Obstpflücker, Näherinnen und Software-Ingenieure

Seite 2: Lohnarbeit als Gesamtsystem global differenzierter Arbeits- und Lebensverhältnisse

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Insofern wird man dem modernen System des globalisierten Kapitalismus nur gerecht, wenn man die Lebens-, Arbeits- und Verteilungsverhältnisse in ihrer weltweiten Gesamtheit betrachtet. Ansonsten übersieht man nämlich leicht, dass die besser bezahlten, bisweilen erträglichen bis annehmbaren Arbeitsverhältnisse der gehobenen Fachberufe in den Zentren des ökonomischen Geschehens nur einen speziellen Mosaikstein in einem Gesamtsystem tief gestaffelter Arbeits- und Lebensbedingungen darstellen, die übelste Lohnsklaverei ebenso beinhalten wie eine Bezahlung qualifizierter Arbeitskräfte, die deren Lebensunterhalt auf niedrigerer oder höherer Stufenleiter sichert:

  • Bestimmte von den "Arbeitgebern" gefragte, hochqualifizierte Fachberufe wie Ärzte, Ingenieure oder innovative Computerspezialisten werden, solange die Nachfrage danach stimmt, überall gut bezahlt - auch wenn die Unternehmen sich stets bemühen, gewohnheitsmäßige Differenzen im Lebensstandard zwischen verschiedenen Ländern so lange wie möglich auszunutzen und ein Maximum an Leistung aus diesen teuren "High-Performern" herauszupressen.
    Am anderen Ende des Spektrums homogenisiert sich währenddessen die globalisierte einfache, zumeist angelernte Durchschnittsarbeitskraft im Preis der Arbeitskraft tendenziell nach unten, da sich ihr Einsatz und damit auch die aggregierte Nachfrage nach ihr schwerpunktmäßig immer mehr in Länder verlagert hat, in denen ein gewaltiger Überschuss an Beschäftigungssuchenden vorliegt, mit denen die (ehemals) Beschäftigten aus den verlagerten Industrien der alten kapitalistischen Industriestaaten nun konkurrieren müssen. Das erleben die "Hiesigen" als Entwertung bzw. Verschlechterung ihrer Bezahlungs- und Arbeitsbedingungen in Gestalt prekärer Arbeitsverhältnisse, eines immer größeren Niedriglohnsektors, überdurchschnittlicher Arbeitslosenraten im unqualifizierten Bereich etc..
  • Und dies betrifft beileibe nicht nur die Niedrigqualifizierten, wie die Standortpolitik der Autokonzerne zeigt, die z.B. gerne Victor Orbans unschlagbares Angebot annehmen, die Arbeitszeit bei Bedarf um ein paar Hundert Stunden im Jahr zu verlängern und die damit anfallenden Zusatzlöhne erst ex post, zu bezahlen - so denn dem betriebswirtschaftlich nichts entgegensteht, versteht sich. Die Türkei wegen der autoritär-nationalistischen Politik Erdogans verlassen? VW ziert sich, denn die "Standortbedingungen" sind gerade unter autoritärer Herrschaft besonders attraktiv: Renitente Arbeiter, die Forderungen stellen, kommen in Erdogans Türkei nicht weit. Die gegen ihre immer wieder verzögerten Lohnauszahlungen und die lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen protestierenden Arbeiter auf der Großbaustelle des neu eröffneten Istanbuler Flughafens wurden von der türkischen Polizei bekämpft, ihre Rädelsführer verhaftet.
  • Die politischen Akteure der "marktkonformen Demokratie" von Schröder bis Merkel reagieren vom Standpunkt der erfolgreichen nationalen Behauptung in der Konkurrenz der Staaten auf diese ökonomischen Prozesse, indem sie staatlicherseits gezielt Druck auf die Löhne des unteren Arbeitsmarktsegments ausüben, um auch hier wettbewerbsfähig zu bleiben, was zugleich die alimentierte Arbeitslosigkeit der Unqualifizierten senken soll - Hartz IV gehört in diese Schublade.
  • Dennoch können die hiesigen Niedriglöhner sich trotzdem bezüglich des Preises ihrer Arbeitskraft nicht mit den (Über)lebensbedingungen der Arbeitskräfte z.B. in Südostasien oder Ägypten vergleichen, da ihre Lebenshaltungskosten in den entwickelten Industriestaaten schon allein durch den exorbitanten Preis für Wohnen nicht nur absolut, sondern auch relativ höher sind. Zudem enthalten sie nach dreißig Jahren Nachkriegsaufschwung inkl. sozialstaatlichem Reformkapitalismus auch ein historisch-kulturelles "Wohlstandselement", das zudem von den Akteuren der Arbeiterbewegung erkämpft werden musste und immer wieder von der Gegenseite in Frage gestellt wird. Deshalb übernimmt der Staat bisweilen einen Teil der Lohnkosten und fördert dadurch die Kapitalseite direkt, indem er durch sein "Aufpolstern" dem Gegensatz von Löhnen und Profitansprüchen eine gangbare Verlaufsform gibt - übrigens ein "Markteingriff", gegen den die (Neo)liberalen ausnahmsweise nichts einzuwenden haben, da mit ihm die Subventionierung ihrer Unternehmer-Lobby einhergeht...
  • Die Forcierung globaler Umverteilungsprozesse hinsichtlich des Einsatzes und der Bezahlung insbesondere von gering qualifizierter Arbeitskraft sind wohl mit ein Ausgangspunkt für das unbegriffene Bedrohungsgefühl, das für die "einfachen Leute" von der sogenannten Globalisierung ausgeht. Sie stellt im Kern eine globale tendenzielle (also immer wieder durch politische Interventionen bzw. geographische und kulturelle Bedingungen vorübergehend gebremste) Freisetzung kapitalistischer Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Arbeitsmärkte im Rahmen eines in stets wachsendem Maße schuldenbasierten Finanzkapitalismus dar. Dabei müssen Schulden die Einkommens- und Nachfrageverluste kompensieren, die dieses "rat race" nach unten anrichtet, um den "Wachstumsprozess" in Gang halten zu können.

Genauso sicher ist daher, dass man vom Arbeiten im Normalfall nicht reich wird und dass das Bemühen der Konzerne, durch weitestmögliche Auslagerung diverser Arbeitsfunktionen ihrer Wertschöpfungskette in Niedriglohnländer die Gesamtlohnstruktur rentabel zu gestalten. Daraus ergibt sich der systemische Gegensatz zwischen den Profitinteressen der immer größeren, mit dem Finanzkapital eng verflochtenen Firmengruppen, Agrarkapitale, Minen-, Industrie-, Handels-,Dienstleistungs- und IKT-Konzerne einerseits und den Bedürfnissen der Arbeitenden nach einem weltweit auskömmlichen Lebensunterhalt andererseits.

Und wem hier die sogenannte "Managerelite" als Gegenbeispiel einfällt: Diese bekommen ihre Funktionen für die Kapitaleigner zwar in der Form eines Gehalts bezahlt, sind aber dem Inhalt nach am Zuwachs des Kapitals, also an der erfolgreichen Organisation rentabler Produktions- und Beschäftigungsverhältnisse, beteiligt. Diesen Kapitalzuwachs, auch bekannt als "Profitmaximierung", haben sie nämlich effektiv zu bewerkstelligen, da sich darum alles dreht. Das sieht man sowohl der Höhe der "Gehälter" an wie den Bedingungen, unter denen sie aufgestockt und bezahlt werden: Prämien, die oft höher sind als die vereinbarten Jahresgehälter; riesige Auszahlungen aus der Profitmasse des Unternehmens, sogenannte "Abfindungen", auch bei "Managementversagen". Das hat der Sache nach mit Lohnarbeit nichts zu tun.

Diese Leute betrachten qua Beruf den Lebensunterhalt der Arbeitskräfte als "Kostenfaktor", den sie zu begrenzen bis zu verringern trachten. Ihre "Arbeit" bestreitet daher den Lohnabhängigen im ungünstigsten Fall die Existenz, im günstigsten Fall, also bei gutem Geschäftsgang und angespanntem Arbeitsmarkt, werden diesen eine motivierende Prämien und Zulagen gewährt, die schnell wieder zur Disposition stehen, sobald die Gewinne nicht mehr die Erwartungen der Eigentümer bzw. "Investoren" erfüllen - aktuell zu beobachten in der deutschen Autoindustrie.

Dass genau wegen dieses Interessengegensatzes auch eine Unzahl von Beschäftigungslosen den Planeten bevölkert, die über keinen regulären ökonomischen Lebensunterhalt (mehr) verfügen, da sie im Rahmen der durch die Konkurrenz diktierten Rentabilitätsberechnungen der diversen Unternehmen und Branchen als überflüssig gelten, bedarf in diesem Zusammenhang ebenfalls der Erwähnung.

Schlecht bezahlte Arbeit und überhaupt keine Arbeit sind zwei Seiten, notwendige Ergebnisse derselben Kalkulation: Arbeit wird nur bezahlt, soweit sie rentabel ist und dann auch nur in dem Umfang und Maße, in dem sie rentabel bleibt. An der Rentabilität dieser Arbeit muss daher ständig gefeilt werden: Betriebliche Maßnahmen zur Senkung der Lohnstückkosten mittels Steigerung der Produktivität und/oder Intensität der Arbeit arbeiten stets an deren relativer Verbilligung im Verhältnis zum erstellten Output und versuchen, das Ausmaß an notwendiger bezahlter Arbeit bezogen auf das eingesetzte Gesamtkapital zu verringern.

Dass es bei der "Gestaltung" der Lohn- und Leistungsbedingungen immer auch gewisse Spielräume gibt, beweist der Kampf der Gewerkschaften, die das Interesse der Unternehmen an möglichst niedriger Bezahlung durch organisierte Gegenmacht zu konterkarieren versuchen; je nach Macht der Kapitalseite, die immer auch den Staat als Wahrer eines systemverträglichen Maßes an Lohnforderungen im Rücken hat, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Staaten, die ihr Geschäftsmodell im unschlagbar billigen Angebot ihrer Arbeitskräfte sehen, verbieten deren Gegenwehr daher lieber gleich ganz.

Die globale Konkurrenz der Unternehmen untereinander mit ihrem Verbilligungszwang sorgt schließlich dafür, dass auch den Interessenvertretungen der "besser verdienenden" Beschäftigten in den ökonomischen Zentren des Weltkapitalismus die Arbeit nicht ausgeht. Die Arbeitgeberverbände werden nicht müde, zu betonen, dass die erreichte Höhe der Löhne und Gehälter sowie die durchgesetzten zeitlichen und organisatorischen Beschränkungen der Beanspruchung der Arbeitskraft keine "Besitzstände" seien, auf denen sich die geschätzten "Mitarbeiter" ausruhen könnten - "Flexibilität" ist angesagt, immer und überall. Ständig schwebt die Modernisierung der Produktionstechnologien nicht als Angebot zukünftiger Erleichterungen der Arbeit, sondern als Drohung mit dem Überflüssigmachen der Arbeiter über deren Köpfen.

Dabei scheint fast niemand mehr die abstrakte Gleichförmigkeit, den gemeinsamen politökonomischen Charakter dieser Arbeitsverhältnisse wahrnehmen zu wollen; das berühmte "Proletariat" gilt als ein Phänomen des 19. und bestenfalls frühen 20. Jahrhunderts und existiert angeblich heute nicht mehr. Wahr daran ist, dass die Homogenität industrieller Massenarbeitsverhältnisse längst passé ist und die Lohnabhängigen sich selbst nicht mehr als gesellschaftliche Klasse mit eigenen Interessen wahrnehmen, die allen gemeinsam sind. Auch das Muster der Arbeitsbedingungen, Berufe, Tätigkeiten ist ungleich buntscheckiger als in den Phasen von der Industrialisierung bis zum fordistischen, von massenhafter Fließbandfertigung geprägtem Produktionsmodell. Aber existieren deshalb schon keine Lohnarbeit, keine spezifischen ökonomischen Charakteristika mehr, die allen denen eigen sind, die unter kapitalistischen Bedingungen als abhängig Beschäftigte arbeiten?