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Seite 3: Freiheit auf dem Markt und Weisungsgebundenheit bei der Arbeit selbst als Charakteristika moderner Lohnarbeit

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Aber wie immer wir diese so globalen wie vielgestaltigen "Beschäftigungsverhältnisse" bezeichnen: Es handelt sich um ein integriertes und zugleich in sich gestaffeltes System weltweiter Lohnarbeit, dessen Bandbreite entgegen aller "Marktmärchen" der neoliberalen Ökonomen ein genuiner Bestandteil des global entwickelten kapitalistischen Arbeitsmarkts ist, der als solcher der abhängig beschäftigten Arbeit ein paar Eigentümlichkeiten einbrennt.

Zwar verträgt das marktvermittelte System, das der moderne Kapitalismus darstellt, keine Sklaverei, da er als Ökonomie der Kapitalvermehrung unter Konkurrenzbedingungen auf die Fähigkeit der "Investoren" angewiesen ist, die Produktionssphären nach Maßgabe der Rentabilität zu wechseln, was freie Arbeitskräfte unterstellt, die man kündigen kann und die auch selbst den "Arbeitgeber" wechseln können. Darin steckt, wie schon Marx erläuterte, tatsächlich ein neues Moment der Freiheit gegenüber den historischen Zwangsarbeitsverhältnissen.

Darauf beruhen auch alle politischen Freiheitsideen vom modernen Staatsbürger, ja der ganze bürgerliche Freiheitsbegriff: Frei ist der moderne Mensch zuallererst als Marktteilnehmer, der seine besonderen sozialen Zugehörigkeiten abgestreift hat, wenn er den Markt betritt. Er ist unabhängig von den Besonderheiten der von ihm angebotenen Ware zuvörderst Warenbesitzer und als solcher gleich allen anderen Marktteilnehmern frei, also in einem ziemlich abstrakten Sinne - eine Freiheit, die zumeist am Fabriktor endet, heutzutage bisweilen aber auch beim angestrebten Abschluss eines Mietvertrags, in vielen Fällen wegen der bescheidenen Verhandlungsmacht einer überzähligen Arbeiterschaft wie in den sogenannten "Entwicklungsländern" schon lange davor.

Die modernen Staaten schützen diese Freiheit je nach ökonomischem Entwicklungsstand und politischem Herrschaftsmodell mal mehr, mal weniger, eingebettet in ein System von Grundrechten, das diese Freiheit als grundlegenden Anspruch abstrakt, quasi als eine Art Naturrecht des Menschen kodifiziert. Die näheren Umstände regeln dann die jeweiligen staatlichen Gesetze und die vorherrschenden ökonomischen Lebensbedingungen, aus denen die Formen der praktischen Ausgestaltung dieser Freiheit resultieren.

Der formellen Freiheit steht die inhaltliche Seite gegenüber: Markfreiheit hin oder her - aus der alleinigen Verfügungsgewalt der Produktionsmitteleigentümer, ob als Kapitalgesellschaft oder persönliches Unternehmen organisiert, resultiert der ökonomische Sachverhalt, dass die materiellen Bedingungen für die Betätigung der formellen Freiheit als Person, als selbstständiger Vermieter seiner Arbeitskraft auf dem Markt, ganz und gar in der Hand der Kapitaleigentümer liegen, wenn der geschätzte "Arbeitnehmer" erst einmal das Fabriktor durchschritten hat. Ihnen wird das gesamte Produktionsergebnis, das Werk von vielen Händen und Kräften, damit der Wertzuwachs als exklusives Eigentum zugerechnet und ihnen obliegt es, über die Verwendung dieses Überschusses nach Abzug der Kosten, zu denen auch der freie Arbeitskraftbesitzer zählt, zu entscheiden.

Die Kapitaleigentümer bzw. ihre obersten betrieblichen Funktionäre bestimmen über Art und Umfang der Investitionen, die aufzunehmenden Kredite, die Standorte, ja die Unternehmensstrategie und Produktpalette überhaupt. Ziel ist es dabei, den Prozess der Kapitalvermehrung möglichst effektiv fortzusetzen, um in der Konkurrenz, die bekanntlich nie schläft und das gleiche beabsichtigt, erfolgreich zu bestehen. Diesem Zweck werden alle sachlichen und sozialen Aspekte des Produktionsprozesses bei Strafe des Untergangs als marktfähiges Unternehmen untergeordnet.

Die private Verfügungsmacht über die Produktionsbedingungen setzt ein asymmetrisches Machtverhältnis und einen ökonomischen Interessengegensatz in die Welt

Das Eigentum an den sachlichen Produktionsbedingungen und das damit etablierte Prinzip der Konkurrenz um Profitmaximierung als zentrale Bedingung des eigenen Erfolgs setzt dem Einfluss und der Entscheidungsfreiheit der bezahlten Dienstkräfte klare Grenzen, soweit nicht Interessenvertretungen der abhängig Beschäftigten die zusätzliche Berücksichtigung insbesondere ihrer sozialen Belange, die für die Kapitaleigner, die am Überschuss interessiert sind, nur zusätzliche Kosten verursachen, in einem historisch variablen, von politischen, technischen, ökonomischen und auch kulturellen Rahmenbedingungen beeinflussten Maße erzwingen.

Lohnarbeit als Beschäftigungsverhältnis stellt, betrachtet man die Arbeit selbst, stets ein asymmetrisches Machtverhältnis dar, was natürlich auch für die verstaatlichte Lohnarbeit gilt, wie sie die etatistischen "Hybridsysteme" des Ostens als behauptete Alternative zum Konkurrenzkapitalismus etabliert hatten. Da entfällt zwar die Konkurrenz der Kapitaleigner um die Märkte und Arbeitskräfte und damit der Druck, der von der Arbeitslosigkeit ausgeht; aber die Beschäftigten entscheiden ebensowenig über die Bedingungen der Produktion, deren Ziele und strategische Umsetzung; auch ihr Anteil daran wird von Politbürokraten nach Maßgabe ihrer zentralen Vorgaben bestimmt. Die den Betrieben staatlich verordneten Erfolgsziffern, an einer Art Simulation eines kapitalistischen Betriebsgewinns orientiert, geraten da ebenfalls schnell mit den Lebensansprüchen der Lohnabhängigen in Konflikt, die vom gezahlten Lohn bestritten werden müssen, der sich auch hier als Abzug vom Betriebsergebnis darstellt.

Der besondere politökonomische Charakter der Lohnarbeit, ihre historische Gesellschaftlichkeit, gibt DEN "blinden Fleck" des modernen Systems ab - etwa vergleichbar mit der Sklaverei in der Antike, die damals als das allerselbstverständlichste Fact des sozialen und ökonomischen Lebens angesehen wurde. Gestritten wurde höchstens über die angemessene Behandlung der Sklaven und die Anlässe und Bedingungen ihrer vereinzelten Freilassung. Lohnarbeit gilt als das Naturgesetz der vornehm zur "Globalisierung" vernebelten Ökonomie. Alle wollen einen "Arbeitsplatz", aber niemand scheint mehr die gesellschaftliche Organisation von Produktion und Verteilung gemeinsam in die Zuständigkeit, daher Verantwortung und Hände aller geben zu wollen. Denn wie sollte das auch gehen?!

Der Logik der abstrakten, privaten Reichtumsvermehrung entspricht, dass die beschäftigenden Kapitaleigentümer, zumal die transnational aktiven unter ihnen, zum einen versuchen, die berüchtigten "Lohnkosten" in enge Grenzen zu bannen, da sie in Gegensatz zu ihrem Geschäftszweck stehen; zum anderen nehmen sie auf die vorfindlichen Rechts- und Abhängigkeitsverhältnisse, auf kulturelle Abgrenzungen und politische "Sortierungen" der Menschen Bezug und richten weltweit das beschriebene System gestaffelter Abhängigkeitsverhältnisse ein, das sich nur irgendwie insgesamt lohnen muss.

Böse gesagt: Man kann sich die (teilweise) bessere Bezahlung in den Weltzentren des ökonomischen Geschehens letztlich gerade deswegen leisten, weil man den anderen nicht einmal ein Einkommen ermöglicht, das den Lebensunterhalt sicherstellt - letzteres hat Marx umständlich, aber theoretisch konsequent als "Wert der Arbeitskraft" charakterisiert. Insofern hat der Bolschewik Leo Trotzki mit seiner These von der "Arbeiteraristokratie" in den führenden kapitalistischen Industriestaaten schon ein wenig Recht, auch wenn hier niemand an "Bestechung" denkt.