das Medicare und das kleinere Medicaid-Programm für sozial Benachteiligte kontrolliert, sind 2009 rund 3.700 Hausärzte aus dem Medicare-System ausgetreten. Im vergangenen Jahr waren es bereits 9.539 Hausärzte.

Einer der Gründe für den Exodus der "family physicians" ist die beabsichtigte Kürzung von 716 Milliarden US-Dollar bei dem Programm, das gerade seinen 48. Geburtstag feierte. Schon jetzt kursieren Gerüchte über Vergütungssenkungen von bis zu 30 Prozent für Medicare-Ärzte. Wird der Verfall des Programms nicht aufgehalten, könnten die Folgen verheerend sein. Gerade ältere Patienten können für einen Hausarztbesuch nicht weit fahren und müssten zur Not für die schnelle und nahe Behandlung tief in die eigene Tasche greifen.

Abgeordneter erinnert an historischen Kontext von Medicare

Die politische Auseinandersetzung zwischen Demokraten und Republikanern hat die rationale Ebene indes schon längst verlassen. Obwohl die Republikanische Partei das Medicare-Programm von Beginn an aufs Schärfste bekämpft hat und mit einem Boykott drohte, wirft das Republikanische Wahlkampfkomitee NRCC den regierenden Demokraten in einem seit Monaten laufenden "Anzeigenkrieg" nun ausgerechnet die 716-Milliarden-Dollar-Kürzung vor.

Die Oppositionspartei hofft dabei offenbar nicht nur auf die Amnesie der Wähler, sondern auch auf deren politisches Unvermögen. Denn in einem Gegenvorschlag für einen Gesundheitssystemreform zeigt sich das Republikanische Abgeordnetenhausmitglied Paul Ryan durchaus einverstanden mit den Einsparungen, spricht sich aber dagegen aus, "dass sie für neue Ansprüche verwendet werden", wie es auf Seite 40 seines Vorschlags heißt.

Besonnene Töne inmitten des politischen Getöses zwischen den Parteien kamen dieser Tage von John Conyers. Der Initiator der Medicare-for-All-Initiative ist seit eben 48 Jahren Mitglied im US-Abgeordnetenhaus. Unmittelbar nach Beginn seiner politischen Karriere als Parlamentarier bekam er die Unterzeichnung des Medicare-Gesetzes durch Präsident Johnson mit. "Vor der Schaffung von Medicare hatten nur die Hälfte der älteren Menschen eine Krankenversicherung", zudem seien die Rahmenbedingungen sehr viel schlechter gewesen als heute, schrieb der 1929 geborene Politiker.

Conyers erinnerte zugleich an den politischen Kontext der Initiative, die Teil des Civil Rights Act aus dem Vorjahr 1964 war, des Bürgerrechtsgesetzes also, das mit der Rassentrennung und politischen Benachteiligung von Afroamerikanern – zumindest formaljuristisch – Schluss machte. "Fast über Nacht hatte diese Regelung damit auch die Rassentrennung in Krankenhäusern abgeschafft", erinnert sich Conyers. An diesen Geist der "Great Society" von Johnson knüpfe sein Vorschlag für eine Bürgerversicherung an.