Obstpflücker, Näherinnen und Software-Ingenieure

Seite 4: Perspektiven für die Überwindung der Lohnarbeit: Was ist utopischer - ein Systemwechsel oder der Glaube, so weiter machen zu können wie bisher?

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Aber was folgt daraus? Soll man sich ausruhen auf der Differenz zu den Elendsgestalten des globalisierten Arbeitsmarktes und nur froh sein, dass es einen nicht dorthin verschlagen hat? Damit übersieht man, dass, sollte diese knappe Analyse im Kern stimmen, man schon mal eine nicht unwesentliche Gemeinsamkeit mit den Leuten aus den "Flucht"- und Armutsstaaten hat: Man hat fast nichts zu melden bezüglich der Art und Weise, wie, in welchem Umfang und zu welchen Bedingungen im Lande produziert wird, wofür das Zeug verwendet wird und welche Zukunftsprojekte und Ziele verfolgt werden. Auch wenn man Merkel oder wen auch immer wählen darf.

Damit ist man der gleichen Existenzunsicherheit unterworfen, selbst wenn man gegenwärtig gut verdienen sollte. Und auch dies entzieht sich dem eigenen Zugriff, damit der persönlichen Zukunftsplanung: So war kürzlich zu lesen, dass viele im Laufe ihres Lebens in wachsendem Maße mit Einkommenseinbußen konfrontiert werden - z.B. bei Betriebs- oder Berufswechsel im späteren Lebensabschnitt. Auf dieser Basis ist es gar nicht vernünftig, auf die potenziellen Konkurrenten einzuprügeln, sondern sich die Maßstäbe klarzumachen, unter denen heutzutage gewirtschaftet wird, und ihnen politisch die Gegnerschaft anzutragen.

Der Erfolg der Rechten beruht ja auch darauf, dass man die Konkurrenten - so sie denn überhaupt welche sind! - und nicht das System der Konkurrenz angreift, das die diversen Kategorien von Lohnabhängigen, die die Kapitalseite geschaffen haben, gegeneinander ausspielt und, wie beispielsweise aktuell in Italien, den verzweifelten Migranten selbst, die bestenfalls als "Irregolari" ausgebeutet werden, ihr trostloses Schicksal anlastet. Der Fehler wird nicht im herrschenden ökonomisch-politischen System, sondern in dessen ärmsten Opfern gesucht, die durch ihre Hautfarbe auch gut zu brandmarken sind - mit dem Nebeneffekt, der jeden Rassisten seit jeher begeistert: Man kann sich unabhängig von jedem begründeten Gedanken und jeder eigenen Leistung den diskriminierten Fremden schon qua Natur überlegen fühlen - für alle Dummköpfe des Planeten ein ungemein reizvoller Standpunkt, der von allem wegführt, um was es ökonomisch und politisch wirklich geht.

Vielleicht kommt bei einer rationellen Kritik der gegebenen Wirtschafts- und Lebensweise dann ja die Möglichkeit ganz anders gearteter Arbeitsverhältnisse für alle in Sichtweite. In einer Welt, in der immer weniger menschliche Arbeit nötig ist, um die notwendigen Gebrauchsgegenstände und Dienstleistungen zu produzieren, müsste doch eine neue und für alle erträgliche bis ersprießliche Organisation der Arbeit möglich sein, sollte man meinen. Die Verwissenschaftlichung und Immaterialisierung der Produktion führen die Geldvermehrung durch Steigerung der abstrakten Leistungseffizienz des Arbeitseinsatzes als Motor und Zweck des Wirtschaftens ad absurdum.4 Ein Zweck, der noch dazu nicht nur die diskutierten problematischen Arbeitsverhältnisse der kapitalistischen Globalwirtschaft hervorbringt, sondern auch rücksichtslos die natürlichen Lebensgrundlagen ge- und verbraucht, wie wenn es kein Morgen gäbe. Mit den ruinösen Auswirkungen der alle ökonomischen Aktivitäten beherrschenden Profitmaximierung auf Umwelt und Klima hat sich die Menschheit gerade in wachsendem Maße herumzuschlagen - mit ungewissem Ausgang.

Allerdings setzen solche neuartigen Arbeitsverhältnisse eine komplett andere politische und ökonomische Ordnung voraus, die man erst einmal hinkriegen muss. Ein Widerspruch, der nur durch gemeinsame politische Arbeit von vielen Betroffenen aufgelöst werden kann - falls überhaupt, d.h. mit ungewissem, riskantem Ergebnis wie bei jedem anspruchsvollen Zukunftsprojekt.

Wie auch immer diese Welt aussehen könnte - darüber gibt es die letzten Jahre eine inhaltlich breit gestreute Debatte, die von Masons "Postkapitalismus"-Ideen über Felbers "Gemeinwohlökonomie" und Cockshott/Cotrells "Sozialismus aus dem Rechner" bis zur Neuauflage rätekommunistischer Ansätze reicht, eines hätte sie sicher hinter sich zu lassen: Ökonomische Prinzipien, in deren Rahmen die Einkommen der Arbeitenden zu senkende Kosten darstellen, um einen Überschuss an abstraktem Reichtum, Geld zu erzielen, obwohl gerade diese Arbeitenden mit ihrem Arbeitseinkommen diese Überschüsse erst realisieren, indem sie einkaufen.

Ein wachsender Widerspruch, der inzwischen sogar manche Arbeitgeberverbände mit dem "bedingungslosen Grundeinkommen" liebäugeln lässt, was nicht verwundert: Die Eigentumsverhältnisse und der wirtschaftliche Zweck, die Gewinnerzielung, blieben intakt, aber die Gesellschaft zahlt die Einkommen, die die Kapitaleigner im Rahmen ihrer Rationalisierungsprozesse nicht mehr zahlen können und wollen, die sie aber brauchen, damit ihre Gewinne durch den Verkauf der Waren auch realisiert werden.

Der Haken ist dann natürlich, woher das Geld dafür kommen soll - die Arbeitnehmer verdienen es als Arbeitslose eben nicht mehr, der Staat nimmt weniger Lohn- und Einkommensteuern ein. Die Finanzmärkte? Wer dies für realistisch hält, übersieht, dass die Finanzmärkte letztlich immer auf die Erträge der "Realwirtschaft" bezogen bleiben, die von ihnen nur spekulativ in die Zukunft phantasiert werden. Da ist der Crash nie weit. Bezahlen mit Kreditgeld, das sich stets als fiktives Kapital herausstellen kann, ist insofern keine nachhaltige Idee.

Die interessantere Lösung - anspruchsvoller, weil utopischer, aber dennoch rationeller, da der Sache nach nicht per se unrealistisch -, den Kapitalismus abzulösen, nachdem er wohl die produktiven Kräfte so weit getrieben hat, dass er sich selbst ad absurdum führt, steht leider nur selten auf der Agenda der Debatte.

Wie bemerkte der Philosoph Alain Badiou vor einiger Zeit? Die Leute können sich absurderweise eher den Untergang der Welt vorstellen als das Verschwinden des Kapitalismus. Die umfassende Propaganda für das "beste System aller Zeiten" hat insofern ganze Arbeit geleistet.

Aber: Auch die Sklaverei war irgendwann als herrschendes Produktionsverhältnis der Gesellschaft verschwunden. Andersherum: Eine grundsätzlich andere Art zu produzieren, zu arbeiten, Ökonomie zu betreiben mag utopisch sein; aber noch utopischer ist es, darauf zu setzen, dass es einfach immer so weiter gehen kann.